Spinettriesig: erst Grigory Sokolov, dann Lugansky, Gerzenberg, Grosvenor beim Klavierfestival

Der sanftspinettige Virtuose und seine Jünger

Sanfter Spinettismus statt Virtuosengepranke, das sich in der heurigen Auflage des alljährlichen Grigory-Sokolov-Besuchs in Berlin nur einmal nebenher ereignet, aber nein, auch da ohne Gepranke, nur virtuos oder eben meisterlich: bei einer konzentriert hinbrillierten Rachmaninow-Zugabe, dem Prelude op. 23/2 als einem jener stets sechs Encores des dritten Konzertdrittels, in dem das Sokolov-Ritual erst seine Erfüllung findet. Die anderen sind zweimal Rameau (Les sauvages und Le Tambourin), zweimal Chopin (Prélude 28/15 und Mazurka 63/3) sowie einmal Bach (BWV 855a) im vollfülligen, dennoch faszinierenden Siloti-Ornat.

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Unabgenudelt: Klavierabende mit Pogorelich, Kanneh-Mason, Pletnev

Konzertgänger beim pianistischen Nudelverzehr

Drei völlig unterschiedliche Klavierabende in den vergangenen drei Monaten: zwei ältere Herren, eine junge Frau. Im Februar spielte Ivo Pogorelich (den gibt es noch?) im Großen Saal der Philharmonie. Gestern Abend Mikhail Pletnev (was, den gibt es auch noch?) ebenda. Und dazwischen im März im Kammermusiksaal Isata Kanneh-Mason (kennen Sie die schon?).

Obwohl ich Pogorelich und Pletnev eben in einem schnöden Atemzug unter „zwei ältere Herren“ (beide sind Mitte 60) subsummierte, lässt sich nichts Gegensätzlicheres vorstellen als ihre beiden Auftritte. Und das, obwohl ihre Programme sich in drei gewichtigen Werken überschnitten, und zwar alle von Frédéric Chopin: Fantaisie f-Moll Opus 49, Barcarolle Fis-Dur Opus 61, Polonaise-Fantaisie As-Dur Opus 61. Spätwerke mithin. Aber hörte man sie bei dem einen, waren sie bei dem anderen nicht wiederzuerkennen, und umgekehrt.

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Entnachtend

Klavierfreuden in Mendelssohn-Remise und Pianosalon Christophori, John Eliot Gardiner bei den Philharmonikern

Die kleinen Musikorte erholen sich – wie die freien Musiker – mühsamer von der langen Nacht der (wohl noch nicht beendeten) Pandemie, als es große Institutionen und begehrte Stars tun. Eine kleine Klavierrunde führte mich in der vergangenen Woche nordwärts in den Wedding, wo im Pianosalon Christophori an zwei Abenden die jungen Musiker Andrei Gologan und Florian Heinisch spielten, und tags zuvor in die feine Mendelssohn-Remise, unweit vom Gendarmenmarkt. Dort eröffnete gleichzeitig die große Elisabeth Leonskaja eine Schostakowitsch-Hommage, den lang geplanten und nun von kriegerischen Zeitläuften an den Rand des Heiklen geführten Programmschwerpunkt des Konzerthauses. Auf der breiten Freitreppe stimmt dort eine Menschenmenge gutgemeint, aber schwer erträglich ein von beschwingtem Moderator animiertes Lied für den Frieden an.

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Miese beflügelnd!

Ton Koopman beim Konzerthausorchester

So miese kann’s einem gar nicht gehen, dass einem durch Carl Philipp Emanuel Bach nicht neuer Esprit injiziert würde. Und durch die beflügelnd vitale Erscheinung von Ton Koopman, dem schon 77jährigen niederländischen Cembal- und Organisten und auch Dirigenten, der beim Konzerthausorchester unter anderem zwei CPE-Sinfonien aus der späten Hamburger Zeit im Programm hat. Die bekanntere ist die in D-Dur (Wq 183/1), eine der originellsten, überraschungsbombigsten überhaupt. Und auch wenn man sich in den Abschnittsbeginnen des ersten Satzes die Kontraste noch unverschämter geschärft vorstellen könnte, flutschen doch die Streicher famos und die Holzfarben leuchten mit schöner Kontur.

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Spiegelisch: André Campras IDOMENÉE an der Staatsoper Unter den Linden

Mozart kannte den älteren Neptun-Schocker von André Campra vermutlich nicht (nur sein Librettist Varesco verwurstete das französische Textbuch), also muss man auch nicht den Idomeneo kennen, um Campras Idomenée zu sehen. Der brutale Schluss zu eleganten Klängen dieser Barockoper, die jetzt Premiere an der Staatsoper Unter den Linden hatte (vermutlich die deutsche Uraufführung überhaupt), knallt hart, auch wenn man nicht weiß, dass er das Gegenteil des Mozartschlusses ist.

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Saunabrummjodelnd: Premiere „Die Zaubermelodika“ an der Komischen Oper

An einer Fortsetzung der Zauberflöte haben sich schon einige versucht: Schikaneder persönlich schrieb Das Labyrinth, was der damals sehr erfolgreiche Peter von Winter vertonte. Das Fragment eines gewissen talentierten Goethe kann man bei Gutenberg nachlesen. Ein gewisser Rintel, ein gewisser Schultze und ein gewisser Goepfart (Liszt-Schüler und wohl der gewichtigste der drei) komponierten ebenfalls Sequels; und auch der Mozartmaniac Grillparzer schrieb mal was Satirisches, allerdings nicht zur Vertonung gedacht, unter anderem muss darin Sarastro sich das Rauchen abgewöhnen. Nun also an der Komischen Oper: Die Zaubermelodika von Iiro Rantala und Minna Lindgren. Kinderoper empfohlen ab sechs, ich war mit einem Fünfjährigen da, für den’s ein Sprung ins eiskalte Wasser war, zumal er von irgendeinem Mozart noch nie gehört hatte. Aber er war’s vollauf zufrieden. Trotz …

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Wellentauchend: Tetzlaffs & Co im Konzerthaus

Brahms der Vorbildliche (so Alfred Schönburg in einem vergessnen Aufsatz anno 1399) ist gerade der Richtige für dieses Programm: 20 Jahre lang, in denen ihm ein riesiger Bart wuchs, bosselte Meister Johannes an seinem 3. Klavierquartett, das in c-Moll steht wie die ebenfalls Mitte der 1870er fertiggestellte erste Sinfonie. Beide sind Ziel eines langen, langen Wegs und zugleich Beginn eines neuen, ins Offene. Und wir? Die Veranstaltung im Konzerthaus am Gendarmenmarkt gehört zum Berliner Pilotprojekt Perspektive Kultur, das standesgemäß mit den Philharmonikern begann und im Weiteren auch schon wieder unter die Räder kommt: Die Ostersonntagsvorstellung an der Deutschen Oper wird ausfallen. Das Wort Perspektive löst derzeit bei vielen Menschen kaum mehr als Skepsis und Trübsinn aus, und die Frage ist, ob wir auf der dritten oder Dauerwelle der Pandemie irgendwann reiten können oder nur noch untendurch zu tauchen versuchen.

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Untapeziert: RSB, Jurowski, Richard Goode spielen Mozart und Bruckners Fünfte

Sehnsucht nach dem Frühling …

76 ist ja kein Alter für einen Pianisten, und immerhin ist der Amerikaner Richard Goode jünger als die beiden Herren Joe B. und Bernie S., von denen einer im November 2020 zum 46. Präsidenten der USA gewählt werden wird. In den USA ist Goode eine ziemlich große Nummer, hierzulande fast unbekannt, was wohl für die Ignoranz des deutschen Musikbetriebs spricht. Richard Goode jetzt eine halbe Stunde lang im Konzerthaus Mozart spielen zu hören, ist erfüllte Lebenszeit – zumal im Zusammenwirken mit Vladimir Jurowski und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB).

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Sanfttröstend: Sampson und Bezuidenhout im Boulezsaal

Ariadne auf Naxos, sich nach einem Clavier sehnend I

Gelobt sei die Kunst des sinnigen Sichversprechens und Sichversingens! Nur ein die und ein der vertauscht, und schon ersetzt der Großvater die Oper: Flieht, was der Opa singet und folgt der Phantasie. Wie schön ist das denn! Wahrlich von tieferem Sinn aber, wenn die wunderbare Sopranistin Carolyn Sampson nicht singt Doch nein, laß mir mein Leid und meine Zärtlichkeit, sondern: mein Leid und seine Zärtlichkeit. Die Zärtlichkeit des Leids. So geschehen in einer Ode an das Clavier von Friedrich Gottlob Fleischer, einer von vielen wertvollen Raritäten, die man an dem schönen, klugen Liederabend von Sampson und dem sorgsamen Pianisten Kristian Bezuidenhout im Pierre-Boulez-Saal kennenlernen darf.

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Frugalfeurig: Constantinos Carydis bei den Berliner Philharmonikern

Schnackeliges Berliner Philharmoniker-Debüt von Constantinos Carydis. Nur hoffentlich kein Treppenwitz deutscher Austeritätspolitik, dasss ausgerechnet ein griechischer Dirigent in Berlin zum Sparen gezwungen wird: kein Solist, zwei reine Streicherstücke und zwei Mozartsinfonien mit überschaubarem Gebläse. Aber vielleicht ist es wirklich sein ureigenster Wunsch so. Auch gar nicht so wichtig. Denn wenn Carydis dirigiert, dann brennt das Sparschwein.

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Geschehend: Bernard Haitink und Paul Lewis bei den Berliner Philharmonikern

Sag niemals nie, aber fühlt sich ziemlich nach Farewell an in diesem bewegenden Konzert von Bernard Haitink bei den Berliner Philharmonikern. In der Saisonvorschau 2019/20 fehlt sein Name, der sonst immer dastand. Gebrechlich wirkt der nun ja nicht mehr ganz jugendliche 90jährige am Freitag nach der zweiten von drei Aufführungen, schwer erschöpft, wie er sich am Ende auf seinen Gehstock stützt, sogar für den tosenden Applaus der grausamen Verehrer noch einmal extra herauskommt. Andererseits, wie kaputt wäre erstmal ein 19jähriger heutzutage, nach einem Brucknerdirigat! Ein Sabbatical wolle Haitink einschieben nach mehreren Stürzen, hört man, that’s the spirit, und inshallah, sag niemals nie.

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KURZ UND KRYPTISCH (1): Roger Norrington beim DSO

KURZ UND KRITISCH hieß einst eine Rubrik im Tagesspiegel, die es leider nicht mehr gibt. Da aber k & k immer fein ist, wird der Konzertgänger, wenn er wenig Zeit hat, in Zukunft immer mal KURZ UND KRYPTISCH rezensieren. Heute: Sir Roger Norrington dirigiert beim Deutschen Symphonie-Orchester Mozart und Martinů

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Stuffkommodierend: Wiener Philharmoniker mit Riccardo Muti spielen Mozart & Bruckner

Wiener um 1890, oder: Ist Weibsvolk anwesend?

Berlin ist so piekattraktiv geworden, sogar die Wiener Philharmoniker verbringen eine Adventswoche hier; dabei sind die doch eigentlich Besseres gewöhnt, so stadtmäßig. Das Konzerthaus Berlin packt die kakanische Gelegenheit beim Schopf und macht aus ihr ein Festival: mit den üblichen Klischees (Habe d’Ehre, schöne blaue Donau usw.), einem abwechslungsreichen Programm sowie einer fast 150seitigen Festschrift, die über das bei solchen Anlässen oft übliche Alibi-Maß hinausgeht. Sie dreht sich nicht nur um Geschichte und Gegenwart des selbstverwalteten Orchesters (wobei man etwa erfährt, dass einer der drei Mit-Initiatoren, Alfred Julius Becher, 1848 als Revolutionär hingerichtet wurde), sondern auch ums „Orchester der Zukunft“ mit Perspektiven vom Mahler Chamber Orchestra über das Ensemble Resonanz bis zum Andromeda Mega Express Orchestra. Wenn die alle beim Festival aufträten, wär natürlich noch knörker. Im Zentrum aber selbstverständlich zwei Konzerte der Wiener: das erste mit Mozart und Bruckner, klassische Blomstedt-Kombi, es dirigiert jedoch der Wiener Lieblingsdirigent Riccardo Muti. Weiterlesen

Mestorein: Belcea Quartett spielt Mozart, Bartók, Mendelssohn

Nach ein paar Tagen alter Musik auch wieder Freude über die vollkommene Intonationsreinheit eines Streichquartetts. Die ist bei einem guten Ensemble natürlich nicht Ziel, sondern bloß Bedingung erfüllten Musizierens – erst recht bei einer Hausnummer wie dem Belcea Quartett, dem Ensemble in Residence des Pierre-Boulez-Saals. Der Ton ist rein, aber der Sinn ist trüb, ja mesto in diesem novemberabschiedlichen Programm mit Mozart, Bartók, Mendelssohn.

Die vier Musiker (man ist versucht zu schreiben: Corina Belcea und drei Männer) sitzen je rechtwinklig einander zugewandt in der Mitte des Saals, ein Streichquadrat. Wie neulich das JACK-Quartett im Kammermusiksaal spielen sie alle vom Tablet, während die Partitur-Mitleser im Auditorium noch am Gedruckten kleben, den Bleistift zwischen Zeige- und Mittelfinger. Weiterlesen

Dreihirnherzig: Andreas Staier spielt Mozart, Haydn, Beethoven

Beethoven empfängt Mozart’s Hirn aus Hayden’s Händen. Rechts Gräfin Waldstein

Beethoven-Sonaten kann man sein ganzes Leben lang immer neu kennenlernen, aber zwei Kennenlernen sind einschneidend: das allererste natürlich, meist auf einem handelsüblichen Steinway. Und dann das erste Mal auf einem historischen Klavier. Da hört man plötzlich ein ganz neues Werk.

Der Pianist Andreas Staier spielt bei seinem Rezital im Pierre-Boulez-Saal Ludovico van Beethovens Sonate d-Moll op 31, 2 von 1802 auf dem Nachbau eines Alois-Graff-Flügels von etwa 1830 aus Wien. Das ist die Sonate, die nach einem vom Ober-Apokryph Schindler kolportierten kryptischen Hinweis auf Shakespeare geradezu apokryptisch Der Sturm genannt wird. Weiterlesen