Unabgenudelt: Klavierabende mit Pogorelich, Kanneh-Mason, Pletnev

Konzertgänger beim pianistischen Nudelverzehr

Drei völlig unterschiedliche Klavierabende in den vergangenen drei Monaten: zwei ältere Herren, eine junge Frau. Im Februar spielte Ivo Pogorelich (den gibt es noch?) im Großen Saal der Philharmonie. Gestern Abend Mikhail Pletnev (was, den gibt es auch noch?) ebenda. Und dazwischen im März im Kammermusiksaal Isata Kanneh-Mason (kennen Sie die schon?).

Obwohl ich Pogorelich und Pletnev eben in einem schnöden Atemzug unter „zwei ältere Herren“ (beide sind Mitte 60) subsummierte, lässt sich nichts Gegensätzlicheres vorstellen als ihre beiden Auftritte. Und das, obwohl ihre Programme sich in drei gewichtigen Werken überschnitten, und zwar alle von Frédéric Chopin: Fantaisie f-Moll Opus 49, Barcarolle Fis-Dur Opus 61, Polonaise-Fantaisie As-Dur Opus 61. Spätwerke mithin. Aber hörte man sie bei dem einen, waren sie bei dem anderen nicht wiederzuerkennen, und umgekehrt.

Ivo Pogorelichs Auftritt löst bei einigen Hörern Verstörung aus, ja sogar (man muss es so krass sagen) blankes Entsetzen. So zerfleddert, wie die Noten sind, aus denen er spielt, so zerfleddert er die Stücke. Übrigens ausschließlich späten Chopin (hier Pogorelichs Programm vom 8. Februar). Und „aus den Noten spielen“ ist hier fast grotesk wörtlich zu verstehen: Seine Augen kleben an den Blättern, am stärksten an den rein technisch einfachsten Stellen, selbst da, wo nur eine Hand allein eine langsame Linie spielt. Ungläubig starrt er da aufs Papier, als könne er nicht glauben, was da steht. Und als sähe er das alles, alles zum allerersten Mal.

Und all das zeigt natürlich, dass hier keineswegs im oberflächlichen Sinn pianistische Überforderung herrschen würde. Im Gegenteil, Pogorelichs stupende Fingerfertigkeiten sind an anderer Stelle zu hören. Er kann, gewaltig. Aber er will eben nicht. Was hier zu erleben ist, gleicht einer geradezu manischen Vergegenwärtigung, einer eher selbstquälerischen als magischen Fremdmachung dieser Musik. Die Stücke sind auch für den, der sie ein bisschen kennt, kaum zu identifizieren, sie zerfallen in ihre Bestandteile. Natürlich ist das mehr als problematisch, man könnte schon fragen, ob es überhaupt noch Musik ist. Aber es ist eben derart eigenartig, überskrupulös, dass es fasziniert und Respekt abnötigt. Mich fasziniert und mir Respekt abnötigt, jedenfalls. Andere, wie gesagt … sind entsetzt. Es hat etwas vollkommen Verlorenes. Das sich sogar bis in die Zugaben fortsetzt, als Pogorelich hinter der Bühne nach seiner verschwundenen Umblattlerin sucht: vergeblich, er findet sie nicht, so dass die Zugabe ausfallen muss.

Mikhail Pletnev (der von irgendeinem obskuren Konzertveranstalter am 5. April in die Philharmonie gebracht wurde) wirkt ebenfalls eigenartig und weltfremd, aber dabei frei von dieser irren Selbstqual. Den Applaus zwischen den einzelnen Stücken empfindet er offensichtlich als störend, was aber das Publikum in seiner Grobheit nicht vom Applaudieren abhält; da winkt er dann ein, zweimal freundlich ins Publikum, nachsichtig, abwesend.

Und in seinem Chopin findet das Gegenteil von Zerfall statt: stärkster Zusammenhang, jedes Stück, als sei in ihm von vorn bis hinten eine unsichtbare Feder eingespannt. Er klingt völlig sinnlich und ist doch von beglückend klarem Klangbild. Zu einem Höhepunkt wird die Fis-Dur-Barcarolle, die einen weiten erzählerischen Bogen hat, doch dabei immer einen tänzerischen Grundduktus, der walzerhafte Momente hervorbringt (was nicht Schunkelhaftigkeit bedeutet, sondern Zuspitzung).

Eingangs spielte Pletnev die 3. Englische Suite von Bach in g-Moll, ohne Ambition, auf seinem Kawai-Flügel irgendeine Anmutung von „historischem Instrument“ entstehen zu lassen. Seine Manierismen aber sind nicht hart wie die von Pogorelich, sondern zart, sogar intim. (Im Großen Saal der Philharmonie ist sowas natürlich ein bizarres Unterfangen; ich habe mich in gewisser Voraussicht in die erste Reihe gesetzt.) Und seine späten Brahms-Intermezzi werden zu, mitunter sich ganz und gar auflösenden, Traumwelten. Etwas nichtssagend bleibt mir die freundliche, der Jahreszahl nach zeitgenössische, aber bewusst alles andere als avantgardistische Sonate von Alexey Shor. Dass Pletnev einen ukrainischen Komponisten aufs Programm setzt, ist wohl auch das diesem zurückgezogenen Temperament (dem man keine Nähe zum verbrecherischen Putinregime nachsagen kann) mögliche äußerste Statement zur Weltlage. Klangmagie und erzählerischer Geist gehen bei Pletnev die glücklichste Verbindung ein, bei völliger äußerlicher Unscheinbarkeit. Und noch das vielgehörte Nocturne, das Pletnev als Zugabe spielt, habe ich, glaube ich, noch nie so unabgenudelt gehört.

Gegenüber den beiden auf eigenwillige, teils erratische Bahnen geratenen pianistischen Urgesternen Pogorelich und Pletnev hat der britische rising star Isata Kanneh-Mason etwas köstlich Erfrischendes. 27 Jahre jung, Frau, person of colour zudem, selten genug im Klassikbe/vertrieb. Schumanns Kinderszenen spielt sie nicht (wie leider schon öfter erlebt) am Anfang ihres Rezitals, das Werk als Opener verschenkend, sondern viel angemessener am Schluss, wo diese Musik ihre sentimentale Tiefenwirkung entfalten kann, auch ohne dass pianistische Mätzchen das herausquetschen müssten (wie Trifonov es einmal mit Über-espressivo versuchte, was meines Erachtens die Kinderszenen eher zerstörte als vertiefte).

Am Beginn wird mir bei Mozarts C-Dur-Variationen KV 265 (Ah, je voudrais dingsbums Madame, wir denken aber alle: Morgen kommt der Weihnachtsmann) nicht ganz deutlich, warum ich dieses nette Geklimper in einem Konzert hören soll. Das ist mir dann ein bisschen zu konventionell. Aber zum Glück überzeugt Kanneh-Mason auch mit einer spannenden Programmwahl: Fanny Mendelssohns/Hensels Klaviersonate A-Dur mit dem Beititel „Ostersonate“, der fürs Hören eher irreführend ist, wurde bis vor wenigen Jahren von Musikwissenschaftlern dem Bruder Felix zugeschrieben. Weil sie so gut komponiert sei! Ist sie auch. Packend, pianistisch aufregend. Und von der großen Komponistin Fanny. Allein für diese Bekanntschaft, die Kanneh-Mason uns in einer kompetenten, befriedigenden Interpretation gönnt, bleibt ihr Konzert vom 9. März in vorzüglicher Erinnerung. Man freut sich darauf, dieser Pianistin wiederzubegegnen.

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