Einen Lapsus der Biennale der Berliner Philharmoniker bügelt (48 Stunden vor deren zweitem Konzertprogramm, dazu unten mehr) der französische Pianist Bertrand Chamayou beiläufig aus, zumindest ein bisschen: Seine erste Zugabe ist eine stupende Etüde von Unsuk Chin. Und die ist nicht nur Schülerin von György Ligeti, der im Mittelpunkt der Biennale steht, sondern auch eine jener ominösen Frauen, deren Fehlen als Komponistinnen im zweieinhalbwöchigen Festivalprogramm hier oder auch hier bemängelt wurde. Ansonsten hat der lässige Zuschnitt der Biennale zu den 1950ern und 60ern, sehr weit um Ligeti herum, sein Gutes wie sein Schlechtes. Thematisch geht es bis zu Heimatfilmen und Architekturavantgarde, auch Chansons mit Tim Fischer gibt’s. Das ist schön in der Abwesenheit von Berührungsängsten, aber es dräut auch Ein-Kessel-Beliebiges-Risiko, für ein wirklich kuratiertes Programm fehlen manchmal (außer Frauen) Pointierung und stringente Bezüge. In Chamayous imposantem Soloabend im Kammermusiksaal ist genau das aber da.
WeiterlesenSchlagwort-Archive: Bohuslav Martinů
KURZ UND KRYPTISCH (1): Roger Norrington beim DSO
KURZ UND KRITISCH hieß einst eine Rubrik im Tagesspiegel, die es leider nicht mehr gibt. Da aber k & k immer fein ist, wird der Konzertgänger, wenn er wenig Zeit hat, in Zukunft immer mal KURZ UND KRYPTISCH rezensieren. Heute: Sir Roger Norrington dirigiert beim Deutschen Symphonie-Orchester Mozart und Martinů
WeiterlesenTentakelstreckend: Saisonvorschau des DSO
Sinnigerweise stellt das Deutsche Symphonie-Orchester, welches abseits des großsymphonischen Hauptbetriebs ja regelmäßig nächtliche Kammerkonzerte in Berliner Museen gibt, seine neue Saison im Panorama-Pavillon am Kupfergraben vor. Dort hat man eine, nicht nur für Kinder, irre Antikenwelt aus Vogelperspektive innen drin und nach draußen den Blick aufs Pergamonmuseum – will heißen, eine dieser Berliner Baustellen, die Allegorien der Unendlichkeit sind.
WeiterlesenSpinnredlich: Berliner Philharmoniker, Hrůša, Zimmermann spielen Dvořák, Martinů, Janáček
Das 20. Jahrhundert ist rappelvoll von interessanten Violinkonzerten, die Alternativen und Abwechslungen zu den sechs immergleichen Repertoire-Schlachtrössern der berühmten Komponisten B1, B2, B3, M.-B., T. und S. bieten. Die Berliner Philharmoniker machten sich bereits beim Musikfest mit dem selten zu hörenden Werk des Komponisten Z um Repertoire-Erweiterung verdient. Nun ist der mit Bernd Alois weder verwandte noch verschwägerte Geiger Frank Peter Z. zu Gast und spielt das hörenswerte 1. Violinkonzert von Bohuslav M. An einem sehr tschechischen Abend, dessen Protagonisten die Sonderzeichen á, č, í, ř, š, ů auf die Zungenwaage werfen, dass dem schwerfälligen deutschen Pronunziationsvermögen ganz flatterzungig wird.
Klangsprungpendelnd: Norrington dirigiert Mozart und Bohuslav Martinů beim DSO
Note to self für wenn 84 Jahre alt: ein Beispiel an Sir Roger Norrington nehmen und nur noch mehrjährige Projekte starten. Kaum hat er seinen Vaughan-Williams-Zyklus beendet, beginnt er wieder beim Deutschen Symphonie-Orchester in der Philharmonie mit dem Tschechen Bohuslav Martinů (1890-1959): sechs Sinfonien, alle relativ spät im amerikanischen Exil entstanden. Die letzte 1953, die hier gespielte 1. Sinfonie von 1942.
14./15.1.2017 – Vielsingend: Vladimir Jurowski beim RSB und beim ensemble unitedberlin
Was für ein interessanter, vielseitiger Dirigent ist Vladimir Jurowski.
Am Samstag dirigiert er das Rundfunk-Sinfonieorchester, dessen Chef er im Sommer wird, mit einem Programm von (auf den ersten Blick) gediegener tschechisch-deutsch-russisch-schweizerischer Moderne. Am Sonntag das ensemble unitedberlin, dessen Artistic Advisor er seit 2015 ist, mit einem Programm von (auf den ersten Blick) schwieriger, ja mörderischer italienischer Avantgarde.
Beides im Konzerthaus.
5.6.2016 – Being Barenboim: Vom Geburtstagskonzert für Martha Argerich zu Martinůs „Juliette“ in der Staatsoper
Einmal auf Daniel Barenboims Spuren wandeln, nein rasen: 15 Uhr Geburtstagskonzert für Martha Argerich in der Philharmonie, 19.30 Uhr Bohuslav Martinůs Juliette in der Staatsoper. Mit dem Fahrrad kommt man sogar schneller rüber als der Maestro in der Limousine. Zumal wenn im Tiergarten ADFC-Sternfahrt ist. Vielleicht trudeln deshalb viele Besucher bei
Martha Argerichs Geburtstagskonzert
in der proppenvollen Philharmonie erst ein, als die Jubilarin und Barenboim mit Mozarts Sonate für 2 Klaviere D-Dur KV 448 schon fertig sind. Ärgerlich bei Kartenpreisen bis 220 Euro, andererseits fließen ohnehin alle Einnahmen einem guten Zweck zu, dem BER der Sanierung der Staatsoper Unter den Linden.
4. Juni 2015 – Sonnenwandlerisch: DSO und Brabbins mit Dvořák und Bohuslav Martinůs ‚Ariane‘
Der Konzertgänger kennt kein Wetter, nur Licht und Schatten in der Musik. Trotzdem ist er froh, an einem warmen Juniabend in der Philharmonie zu einem (scheinbar) sonnigen Programm zu gehen.
Serenaden haben immer etwas von Sommernacht, obwohl Mozart auch Serenaden für Winternächte geschrieben hat. Antonín Dvořáks Serenade für Streichorchester E-Dur op. 22 von 1875 ist auf jeden Fall Sommernachtsmusik. Am schönsten ist der Anfang, ein wellenartig fließendes Thema mit einem hübschen Kringel am Schluss. Der folgende Walzer ist etwas monoton, jede Figur wird zwei- bis vierfach wiederholt. Im Larghetto an vierter Stelle taucht der Anfang von Saint-Saëns‘ Schwan auf, auch dieses Motiv kehrt hinreichend häufig wieder. Martyn Brabbins dirigiert das alles engagiert und inbrünstig, als wäre es Bruckners Achte. Das passt am Beginn des Finales, wo plötzlich symphonischer Drive da ist; der aber bald zum fröhlichen Tanzen abbiegt, bevor schließlich der tschechische Schwan und die Anfangswellen wiederkehren. Der Konzertgänger fragt sich, wo die Grenze vom Leichten zum Belanglosen verläuft, er hätte diese Serenade gern im Kurpark oder an der Strandpromenade gehört, mit einem Glas Champagner. Vielleicht hätte man das Stück etwas schlanker, dafür sperriger, melancholischer, rauher spielen können? Im Foyer erklärt jedoch ein begeisterter Mann seinen Begleitern lauthals, die Dvořák-Serenade sei keineswegs langweilig, sondern luftig, tiefgründig, böhmisch, ja sogar biotop-artig.
Bohuslav Martinůs Ariane von 1958 beginnt ebenfalls luftig, wird dann allerdings extrem biotop-artig! Denn so sonnig, wie diese einstündige Oper mit einer schmissigen, nach Boccherini klingenden Sinfonia anfängt, bleibt sie nicht. Im Gegenteil: Wir begegnen bald kriegerisch schnarrenden Trompeten und Rührtrommeln, später irritierend säuselnder Kampfmusik, der Sinfonia-Ohrwurm hat sich als Ariane-Motiv entpuppt, dazwischen immer wieder das originelle Holzbläserblubbern und Glöckchenklingen, das den unverkennbaren, süchtig machenden Martinů-Sound ausmacht. Wenn es je passt, Musik als farbig zu bezeichnen, dann bei Martinů! Ariane wartet am Schluss sogar mit einer zehnminütigen Lamento-Bravour-Arie inklusive Stretta und Schluss-Entrückung auf, die man gern einmal mit Claudio Monteverdis Arianna-Lamento gekoppelt hören würde. Laura Aikin singt das sehr beeindruckend, wenn auch an einigen Stellen nicht unschrill; die Spitzentöne aber weich und leise. Die anderen Sänger, durchweg überzeugend, allesamt Männer, darunter Theseus und der Minotaurus, haben eher rezitativische Aufgaben. Auch das DSO und Brabbins, dem man danken muss, dass er den kranken Tugan Sokhiev vertritt und Berlin dieses abgelegene Werk hören lässt, machen ihre Sache bestens.
Arianes große Schlussarie verweist auf das Paradox dieser Kurzoper: In der Vorlage von Georges Neveux steht Theseus (in der Operngeschichte stets eine Lusche) im Mittelpunkt. Die Pointe des Stücks, das bezeichnenderweise nicht Ariane, sondern Le voyage de Thésée heißt, besteht offenbar darin, dass Theseus im Minotaurus sein Spiegelbild erkennt und mithin sich selbst tötet, oder zumindest sein früheres, glücklicheres Selbst. Insofern hat Martinů den Text erheblich verunklart, indem er – inspiriert von einer Radiosendung (!) mit Maria Callas – den Akzent auf Ariane verschob. Die Oper wird damit selbst zu einer Art Doppelwesen, ein Frauenkopf auf einem Männerkörper. Die Callas hat das natürlich nie gesungen.
Aber widersinnige Verunklarungen können in der verrückten Welt der Oper ja hochproduktiv sein. Ariane ist ein verstörend zusammengewürfeltes, schönes, schreckliches, geheimnisvolles, konfuses Werk. Man kann es kaum fassen, dass es noch nie in Berlin gespielt wurde; die Uraufführung fand 1961 in Gelsenkirchen (!) statt. Martinů kommt in Berlin überhaupt zu kurz; umso erfreulicher, dass nächstes Jahr die Staatsoper Martinůs Meisterwerk Juliette spielen wird… mit Daniel Barenboim, Magdalena Kožená und Rolando Villazon! Hoffentlich bringt das Berlins Martinů-Pflege nicht vom Regen in die Traufe.
Ariane erinnert in mancher Hinsicht an Juliette: die Titelheldin von vornherein komplett durch den Wind, ihr Geliebter fremder als fremd, die ganze Oper ein Amnesie-Mysterium, Erzählung aus einem hypnotischen Zwischenreich, das man sich kaum auf einer staubigen Bühne vorstellen kann. Schön, es in der Philharmonie zu hören und vor dem geistigen Auge zu sehen. Am Schluss verabschiedet sich das Stück mit dem leisen Ariane-Motiv von Klavier und Glockenspiel, wie eine Spieldose, die sich schließt; aber in dieser Spieldose gähnte ein Abgrund.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.