Entnachtend

Klavierfreuden in Mendelssohn-Remise und Pianosalon Christophori, John Eliot Gardiner bei den Philharmonikern

Die kleinen Musikorte erholen sich – wie die freien Musiker – mühsamer von der langen Nacht der (wohl noch nicht beendeten) Pandemie, als es große Institutionen und begehrte Stars tun. Eine kleine Klavierrunde führte mich in der vergangenen Woche nordwärts in den Wedding, wo im Pianosalon Christophori an zwei Abenden die jungen Musiker Andrei Gologan und Florian Heinisch spielten, und tags zuvor in die feine Mendelssohn-Remise, unweit vom Gendarmenmarkt. Dort eröffnete gleichzeitig die große Elisabeth Leonskaja eine Schostakowitsch-Hommage, den lang geplanten und nun von kriegerischen Zeitläuften an den Rand des Heiklen geführten Programmschwerpunkt des Konzerthauses. Auf der breiten Freitreppe stimmt dort eine Menschenmenge gutgemeint, aber schwer erträglich ein von beschwingtem Moderator animiertes Lied für den Frieden an.

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Miese beflügelnd!

Ton Koopman beim Konzerthausorchester

So miese kann’s einem gar nicht gehen, dass einem durch Carl Philipp Emanuel Bach nicht neuer Esprit injiziert würde. Und durch die beflügelnd vitale Erscheinung von Ton Koopman, dem schon 77jährigen niederländischen Cembal- und Organisten und auch Dirigenten, der beim Konzerthausorchester unter anderem zwei CPE-Sinfonien aus der späten Hamburger Zeit im Programm hat. Die bekanntere ist die in D-Dur (Wq 183/1), eine der originellsten, überraschungsbombigsten überhaupt. Und auch wenn man sich in den Abschnittsbeginnen des ersten Satzes die Kontraste noch unverschämter geschärft vorstellen könnte, flutschen doch die Streicher famos und die Holzfarben leuchten mit schöner Kontur.

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Meisterinlich: Isabelle Faust und Akamus spielen Bachs

Dass Maestro Grigory Sokolov aus Corona-Vorsicht sein Konzert in der Berliner Philharmonie auf den Juni verschoben hat, dispensiert den geneigten Konzertgänger vom Zwang, sich an diesem Märzmontag in zwei Hälften aufzuspalten, um gleichzeitig Maestra Isabelle Faust im Kammermusiksaal zu hören. Auf deren Tournee mit der Akademie für Alte Musik fielen zwar bereits die beiden letzten Termine in Italien aus. In Deutschland aber darf man sich noch versammeln. (Nachtrag: Anderthalb Stunden nach Veröffentlichung des Beitrags hat sich das geändert.) Im ausverkauften Kammermusiksaal klaffen sichtbare Publikumslücken. Wir husten nicht, und sogar auf den Herrentoiletten werden sich neuerdings die Hände gewaschen.

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Sanfttröstend: Sampson und Bezuidenhout im Boulezsaal

Ariadne auf Naxos, sich nach einem Clavier sehnend I

Gelobt sei die Kunst des sinnigen Sichversprechens und Sichversingens! Nur ein die und ein der vertauscht, und schon ersetzt der Großvater die Oper: Flieht, was der Opa singet und folgt der Phantasie. Wie schön ist das denn! Wahrlich von tieferem Sinn aber, wenn die wunderbare Sopranistin Carolyn Sampson nicht singt Doch nein, laß mir mein Leid und meine Zärtlichkeit, sondern: mein Leid und seine Zärtlichkeit. Die Zärtlichkeit des Leids. So geschehen in einer Ode an das Clavier von Friedrich Gottlob Fleischer, einer von vielen wertvollen Raritäten, die man an dem schönen, klugen Liederabend von Sampson und dem sorgsamen Pianisten Kristian Bezuidenhout im Pierre-Boulez-Saal kennenlernen darf.

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Freudetafelnd: Freiburger Barockorchester jubiliert Telemann, CPE Bach und Beethovens Neunte

Ludwig van Telemann

Was hat La Neunte nicht schon alles erlebt, was kann man denn da noch draufsatteln? Schönbergs Survivor from Warsaw gabs als legendären Kontrapunkt: Der Dirigent Michael Gielen koppelte ihn sogar zwischen die Sätze 3 und 4. Vladimir Jurowski wiederholte das jüngst und drehte die Schraube noch weiter, indem er den von Mahler gepimpten Beethoven hervorkramte. Sir Simon verstörte sein Abo-Publikum vielleicht noch tiefer, indem er vor der Neunten Helmut Lachenmanns Tableau spielte. Dabei hatte der Teufelsbündner Leverkühn die Neunte doch längst zurückgenommen! Was also kann da noch kommen?

Telemann.

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23.9.2016 – Kühn, wortlos: „Sturm und Drang“ mit Freiburger Barockorchester und Kristian Bezuidenhout

haydnportraitIn diesem Konzert weiß man nie, wann man sich schnäuzen kann: Im Finale von Joseph Haydns 47. Sinfonie wagt man es ebensowenig wie in C.P.E. Bachs Concerto d-Moll, zu abrupt folgen auf heftigste Bewegung plötzliche Pausen und überraschende Pianissimi. So hält der Nachbar des Konzertgängers minutenlang sein Taschentuch vor die Nase und traut sich doch nie, es zu benutzen, aus allzu berechtigter Sorge, in eine unerwartete Stille zu tröten. (Bei Mahler weiß man immer, wann man sich die Nase putzen kann, ohne zu stören.)

So lässt sich das Etikett Sturm und Drang unmittelbar physisch erfahren. Weiterlesen

3.3.2016 – Stürmisch: Nils Mönkemeyer & Barock Solisten spielen Telemann, Bach & Bach

Schwerelosigkeit ist Schwerstarbeit: Im Andante klingt die Solo-Bratsche so durchsichtig, ja ätherisch, dass Nils Mönkemeyer nach dem Satz erstmal durchatmen und sich den Schweiß von der Stirn wischen muss. Carl Philipp Emanuel Bachs Konzert a-Moll Wq 170 ist als Cellokonzert komponiert, die Modulation zum Bratschenkonzert funktioniert aber bestens. Einen gewissen Verlust an Durchschlagskraft des Instruments gegenüber Streichern und Continuo macht der fremdelnd singende Ton der Viola wett, der auf den Konzertgänger so mysteriös wirkt wie der androgyne Altschlüssel, in dem sie notiert wird. Die gläserne Kadenz im ersten Satz ist der auffälligste von einigen faszinierend bizarren Momenten in diesem Stück, das mit seiner Überfülle an plakativen Kontrasten den typischen CPE-Bach-Sound hat, das Gegenteil von barocker Affekt-Einheit.

Der Bratschist Mönkemeyer, mit Beatlesfrisur und lustig schwingender lila Krawatte, ist der Stargast der Berliner Barock Solisten, der Pop-up-Alte-Musik-Combo mit Philharmonikerglanz, an diesem Abend unter sachkundiger Führung von Gottfried von der Goltz vom Freiburger Barockorchester. Trotz harter Konkurrenz durch Mariss Jansons im Vorderhaus und Joyce di Donato (der Sängerin mit herrlicher Stimme und entsetzlichen Fotos) in der Deutschen Oper ist der Kammermusiksaal nicht gänzlich verwaist. Das Gerüst des Programms bilden Stücke von Georg Philipp Telemann. In dessen Konzert G-Dur TWV 51:G9 brilliert die Bratsche ohne den Verfremdungseffekt des CPE-Bach-Konzerts. Man erfährt, dass Mönkemeyer dieses meistgespielte Bratschenkonzert (ist das so?) schon so oft aufgeführt hat, dass er die Kollegen (vergeblich) um ein anderes Stück gebeten habe; trotzdem hat er die Noten auf dem Ständer, schaut allerdings kaum hinein; von Routine dennoch nichts zu hören. Ohne Solobratsche gibt es noch das elegante Konzert für vier Violinen A-Dur TWV 54:A1 und, am Anfang des Programms, die umwerfende ‚Ouverture des nations anciens et modernes‘ G-Dur TWV 55:G4, in der die alten Deutschen, Schweden und Dänen eingängig bis behäbig tanzen, die jungen dagegen rhythmisch vertrackt bis stampfend – von den Barock Solisten so druckvoll gespielt, dass die Löcher aus dem Käse fliegen. Und am Ende jammern les vieilles femmes. Da stimmt man Telemanns eigenem Urteil zu, dass er Tanzsuiten (noch) besser könne als Concerti.

Den Höhepunkt des Abends bildet aber Wilhelm Friedemann Bach, der Desperado der Familie. Während der Hörer auf CPE Bachs wohlkalkulierte Überraschungen, sein Markenzeichen, stets gefasst ist, wirft einen die Musik des ältesten Bachsohns in ihrer merkwürdigen Zerrissenheit um. Mag sein, dass diesem Genie nicht nur das Marketing-Talent des Bruders, sondern auch der innere Kompass des Vaters gefehlt hat. Die Streichersuite g-Moll galt früher als Werk von Johann Sebastian Bach und wird als BWV 1070 geführt, Wilhelm Friedemann soll ja auch, so wird gemunkelt, aus Geldnot Vaterwerke gefälscht haben. Aber wenn man das Stück hört, hat man keinen Zweifel an der Autorschaft – und zwar nicht aufgrund gewisser Floskeln und Wendungen des Empfindsamen Stils (so das Programmheft), sondern wegen ihrer charakteristischen Verbindung von Zerrissenheit und Wärme.

Pritzelhaft, kleinlich, unfruchtbar nannte Zelter Jahrzehnte später in einem Brief an Goethe Wilhelm Friedemann Bach; schöner als in diesem Tadel kann man ihn nicht loben: Als Komponist hatte er den tic douloureux, original zu sein.

Es gibt einen lesenswerten ZEIT-Artikel von Volker Hagedorn über den Sonderling unter den Bachs.

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Reich: Sommermusik von Veracini bis Cranberries in Südtirol

Auch in Südtirol wird der Konzertgänger nicht ausschließlich zum Berggänger. Obwohl hier, wie sein eingeborener Schwiegervater bescheiden zu sagen pflegt, nicht gerade die Achse aus dem Globus kommt, muss der hochkulturbeflissene Urlauber nicht darben. Im Gegenteil: Kurz vor seiner Heimkehr nach Berlin, wo das Musikfest auf ihn wartet, blickt der Konzertgänger nicht nur auf schwindelerregende Wanderungen, steigungsreiche Radtouren und eiskalte Weihernachmittage zurück, sondern auch auf einen reichen Musiksommer.

Der Brunecker Verein Cordia organisiert nicht nur jedes Jahr einen Sommerkurs mit dem für Berliner Ohren glückverheißenden Namen Akademie für Alte Musik, zu dem sich Musiker aus aller Welt treffen, um sich in historischer Aufführungspraxis fortzubilden und abschließend ein gemeinsames Konzert zu geben: in diesem Jahr ein famoses Beethoven-Programm unter der Leitung von Jos van Immerseel (2.8. in Toblach).

Am 4.8. trat das Ensemble Cordia selbst auf, in der urigen Rainkirche am Schlosshang von Bruneck mit einem ausgefallenen Barockprogramm: zwei spritzige Ouvertüren von Francesco Maria Veracini und zwei aufregende, völlig unhändelhafte Symphonien von William Boyce – so lebendig und kraftvoll musiziert, dass es den eigentlichen Höhepunkt des Programms fast in den Schatten stellte, Händels Silete Venti. Der rauschende Auftritt der Sopranistin Roberta Invernizzi, die dem wütenden Wehen des Orchesters energisch Einhalt gebot, verfehlte trotzdem nicht ihre Wirkung, zumal auf die schwer beeindruckte Tochter des Konzertgängers.

Fast noch mehr nach ihrem Geschmack war die Matinée der Schwestern Reinhilde und Tamara Gamper, die als Wonderful Strings (Zither und Violine) am 16.8. in der Alten Turnhalle Bruneck ein buntes Programm von Renaissance-Musik über Südtiroler und irische Folklore bis zu Cranberries und Police spielten: Die Gamper-Schwestern sind hervorragende Instrumentalistinnen, die auch sehr gut singen können und, wie nicht verschwiegen werden darf, fantastisch aussehen. Unterhaltung im besten Sinne, an die der Konzertgänger wehmütig zurückdachte, als wenig später in seinem Dorf verschwitztes Herrengebumper der Freddy-Pfister-Band die Bergruhe entweihte.

Featured imageDas Theresia Youth Baroque Orchestra, das junge Musiker aus aller Welt im Zeichen des Pirols in Rovereto versammelt und mehrmals im Jahr durch Italien tourt, machte am 21.8. im Grand Hotel Toblach halt, einem Lieblingsort des Konzertgängers in Südtirol. Das Programm unter Leitung von Chiara Banchini beschwor nicht den Geist Gustav Mahlers, sondern den alles andere als wehmütigen Spirit von Carl Philipp Emanuel Bach und Luigi Boccherini. Ausgepowert von der langen Anfahrt mit dem Fahrrad, war im Konzert an Schlaf nicht zu denken! Zumal historische Aufführungen wie für Kinder gemacht sind: Die Instrumente klingen interessanter, die Klaviere haben geheimnisvolle Kniehebel, und kein Konzert vergeht, ohne dass einem Geiger mit lautem Knall die Saite reißt.

In CPE Bachs Concerto per clavicembalo e fortepiano Es-Dur (1788) kommt sogar Fin de siècle-Stimmung auf, wenn auch nicht im mahlerschen Sinn: Das Aufeinandertreffen von Cembalo (Olga Pashchenko) und Hammerklavier (Assen Boyadjiev) ist ja die Begegnung eines untergehenden Instruments mit seinem Nachfolger, der seinen Siegeszug erst antritt – eine sehr heitere Schwermut. Boccherinis 27. Sinfonie D-Dur (1789) ist dagegen ein beglückendes, ausgewogenes Werk, das sich vor Haydn nicht zu verstecken braucht. Besonders zu Herzen gehend das Andante; im Menuett brilliert die junge erste Geigerin. Keine Ahnung, warum man in Deutschland noch immer recht ignorant gegenüber Boccherini ist; dass das nicht immer so war, beweist die Tatsache, dass Friedrich Wilhelm II. diese Sinfonie in Auftrag gab.