Im hohen Alter hat man keine Zeit mehr zu verlieren! Entsprechend ungeduldig saust der über 80jährige Igor Strawinsky in seinen Requiem Canticles von 1965 durch den liturgischen Text. Dieses Spätwerk steht im Zentrum des Konzerts, mit dem das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin und sein Chefdirigent Robin Ticciati ihre Saison eröffnen und sich zugleich in den Strawinsky-Schwerpunkt des Musikfests einreihen. Frappant ist der Kontrast zu Gabriel Faurés Wellness-Requiem aus dem späten 19. Jahrhundert, das vor einer Woche vom Orchestre des Champs-Élysées und dem Collegium Vocale Gent in der Philharmonie zu hören war. Voller Zuversicht war das, ohne die bumpsenden Schreckensteile. Der alte Strawinsky hat auch ausgewählt, aber er hat genau andersrum alles Erbauliche weggelassen: weder Kyrie bei ihm noch Sanctus, kein Agnus Dei und nix mit Lux aeterna. Stattdessen volle Packung Totensequenz, ebenjenes haarige Dies irae, das nicht erst dem friedfertigen Fauré misshagte.
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Um alles: Karl Amadeus Hartmanns CONCERTO FUNEBRE
Vor ein paar Tagen spielte Isabelle Faust mit dem französischen Orchester Les Siècles das Violinkonzert von Igor Strawinsky: Größer könnte ein Unterschied nicht sein als der Kontrast zu dem nur wenige Jahre später komponierten Violinkonzert von Karl Amadeus Hartmann, das nun Patricia Kopatchinskaja bei den Berliner Philharmonikern unter Kirill Petrenko spielte. Denn in Strawinskys Concerto en ré von 1931 geht es um exakt gar nichts, in Hartmanns Concerto funebre von 1939 buchstäblich um alles. (Was natürlich nix über die künstlerische Höhe der Werke aussagt; sofern ein „um gar nichts“ weiß, was es tut; was bei Igor natürlich der Fall ist.)
WeiterlesenPrachtjammrig: RIAS Kammerchor klagt und klagt
Früher war mehr Lamento? Von wegen, wie dieses Konzert beweist. Die Tour d’Unbekanntes Zeug von Strawinsky des diesjährigen Musikfests läuft aufs Ziel zu, und es ist alles hochinteressant, auch wenn vieles vom Spätwerk bei mir eher Heidenrespekt als wahre Liebe hervorruft. Aber die Kopplung mit polyphonem Renaissance-Jammer ist etwas, was Strawinskys Threni nochmal verexquisitet.

Krebsspringend: Les Siècles spielen Strawinsky rückwärts
Will man in einem Programm den kompletten Strawinsky repräsentieren, ist man fast zum Krebsgang gezwungen. Zu groß wäre sonst die antiklimaktische Wirkung vom frühen Russenknaller übers mittlere Neoklassikum bis zum (teils zu Unrecht) als karg geltenden späten Reihen-Igor! Wobei das vielleicht auch mal interessant wäre; aber doch riskant. Darum setzt sinn- und sicherheitshalber auch das erzformidable französische Orchester Les Siècles mit seinem Leiter François-Xavier Roth den frühen Superhit an den Schluss und das Alterswerk an den Beginn; so dass immerhin die Mitte Mitte bleibt.
WeiterlesenMimoso: Zwei Konzerte des Collegium Vocale Gent mit Philippe Herreweghe
Musikfest ist Gastorchester-Zeit. Das Orchestre des Champs-Élysées ist ein Ensemble, das nicht alle Jahre in Berlin zu hören ist. Aber die Hauptattraktion des Konzerts ist der Chor. Das Collegium Vocale Gent gibt es zwei Tage nach einem ersten Konzert mit Orchester noch einmal (fast) allein zu hören, in Madrigalen des Wortklauberichs Gesualdo. Fast alles dreht sich in diesen beiden Konzerten um den Tod; aber wie grundverschieden!
WeiterlesenInselig: ECHOES OF SILENCE und Ensemble Musikfabrik
Alles ist anders derzeit, aber manches doch wieder gleich: zum Beispiel, dass zum Kultursaisonstart nicht nur das Musikfest in der Philharmonie stattfindet, sondern auch der Monat der zeitgenössischen Musik. Der dauert angemessenerweise gleich 35 Tage. Er findet auch im Rahmen des Musikfests statt, zum Beispiel mit Konzerten des Ensemble Musikfabrik, aber vor allem über die Stadt verstreut: wie in dem ambitionierten Projekt ECHOES OF SILENCE letzte Woche in der St. Elisabeth-Kirche, einer der Schinkelschen Vorstadtkirchen, die heute als Kulturraum genutzt wird.
WeiterlesenErwartbar unerwartet: John Eliot Gardiner, Vladimir Jurowski & die Ihren
Zu den erwartbaren Höhepunkten beim Musikfest Berlin gehören die Konzerte von John Eliot Gardiner und Vladimir Jurowski mit ihren jeweiligen Ensembles. Was nicht heißt, dass alles, was da in der Philharmonie kommt, erwartbar wäre – im Gegenteil: Erwartbar ist, dass man überrascht wird. Und belehrt und beglückt.

Turangarôsa: Concertgebouw mit Renée Fleming
Alles ein bissl fast normal jetzt schon wieder, das allsaisonbeginnliche Musikfest Berlin hat angefangen. Den Heiner-Goebbels-Eröffnungsabend hat der Konzertgänger mal lieber ausgelassen, aber Concertgebouworkest Amsterdam ist een must. Das große instrumenten-vrachtauto steht vor der Philharmonie, gleich daneben parkt ein Campingwagen, reiner Zufall gewiss. Dass die arroganten Berliner ihrem koninklijken Gast wie jedes Jahr etwas die koude Schouder zeigen, fällt heuer nicht ganz so auf, weil der Große Saal coronabedingt zunächst im Schaakbord-Muster besetzt wurde, bei dem sowieso jeder zweite Platz leer bleibt; dass der Rest dann, als volle Besetzung erlaubt wurde, einfach unverkauft blieb, fällt nicht so auf. Tja, je eigen schuld, o Berliner, du verpasst hier eins der besten Orchester der Welt. Plus Renée Fleming.
WeiterlesenHörstörung (27): Wenn alle weg sind, fehlen sie auch wieder
Nun also zum ersten Mal seit, Sie wissen schon, wieder Berliner Philharmoniker, mit Kirill Petrenko. Schönes Konzert, aber es will sich, obwohl tadellos gespielt, nicht völlig philharmonisch anfühlen. Dabei ist die Philharmonie ja ein ausgesprochen freundlicher Hochsicherheitstrakt, das Lächeln des Personals strahlt durch alle Masken, die Farben des Wegeleitsystems illuminieren schön die Treppen des Scharoun-Hauses; und gibt es auch zero Gastronomie, so sind außer den Handdesinfektionsstationen auch Wasserspender aufgestellt. Nicht verwechseln!
WeiterlesenWiederwurzelnd: RIAS Kammerchor singt 600 Jahre
Auf in die Mundhöhle des Corona-Löwen: erstes Chorkonzert seit Februar! Es beginnt um 21 Uhr im Hochsicherheitstrakt Philharmonie, spät genug, um nachmittags noch mit dem Söhnchen ein vielleicht letztes Mal für dieses Jahr ins Strandbad zu gehen. In Berlin arbeiten wir ja nicht. Außer den Künstlern!

Musikfest 2019: Karajan-Akademie mit Susanna Mälkki
Einzige Komponistin und einzige Dirigentin beim diesjährigen Musikfest — Pflichttermin also! Aber ebenso Lusttermin, denn die Dirigentin der Karajan-Akademie im Kammermusiksaal ist Susanna Mälkki, und die Komponistin ist Olga Neuwirth. Wobei man schon mal sagen muss, dass beim stets jubiläumsfreudigen Musikfest (150 Jahre toter Berlioz heuer) ein Programm mit Werken von Clara Schumann, geboren 1819, gewiss kein Fehler gewesen wäre. Nicht an diesem Abend, nicht statt Neuwirth natürlich, sondern anstelle von – halten zu Gnaden – Beethoven und Schubert, die dieser Tage in ziemlich unmotivierten Interpretationen zu hören waren.
WeiterlesenMusikfest 2019: Les Siècles spielen Rameau, Lachenmann, Berlioz
Das Musikfest auf der Zielgeraden: unter anderem mit einem Klavierdonnerstagabend von Pierre-Laurent Aimard (bei dem man sich ein wenig fragt, wozu) und einem Sonntagskonzert des französischen Orchesters Les Siècles mit seinem Dirigenten François-Xavier Roth: die zwingende und unbedingt notwendige Antwort auf eine Frage, von der man nie wusste, dass man sie hat.
WeiterlesenMusikfest 2019: Münchner Gergiev und Londoner Rattle
Hohe Besuche beim Musikfest in der Philharmonie — Valery Gergiev kommt mit seinen Münchner Philharmonikern, Simon Rattle mit seinem (fühlt sich immer noch seltsam an, das zu schreiben) London Symphony Orchestra. Wachsam wägend wuppen sie geWaltiges, ein Erst- und ein Letzthauptwerk zweier solitärer Komponisten: Die Londoner haben Messiaens kurz vor seinem Tod komponierte Éclairs sur L’Au-Delà dabei, die den Vorhang zur Ewigkeit lupfen (mehr dazu unten). Die Münchner Philharmoniker beginnen mit Alfred Schnittkes 1. Sinfonie, die aus den 1970ern stammt, aber ein paar Jahrhunderte Musikgeschichte verquirlt und den Hörer so auf einen fernen Bewusstseinsplaneten verraumschifft.
WeiterlesenMusikfest 2019: Peter Eötvös mit dem Ensemble Musikfabrik und den Berliner Philharmonikern
Ein Tag für und mit Peter Eötvös beim Musikfest Berlin: ein einnehmendes musikalisches Beisammensein. Eötvös ist kein eitler Selbstdarsteller, sondern wirkt sachlich, bescheiden, freundlich. Das ist durchaus schätzenswert in Zeiten so vieler grabschender und cholerischer Männer im Klassikbetrieb. Am Sonntag leitet Eötvös (während Frank Castorf mit Verdis La forza del destino das Deutsche-Oper-Publikum triggert) zuerst das Ensemble Musikfabrik im Kammermusiksaal und eine Stunde später die Berliner Philharmoniker im Großen Saal. Keine üble Leistung mit 75! Und es geht dabei auch noch bis nach Japan und ins maurische Mittelalter.
WeiterlesenMusikfest 2019: Aimard spielt Beethoven und Lachenmann
Man schaut zweimal aufs Programm: Dieser Pianist spielt die Hammerklaviersonate? Die Kopplung Beethovens mit Lachenmann haben immerhin schon andere versucht, sogar mal Simon Rattle bei den Berliner Philharmonikern (damals haben Teile des Abo-Publikums rotzfrech gehustet und gekichert). Aber erst Beethoven, dann Lachenmann: Das ist doch echter Pierre-Laurent Aimard.
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