Nein, am betrüblichen Deckenteilsturz im Foyer ist nicht der Sänger schuld, jener Baritenor, der die scheinbar natürlichen Obergrenzen seines Stimmfachs sprengt. Auf dem Weg zu Michael Spyres im Kammermusiksaal passiert der Konzertgänger eine weiträumige Absperrung neben der Treppe, an die noch Putzstücke angelehnt sind. Ein Glücksfall, dass das nicht in Andrangzeiten herunterfiel, in Zeiten des ohnehin grassierenden Abonnentenschwunds. Aber wie gesagt, der Sänger ist unschuldig. Nach dem Konzert wird er noch erzählen, dass er als junger Mann, der aus Missouri kam, auch als construction worker arbeitete. Doch dass er sich auch noch des Berliner Konzertsaalverfalls annähme, wäre zu viel verlangt. Denn an diesem Abend hat der Hochkunstschwerstarbeiter Spyres (am Vortag sang er noch in Antwerpen, am Vorvortag in London!) genug Außerordentliches geleistet.
Derzeit einzigartig, heißt es allerorten, sei Michael Spyres mit seinem Stimmumfang von weißderhimmel wie viel Oktaven, einen Borderliner nennt ihn der gestrenge Gesangsgelehrte Jürgen Kesting. Seinen komplettamenten Maximalst-Ambitus präsentiert der unprätentiöse Spyres beim Rezital im Kammermusiksaal nur genau ein einziges Mal, in der Arie Solcar pensa un mar sicuro von Johann Adolph Hasse, dem letzten Stück des regulären Programms (zwei Zugaben folgen). Aber Grenzüberschreiter ist Spyres nicht nur im Klangraum, sondern auch in Zeit und Genre. Genuin kein Barocksänger, stellt er Rossini und den Belcanto über alles, singt auch viel französisches Fach (im Herbst ist er in Berlin bei Berlioz‘ Trojanern dabei), und dann demnächst auch noch Wagner, Lohengrin in Straßburg.
Ausgewiesene Barockexperten hat Spyres allerdings im Kammermusiksaal dabei, sogar solche der goldapfeligen Art: Das Ensemble Il pomo d’oro begleitet den Sänger bei seinem Programm Tenore Assoluto, das Arien des 18. Jahrhunderts versammelt, geschrieben einst für einen Typus Sänger, den es heute eben kaum mehr gibt. „Begleiten“ ist allerdings schamlos untertrieben. Denn dass gleich das eröffnende Empio, per farti guerra aus Händels Oper Tamerlan mit der Verve eines Punksongs daherkommt (doch ohne dessen aggressive Schlampigkeit), ist nicht nur Spyres zu verdanken, sondern ebenso dem siebenköpfigen Ensemble. Dessen Leiter am Cembalo Francesco Corti versprüht eine Energie sondergleichen, und von der ersten Geigerin Zefira Valova mit ihrem mal resolut führenden, mal der menschlichen Stimme adäquat respondierenden Ton würde man am liebsten gleich drei oder vier Violinkönzertchen hören.
Immerhin gibt es zwischen den Gesangsstücken drei wunderbare Concerti, eins von Vivaldi mit idealen musikalischen Seitenverlagerungen, eins von Baldassare Galuppi (einem Komponisten des vollen Durklangtums, das immer wieder von zartgeschliffenen Dissonanzen genussvoll hereingeschoben wird), eins von Giuseppe Sammartini. Diese Dramaturgie ist eine ebensolche Versicherung gegen allfällige A-B-A‘-Ermüdungen im Opera-seria-Arien-Ablauf wie Spyres‘ Kunst des geschmeidigen, aber niemals filigran-zieseligen Koloraturbären. Und auch in den Einleitungstakten der Vivaldi-Arie Cada pur sul capo audace ist es eine Freude, wie die beiden Violinen sich mit maliziösem Strich irgendwelcherlei Rache ausmalen … Dass am Kontrabass mit Ismael Campanero Nieto ein Musiker steht, der mit seinen Chiantikorkenzieherlocken aussieht wie aus einem Botticelli-Bild entfleucht oder gar wie der junge Alberto Dürer persönlich, macht die Freude vollkommen über dieses italienische Ensemble, das die Intensität der Currentzis-Ideen hat, aber ganz frei ist von dessen aggressiven, rumpelnden und sonstigen toxischen Aspekte.
Was nun an Master Spyres neben seiner Akrobatik entzückt, ist eine Art von Bodenständigkeit. Bei aller Artistik ist da immer solide Wärme und eine (auch wenn das Wort natürlich bei aller Kunst und hier ganz besonders paradox ist) Quasi-Natürlichkeit des Legato. Außerdem Anmut, und eine Art von richtigem Mutterwitz, Humor. Das ist hier alles andere als eine Vorführung des wunderdressierten Stimmschimmels in der Staun-Manege. Statt selbstzweckhafter Manierismen oder aufdringlicher Virtuosität erlebt man hier einfach eminentes Können, ein stupendes Vermögen. Aber natürlich sind wir im Saal absolut entzückt, wenn die aus Baritonfundamenten kommende Stimme sich bei der Anrufung Zephyrs in Rameaus Cessez de ravager la terre in windlichte Höhen aufschwingelt!
Bevor Spyres und Il pomo d’oro als zweites und letztes Extra die wunderbar zornige Se il mio paterno amore von Gaetano Latilla singt (ein Komponist, von dem ich nie zuvor hörte), gibt er dann noch Gluck zu. Und dass er diesen Namen Glück ausspricht, passt eben nicht nur, weil er die französische Fassung von J’ai perdu mon Euridice singt, sondern auch, weil es eben das ist: Christoph Willibald Glück, auch wenn die Verzweiflung des liebenden Sängers aller Sänger uns zu Tränen rührt. Auch das vermag Spyres also. Und das Konzert im erstaunlich unausverkauften Kammermusiksaal ist eins jener Kategorie: In ein paar Jahren werden wir sagen, wir waren noch im kleinen Kreis dabei, damals (als auch der Kammermusiksaal noch stand).
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