Blaumüllernd: Musiktheater nach Schubert in der Staatsoper Unter den Linden

Alles Müllerin oder was? Franz Schuberts Zyklus Die schöne M. ist ja in seiner Monomanie auch die Untergangsgeschichte eines Psychoten oder zumindest wahnwitzigen Solipsisten, ihrer partiellen Vervolksliedung zum Trotz. Die Tiroler Musicbanda Franui folklorisiert seit dreißig Jahren das Kunstvolle und verkunstet das Folkloristische. Also könnten sie genau die Richtigen für Schubert sein. Seit einem Franui-Stück vor einigen Jahren in den Sophiensälen habe ich übrigens das Thema von Schumanns Geistervariationen als ewigen Ohrwurm, zugegeben auch etwas gespenstisch, ja psychopathisch … Den psychotischen Zustand des Müllergesellen lässt die Franui-Verbühnung von Schuberts Liederzyklus an der Staatsoper Unter den Linden auch durchaus gelten. Allerdings hebt der Bariton Florian Boesch als gemeinsame Kernthese hervor, dass der durchdrehende Ichling der Schönen Müllerin sich am Ende keineswegs im lieben Bächlein ertränke (was ja irgendwie auch eine eigenartige Vorstellung ist), sondern liebeskummergeheilt und wiedervernunftet aus der ganzen Chose hervorgehe (was wiederum ein bissl ernüchternd positiv ist).

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Zephyrisch: Michael Spyres und Il pomo d’oro

Nein, am betrüblichen Deckenteilsturz im Foyer ist nicht der Sänger schuld, jener Baritenor, der die scheinbar natürlichen Obergrenzen seines Stimmfachs sprengt. Auf dem Weg zu Michael Spyres im Kammermusiksaal passiert der Konzertgänger eine weiträumige Absperrung neben der Treppe, an die noch Putzstücke angelehnt sind. Ein Glücksfall, dass das nicht in Andrangzeiten herunterfiel, in Zeiten des ohnehin grassierenden Abonnentenschwunds. Aber wie gesagt, der Sänger ist unschuldig. Nach dem Konzert wird er noch erzählen, dass er als junger Mann, der aus Missouri kam, auch als construction worker arbeitete. Doch dass er sich auch noch des Berliner Konzertsaalverfalls annähme, wäre zu viel verlangt. Denn an diesem Abend hat der Hochkunstschwerstarbeiter Spyres (am Vortag sang er noch in Antwerpen, am Vorvortag in London!) genug Außerordentliches geleistet.

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Löwenherzig bis engelsschwarz: Leonkoro, Chiaroscuro und Kronos Quartet

Manchmal geht mir das Licht auf, dass wir in Berlin wirklich im Streichquartett-Paradies leben. Zum Beispiel, wenn an drei aufeinanderfolgenden Abenden drei vorzügliche, dabei vollkommen unterschiedliche Quartette zu erleben sind: Dem Leonkoro Quartet gehört vermutlich die Zukunft, jedenfalls viel davon. Das Kronos Quartet ist Legende, aber längst noch nicht Geschichte. Und das Chiaroscuro Quartet schafft mit seinem historisch info- und affirmierten Ansatz höchste Präsenz.

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Spinettriesig: erst Grigory Sokolov, dann Lugansky, Gerzenberg, Grosvenor beim Klavierfestival

Der sanftspinettige Virtuose und seine Jünger

Sanfter Spinettismus statt Virtuosengepranke, das sich in der heurigen Auflage des alljährlichen Grigory-Sokolov-Besuchs in Berlin nur einmal nebenher ereignet, aber nein, auch da ohne Gepranke, nur virtuos oder eben meisterlich: bei einer konzentriert hinbrillierten Rachmaninow-Zugabe, dem Prelude op. 23/2 als einem jener stets sechs Encores des dritten Konzertdrittels, in dem das Sokolov-Ritual erst seine Erfüllung findet. Die anderen sind zweimal Rameau (Les sauvages und Le Tambourin), zweimal Chopin (Prélude 28/15 und Mazurka 63/3) sowie einmal Bach (BWV 855a) im vollfülligen, dennoch faszinierenden Siloti-Ornat.

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Walpurgisch: Juraj Valčuha und Saleem Ashkar im Konzerthaus mit Ravel und Berlioz

Idée fixe umarmt Komponist

Das vielbeachtete Berliner-Philharmoniker-Debüt von Klaus Mäkelä letzte Woche habe ich bewusst ausgelassen. Denn der Auftritt des dirigentischen Jungwunders im vergangenen Herbst mit dem Concertgebouw-Orchester, dessen designierter Chef Mäkelä ist, hinterließ bei mir zwiespältige Gefühle sowie den Eindruck, dass diesem Hochbegabten etwas weniger steiler Rummel besser täte. Ein fast doppelt so alter, aber noch immer sehr jugendlich wirkender Dirigent, dem ich hingegen eher mehr Aufmerksamkeit wünschte, ist der Slowake Juraj Valčuha. Als erster Gastdirigent des Konzerthausorchesters tritt er regelmäßig am Gendarmenmarkt auf. So auch in den letzten Tagen dieses Aprils.

Rund ums Schloss Bellevue singen schon überall die Nachtigallen, und am Spreeufer Höhe Paul-Löbe-Haus wird wieder argentinischer Tango getanzt, wenngleich noch bei eher feuerländischen Temperaturen. Dazu Ravel und Berlioz im Konzerthaus, das ist alles schon wie gemacht für einen glücklichen Abend.

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Unabgenudelt: Klavierabende mit Pogorelich, Kanneh-Mason, Pletnev

Konzertgänger beim pianistischen Nudelverzehr

Drei völlig unterschiedliche Klavierabende in den vergangenen drei Monaten: zwei ältere Herren, eine junge Frau. Im Februar spielte Ivo Pogorelich (den gibt es noch?) im Großen Saal der Philharmonie. Gestern Abend Mikhail Pletnev (was, den gibt es auch noch?) ebenda. Und dazwischen im März im Kammermusiksaal Isata Kanneh-Mason (kennen Sie die schon?).

Obwohl ich Pogorelich und Pletnev eben in einem schnöden Atemzug unter „zwei ältere Herren“ (beide sind Mitte 60) subsummierte, lässt sich nichts Gegensätzlicheres vorstellen als ihre beiden Auftritte. Und das, obwohl ihre Programme sich in drei gewichtigen Werken überschnitten, und zwar alle von Frédéric Chopin: Fantaisie f-Moll Opus 49, Barcarolle Fis-Dur Opus 61, Polonaise-Fantaisie As-Dur Opus 61. Spätwerke mithin. Aber hörte man sie bei dem einen, waren sie bei dem anderen nicht wiederzuerkennen, und umgekehrt.

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Wiederaufnahme Korngolds „Das Wunder der Heliane“ an der Deutschen Oper

Während professionelle Kritiker sich mit der offenbar ziemlich vereisten Strauss-Rarität Daphne an der Staatsoper Unter den Linden auseinandersetzen müssen, kann man sich als ungebundener Empfindungsausdrücker einer anderen Rarität zuwenden: An der Deutschen Oper Berlin wird Erich Wolfgang Korngolds Mysteriumsschocker Das Wunder der Heliane wiederaufgenommen. Der Genuss dieses Werks von 1927 wird zugegebenermaßen durch zwei Handicaps getrübt, aber nicht vergällt. Denn seine üppigen Reize sind dennoch im besten Sinn betäubend.

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Ordnend: Quatuor Diotima spielt Ligeti & Janáček, Berliner Philharmoniker mit Alan Gilbert

Unordnung greift nach dem modernen Künstler (Symbolbild)

Muss das ein Vergnügen sein: einen ganzen Abend lang nur Leoš Janáček und György Ligeti zu spielen, zwei der tollsten Komponisten, wo überhaupt gibt unter Gottes weitem Ohr. Das französische Quatuor Diotima gönnt sich, und dem Publikum. Und zeigt damit (nach Bertrand Chamayous Klavierabend) noch einmal, dass bei der Halb-Ligeti-halb-ganz-anderes-Biennale der Berliner Philharmoniker die stringentesten Beiträge im kleineren Rahmen stattfinden.

Vor ein paar Tagen im DSO-Konzert, wo es Ligeti + Haydn + Haydn + Ligeti gab, ließen mich die entfesselten Huster an ein Weltraummonster denken, über das der Held in Ian McEwans Zementgarten liest – Captain Hunt soll das Monster zur Strecke bringen! Nun, bei György Ligetis zweitem Streichquartett kam mir in den Sinn, wie ebenjener Captain Hunt in seinem Raumschiff für Sauberkeit sorgt:

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Vielbödig: DSO und Ticciati spielen Haydn & Ligeti

Ein Konzept! Hach! Programm-Architektur! Nach zwei Biennale-Konzerten der veranstaltenden Berliner Philharmoniker mit viel Schönem, aber wenig Zusammenhang präsentieren Robin Ticciati und „sein“ Deutsches Symphonieorchester die Festival-Hauptfigur György Ligeti in einer ausgeklügelten Dramaturgie. Das ist umso erfreulicher, als Ticciatis programmatische Einfälle zwar oft höchst ambitioniert sind, aber es in der Praxisprobe dann manchmal klappert. Hier jedoch knackt’s: Haydn + Ligeti + Haydn + Ligeti + Ligeti + Haydn. (Nur ein Knall wird dann fehlen.)

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Biennale 2: Bertrand Chamayou spielt Klavier, Pintscher dirigiert die Philharmoniker

Rein staturmäßig passt auch König Ubu ideal in die 50er Jahre…

Einen Lapsus der Biennale der Berliner Philharmoniker bügelt (48 Stunden vor deren zweitem Konzertprogramm, dazu unten mehr) der französische Pianist Bertrand Chamayou beiläufig aus, zumindest ein bisschen: Seine erste Zugabe ist eine stupende Etüde von Unsuk Chin. Und die ist nicht nur Schülerin von György Ligeti, der im Mittelpunkt der Biennale steht, sondern auch eine jener ominösen Frauen, deren Fehlen als Komponistinnen im zweieinhalbwöchigen Festivalprogramm hier oder auch hier bemängelt wurde. Ansonsten hat der lässige Zuschnitt der Biennale zu den 1950ern und 60ern, sehr weit um Ligeti herum, sein Gutes wie sein Schlechtes. Thematisch geht es bis zu Heimatfilmen und Architekturavantgarde, auch Chansons mit Tim Fischer gibt’s. Das ist schön in der Abwesenheit von Berührungsängsten, aber es dräut auch Ein-Kessel-Beliebiges-Risiko, für ein wirklich kuratiertes Programm fehlen manchmal (außer Frauen) Pointierung und stringente Bezüge. In Chamayous imposantem Soloabend im Kammermusiksaal ist genau das aber da.

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Berliner Philharmoniker mit Daniel Harding spielen Ligeti und Nasses

Lontano wäre die ideale Eröffnung der zweieinhalbwöchigen Biennale, die die Berliner Philharmoniker der Musik der 1950er und 60er Jahre widmen und deren Schwerpunkt György Ligeti ist – längst ein Klassiker wie Beethoven und Brahms, jawohl. Mit dem langen Ton eines unbekannten Instruments beginnt Ligetis Lontano von 1967, beim Hinsehen entpuppt es sich als Zusammenklang von Flöten und Celli. Und dann umhüllt und umkapselt die Musik den Hörer, trägt ihn in mikropolyphone Milchstraßen, ein Echtraumerlebnis und Echttraumerlebnis, wie es nur im SAAL möglich ist. (Hier eine lesenswerte Lontano-Einführung von Martin Hufner.)

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Ultraschall Tage 3 bis 5

Trio Accanto und Zafraan Ensemble im Heimathafen, Ensemble Resonanz im silent green

Erfreulich wenig Rede beim diesjährigen Ultraschallfestival für neue Musik von Trends, Tendenzen etc. (es gehe neuerdings wieder zum Politischen/zum Subjektiven/zum Popjektiven usw). Das hat immer so etwas Bemühtes, zumindest im Blick auf die laufende Gegenwart. Stattdessen unterschiedlichste Musik, viel Reizvolles, zwischendurch etwas Ratlosigkeit, und zum Ende zwei mich begeisternde Werke italienischer Komponistinnen.

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Ultraschall-Festival 1. und 2. Tag

Konzerte des DSO, des RSB und des SWR-Experimentalstudios

Mit zwei vielseitigen, teils prachtvollen Orchesterkonzerten sowie einem interessanten elektronischen Spätabendtermin eröffnet das diesjährige Ultraschall-Festival für neue Musik, endlich wieder in halbwegs normalen postpandemischen Umständen. Man geht einfach so ins Charlottenburger Haus des Rundfunks. Auf dem Programm am Mittwoch und Donnerstag stehen beim Deutschen Symphonie-Orchester (kurz DSO) und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) sage und schreibe acht verschiedene Komponistinnen; Männer sind mitgemeint. Dabei stehen die beiden Werke, die mich am wenigsten interessieren, an den gegensätzlichen Enden der Skala heutigen Komponierens – hier Autoreferenzialität der Musikgeschichte, dort explizites Engagement hinaus in die Welt.

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Wiederaufnahme „Oceane“ an der Deutschen Oper

Wenn Sie die Uraufführung des Jahres von 1853 sehen wollen, müssen Sie nicht unbedingt in die nächste Vorstellung rennen; ebensowenig, wenn die Uraufführung des Jahres von 1865 Sie interessiert. Bei der Uraufführung des Jahres 2019 könnte das schon anders aussehen. Denn La Traviata und Tristan und Isolde wird es auch in Zukunft ständig und überall geben. Aber Detlev Glanerts Oceane, die im Januar insgesamt dreimal an der Deutschen Oper Berlin gespielt wird, nicht unbedingt. Wobei man sagen muss, dass die erste dieser drei Vorstellungen (insgesamt die sechste seit der Premiere 2019) überraschend gutbesucht war.

So dass es vielleicht doch noch eine Berliner Zukunft für diese schöne Produktion geben wird?

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Feurig: Alexei Lubimov und Viktoria Vitrenko führen Schubert und Silvestrov auf

Für die ersten Berliner Konzerte nach ein paar Monaten im Rheinland (mehr dazu hier) gilt es, unbedingt auf sichere Banken und Bänke zu setzen! Neben einer sehr schönen Mahler-Dritten mit Iván Fischer kürzlich im Konzerthaus ist das etwa der originelle Klavier-Altmeister Alexei Lubimov. Er tritt zusammen mit der Sopranistin Viktoriia Vitrenko im Pianosalon Christophori auf, oben im Wedding. Lubimov, Jahrgang 1944, kommt noch aus der großen russischen Pianistentradition (Schule von Heinrich Neuhaus), hat sich aber ziemlich untypisch für diese schon vor langer Zeit der avantgardistischen Musik und mehr noch der Wunderwelt der historischen Instrumente zugewandt. Im VAN Magazin erschien vor einigen Jahren ein sehr interessantes Interview mit diesem besonderen Musiker.

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