Unabgenudelt: Klavierabende mit Pogorelich, Kanneh-Mason, Pletnev

Konzertgänger beim pianistischen Nudelverzehr

Drei völlig unterschiedliche Klavierabende in den vergangenen drei Monaten: zwei ältere Herren, eine junge Frau. Im Februar spielte Ivo Pogorelich (den gibt es noch?) im Großen Saal der Philharmonie. Gestern Abend Mikhail Pletnev (was, den gibt es auch noch?) ebenda. Und dazwischen im März im Kammermusiksaal Isata Kanneh-Mason (kennen Sie die schon?).

Obwohl ich Pogorelich und Pletnev eben in einem schnöden Atemzug unter „zwei ältere Herren“ (beide sind Mitte 60) subsummierte, lässt sich nichts Gegensätzlicheres vorstellen als ihre beiden Auftritte. Und das, obwohl ihre Programme sich in drei gewichtigen Werken überschnitten, und zwar alle von Frédéric Chopin: Fantaisie f-Moll Opus 49, Barcarolle Fis-Dur Opus 61, Polonaise-Fantaisie As-Dur Opus 61. Spätwerke mithin. Aber hörte man sie bei dem einen, waren sie bei dem anderen nicht wiederzuerkennen, und umgekehrt.

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Fremdwohlwollend: Chiaroscuro Quartett spielt Fanny Hensel, Haydn, Schubert

Komponistinnen! In der Gegenwartsmusik mags nicht ideal, aber besser aussehen, doch im klassischen Kanon bleibts heikel. Im Clara-Schumann-Jahr könnte man sich fragen, warum alle Welt diese Künstlerin Clara zu nennen sich erlaubt (niemand würde von Robert oder Johannes sprechen). Die verdienstvolle Arbeit des seit 40 Jahren arbeitenden Frankfurter Archiv Frau und Musik wurde kürzlich von der örtlichen FDP torpediert. Und im VAN Magazin beginnt dieser Tage eine Serie, in der 250 Komponistinnen vorgestellt werden. Den Namen Fanny Hensel aber kennt jeder, kaum jedoch Hensels Musik. Es sei denn, man ist bei dem unbedingt hörenswerten Chiaroscuro Quartett im Pierre-Boulez-Saal dabei.

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14.11.2015 – Ausdauernd: Mandelring Quartett zelebriert stundenlang Mendelssohn

Erstens: Vive la France!

Zweitens: Darf man den Abend nach einer Nacht des Schreckens im Streichquartett-Elysium verbringen? Aber man hört ja auch himmlische Kammermusik und göttliche Symphonik, während syrische Familien von Fassbomben ausgelöscht werden, Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und Bomben in Beirut explodieren. Der Name Mendelssohn steht für alles, was die Attentäter von Paris zerstören wollen: Lebensfreude, Wissbegier, Sanftmut, Liebe, Schönheit, Menschlichkeit. So ist es kein hilfloser Akt der Anteilnahme, sondern ganz passend, wenn das Mandelring Quartett das letzte Stück des Abends, von Felix in Trauer um seine gestorbene Schwester Fanny komponiert, den Opfern in Paris widmet.

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Es ist der Ausklang des Mendelssohn pur-Wochenendes, das Freitagabend mit den beiden Streichquintetten begann. Als eigentliche Herausforderung für Hörer wie Musiker gibt es am Samstagabend alle sieben Streichquartette von Felix Mendelssohn Bartholdy – ein Streichquartettabend in Lohengrin-Länge ist sogar in Berlin etwas Besonderes. Im Radialsystem V ist man regelmäßig schon bei Konzertbeginn geschlaucht, das lange Anstehen und Hineindrängeln hat easyjet-Flair; der Ort bliebe auch cool, wenn man kulturspießig die Plätze nummerieren würde. (Man muss ja nicht gleich so weit gehen und die Sitze polstern; der Nachbar des Konzertgängers, ein älterer Herr, hat sich ein Sitzkissen mitgebracht, daran erkennt man den Profi.)

Im ersten Teil des Konzerts gibt es die drei frühen Streichquartette Es-Dur ohne Opus, a-Moll op. 13 und Es-Dur op. 12 (1823, 27, 29). Logischerweise wiederholen sich die kompositorischen Mittel und Strukturen, aber man hört Mendelssohn ja nicht, weil er die Formen neu erfunden hätte. Im Gegenteil, in diesen im Alter zwischen 14 und 20 komponierten Werken spürt man den Segen der festen Form, in die ein hochbegabter Geist sich ergießen kann, statt erst einmal jahrelang um Form zu ringen. Faszinierend ist der oft barocke Sound dieser Stücke mit ihren vielen Fugati. Die eingängigen Mittelsätze, liedhaft und funkensprühend, erleichtern natürlich den Start in den Marathon. Der langsame Satz des a-Moll-Quartetts ist erschütternd intensiv für einen doch erst 18jährigen Komponisten. Das ebenso großartige Vogler Quartett hat dieses Stück mit seinem wehmütigen langsamen Rahmen vor einer Woche im Konzerthaus ergreifend gespielt; das Mandelring Quartett geht die Mittelsätze grundsätzlich schneller an, ohne romantische Breite, aber auch frei von klassizistischer Glätte, mit traumhaft singendem Ton zumal der ersten Geige (Sebastian Schmidt). Aber im Grunde ist es ungerecht, einen einzelnen hervorzuheben. Obwohl Andreas Willwohl an der Bratsche (als Leber des Quartetts, wie er sagt) erst im Sommer zu den drei Geschwistern Schmidt dazugestoßen ist, hat das Quartett eine homogene Spielkultur, als wäre es schon ewig in dieser Besetzung unterwegs.

In den brillanten drei Streichquartetten op. 44 D-Dur, e-Moll und Es-Dur könnte die perfekte Sonatenhauptsatzform der Rahmensätze den Hörer in Sicherheit bis Schlaf wiegen, aber das Mandelring Quartett musiziert sie (mit allen Wiederholungen) so feurig, dass daran nicht zu denken ist. Sollte sich an den Hörer der Gedanke an eine Bulette o.ä. heranschleichen, so verscheuchen ihn die himmlischen Arabesken der ersten Geige in Menuett und Andante des D-Dur-Quartetts oder die Coda des e-Moll-Quartetts, in der die Fetzen fliegen – aber sowas von konzis. Machen die Mandelrings gar nicht schlapp? Jedenfalls spielen sie länger präzise als das Ohr des Konzergängers präzise hört. Mag auch dieser und jener Hörer auf dem harten Stuhl herumrutschen, so verrutscht den Musikern kein Strich.

Und der Großteil der Hörer bleibt bis zum Schluss, gebannt bis berauscht. Das Streichquartett f-Moll op. 80 (1847), ein kammermusikalisches Requiem für Fanny, öffnet jeden Geist, der zwischendurch dichtgemacht hat: voll Zittern und Zagen und erschütternder Schreie, die fast die Form sprengen – aber nur fast, denn was dem jungen Komponisten den schöpferischen Absprung ermöglicht, gibt angesichts des Todes Halt: Form. Vom Mandelring Quartett bis kurz vor Mitternacht in nicht nachlassender Präzision zelebriert.

Nächstes Jahr spielen sie alles von Brahms.

Zum Konzert. Zum Mandelring Quartett. Zur Mendelssohn-CD des MQ.

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