Löwenherzig bis engelsschwarz: Leonkoro, Chiaroscuro und Kronos Quartet

Manchmal geht mir das Licht auf, dass wir in Berlin wirklich im Streichquartett-Paradies leben. Zum Beispiel, wenn an drei aufeinanderfolgenden Abenden drei vorzügliche, dabei vollkommen unterschiedliche Quartette zu erleben sind: Dem Leonkoro Quartet gehört vermutlich die Zukunft, jedenfalls viel davon. Das Kronos Quartet ist Legende, aber längst noch nicht Geschichte. Und das Chiaroscuro Quartet schafft mit seinem historisch info- und affirmierten Ansatz höchste Präsenz.

Löwenherz bedeutet das Esperanto-Wort Leonkoro, das ist mal ein origineller Name für ein Quartett. Seit 2019 besteht das Leonkoro Quartet, kaum der Universität entflogen, gehypet, für nächstes Jahr schon von den Berliner Philharmonikern eingeladen, jetzt noch beim schnieken Musikfestival Crescendo der Universität der Künste zu hören. Dass Krümel kein abwertender Name ist, wissen Brüder-Löwenherz-Leser, das gilt auch für Anton Weberns Langsamen Satz für Streichquartett, vor Opuszählung entstanden, Krümel des Gesamtwerks ebenso wie des deutlich erkennbaren Vorbilds Verklärte Nacht. Auch bei Joseph Haydns Streichquartett C-Dur Hob. III:39 und bei Maurice Ravels Streichquartett F-Dur ist die Intensität der Löwenherzen hoch, dabei niemals schablonenhaft, und die Klangbalance exzellent – bei Ravel auch das, was man gern „delikat“ nennt. Im Trio des Haydn-Quartetts ist jene Spieluhrhaftigkeit spürbar, die ans Festival-Motto Mensch, Maschine! Musik! denken lässt. Und im Schlusssatz des Ravel spult das vif et agité so „fertig“ ab, dass es stupend ist. Die beiden tiefen Streicher setzen den Geigen viel Eigengewicht entgegen: Die Bratschistin Mayu Konoe hat einen besonders schönen Ton mit geschlossenen Augen, während der Cellist Lukas Schwarz (der vom Publikum aus wie das Herz des Ensembles wirkt) gern seinen Tönen in die Höhe nachblickt.

Im Flageolett, in den Pianissimi zeigen die Musiker wirklich Löwenherzen, Mut zum Risiko. Schon aus pädagogischen Gründen soll man ja nicht nur begeistert sein, sondern als Hörer auch Fragezeichen anbringen: Und da wäre für mich noch offen, wie dieses Quartett, dessen Klang bei aller Intensität bemerkenswert weich ist, wohl mit den für ein Quartett unvermeidlichen Beethoven oder Bartók zurande kommen wird. Im Kammermusiksaal 2024 werden erstmal Haydn, Wolfgang Rihm und Schumann auf dem Programm stehen.

Die Option auch des Ruppigen, Schroffen hat das Chiaroscuro Quartet schon (aber eben nicht nur) qua Material, Darmsaiten etcetera pipapo. Sogenannter Originalklang ist bei Solisten wie größeren Ensembles mittlerweile verbreitet, im Quartettbereich dagegen seltsamerweise eine Rarität. Der Ton der Chiaroscuri, die im Pierre-Boulez-Saal auftreten, hat stets jenen Stachel, der dem Cello von Claire Thirion a causa di storicitá fehlt. Franz Schuberts Quartettsatz c-Moll D 703 schüttelt durch, „später“ Schubert in einem Satz, quasi nucleus. Die Übergänge und Umschwünge gelingen bestens.

Wie Schuberts Einzelsatz hat auch Beethovens f-Moll-Quartett Opus 95 etwas von Solitär, weit weg vom Sixpack des Opus 18 und den anderen Vorgängern, ebenso weit weg vom einzigartigen Spätwerk. Aber wir wissen als heutige Hörer natürlich beim Opus 95 von den unendlichen Schönheiten, in die es im Spätwerk, statt in den aufklaffenden Abgrund, gehen sollte. Nicht manisch-depressiv wirkt 95, eher cholerisch-seelenvoll und durchaus den Hörer durchwalkend. Freunde des Artemis- oder Ebène-Klangs mögen finden, es schrubbe hier bisweilen gar gewaltig. Aber es entstehen, etwa im zweiten Satz, eben auch jene Momente, in denen, ich möchte fast sagen: das Physische und das Ätherische verschmelzen wie anderswo kaum möglich.

Der Abend rundet sich mit Felix Mendelssohns Streichquartett a-Moll Opus 13, diesem besonders schönen und absolut verblüffenden Werk eines 18jährigen, der große Zusammenhänge und Bezüge stiftet und darin immer wieder betörende Momente erschafft. Was beim Chiaroscuro Quartet aber auch gelegentliche Unwucht bringt, ist die Tatsache, dass der Ton der unbestrittenen ersten Geige Alina Ibramigova, einer Musikerin allerersten Ranges, jederzeit weitaus müheloser und weitaus brillanter klingt als der Rest des guten Ensembles.

Wie das Leonkoro Quartet spielt auch Chiaroscuro im Stehen (außer dem Cello natürlich); doch während jene ganz Jungen traditionell im Papierwust blättern, musizieren die Historischkundigen aus dem Tablet. Das tun auch die alten Haudegen des Kronos Quartet, ebenfalls im Boulezsaal im Rahmen eines Streichquartette-Schwerpunkts, sogar als deren Haupt-Act mit mehreren Terminen. Und weil alle Stücke des Samstagabend-Programms zwischen 1970 und 2010 entstanden sind, ist außer Tablets nun auch noch jede Menge Gerödel auf der Bühne, vom Kabelsalat bis zum Tamtam, auch halbvolle Wasserharmoniegläser, die zunächst lange von spannungssteigernden schwarzen Tüchern verdeckt sind … Im Übrigen könnte man fragen, ob der Begriff Quartett angesichts der Rolle von Sounddesign (Scott Fraser) noch ganz exakt ist; aber sei’s drum.

Viele US-amerikanische Fans aus den akademischen und kreativen Ständen sind im Publikum, die Männer gelegentlich mit Röcken oder mit Bärten wie TC Boyle. Das Kronos Quartet ist im besten Sinne westküstig. Zwischen Andacht und Klangtherapie bewegt sich der erste Teil des Programms. In mir ruft er tiefes Behagen hervor, was gar nicht maliziös gemeint ist. Die Triangel des zweiten Geigers im Mugam-Sayagi der aserbaidschanischen Komponistin Franghiz Ali-Zadeh verdächtige ich zunächst als Handy irgendwo im Publikum. Sofia Gubaidulina ist auch zu hören; und wenn es in Michael Gordons eingängigem Clouded Yellow über weichem Dauerimpuls dauersqueecht, könnte ich mir gut einen amerikanischen Independentfilm dazu vorstellen, irgendwo in Oregon, etwas von Kelly Reichardt oder frühem James Grey. Terry Rileys 2002 im Auftrag u.a. des NASA-Art-Programms entstandenes One Earth, One People, One Love hat für mich dagegen mehr und Zweifelhafteres von kalifornischer Kunstkonfektionsware.

Was nicht fehlen darf, ist gewissermaßen das Ur-Stück des Kronos Quartets, sein Gründungsgrund: George Crumbs Black Angels von 1970. Das ist mit seinen krassen Kontrasten nun dramatisch ein anderes Kaliber als der Rest des Programms. Zwischen Schrammelattacken und Rasselschwingen fliegt dem ersten Geiger David Harrington schon mal der Knopf aus dem Ohr – im Tod und das Mädchen-Zitat an der Grenze zur Unhörbarkeit hingegen uns, dem Publikum, das Herz aus der Brust. In dieser Musik, entstanden dreizehnteilig „in tempore belli“ (wie Crumb vermerkte), geht es um alles. Die vier Herren musizieren auf Socken. Und auch wenn über erwähnte Rasseln oder Siebziger-Jahre-Silbenschnalzen die Zeit durchaus hinweggegangen sein mag, bestätigt vielleicht eben das: Crumbs Black Angels gehören zur Musikgeschichte, wie das sehr lebendige Kronos Quartet.

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