Schneeflockdenkicht: Maurizio Pollini und Nathalia Milstein spielen Klavier

Holla die Schneefee, zwei große Namen sind das: Pollini und Milstein. Nur einer ist der echte, eine fast unverhoffte Wiederbegegnung mit Maurizio. Der andere ist in Wahrheit die andere, nicht Nathan natürlich, sondern Nathalia, und sie spielt auch nicht Geige, sondern ebenfalls Klavier – und ist schon ihr eigenes Original! Zwei sehr unterschiedliche, beides starke Klavierabende im Pierre-Boulez-Saal.

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Gratfunzend: DSO, Ticciati, Uchida spielen alles Mögliche

Wann ist ein Programm überprogrammiert? Robin Ticciatis Additionen beim Deutschen Symphonie-Orchester wandeln manchmal auf dem Grat zwischen thrilling und too matsch. Zwei Vorspiele und Liebestode rahmen das Programm in der Philharmonie, wobei die Vorspiele von Richard Strauss‘ Don Juan auf direktere Weise ejakulativ sind als Wagners. Zwangsvorstellung eines riesigen sich aufrichtenden Gemächts beim hochsausenden Thema der Sinfonischen Dichtung. Aber Ticciati erigiert das Tongebäude vorzüglich und prachtvoll.

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Arg: Zemlinskys „Zwerg“ an der Deutschen Oper

Himmelhochjauchzen à la berlinaise: nichts zu meckern heute. Wahrscheinlich ist das sogar die beste, rundeste Premiere der Saison an der Deutschen Oper. Besetzung hervorragend, Orchester gut in Schuss, Inszenierung schlüssig. Und das Werk, DER ZWERG von Alexander Zemlinsky, eine arge Angelegenheit im besten Sinn.

Und das, obwohl Tobias Kratzers Regie der Sache über die biografische Schiene kommt. Da könnte man an sich zweierlei fragen: Erstens allgemein, was einen das heute noch anginge, dass Zemlinsky nur einssechsundfuffzig war und eine Frau ihn mal hässlich fand. Zweitens konkret, ob die inszenierten Auftritte von Komponisten in ihren Opern nicht abgenudelt sind. Der arge Hallodri Wagner in Koskys Bayreuther Meistersingern blieb zuletzt in bestürzender Erinnerung – ebenfalls im besten, d.h. schlimmen Sinn.

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Seelfoppig: Petrenko und Kopatchinskaja bei den Berliner Philharmonikern

Analyse einer Zwölftonreihe (zeitgenöss. Darstellung)

Programm wie zum Adorno-Foppen: erst Schönberg, dann Tschaikowsky. Man kugelt sich vor Aussichtsfreude auf die kommenden Jahre bei dieser jüngsten Kirill-Petrenko-Verheißung bei den Berliner Philharmonikern – so toll ist das.

Von Anbeginn aktiven und konzentrierten Mitvollzug verlange Arnold Schönbergs Violinkonzert opus 36: So weist Adorno den Hörer zurecht (zitiert im lesenswert unverschraubten Einführungstext von Malte Krasting). Aber bei Patricia Kopatchinskaja wird die Philharmonie gottlob nicht zur geschlossenen Mitvollzugsanstalt. Es ist keine Interpretation für Merker mit Tabulaturen, die die Zwölftonreihen rauf, runter, rückwärts und im Sechseck gegen den Uhrzeigersinn verzeichnen. Sondern gestische Musik, klangtheatrig im besten Sinn. Schönberg aus dem Geiste des Pierrot; ein auch fürs Hören produktiver Ansatz.

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Brahms-Perspektiven zum Nullten

Schräger, lustiger, nerviger, ansteckender, am Ende umjubelter Aufgalopp zum Brahmsfestival des Deutschen Symphonie-Orchesters: Drei Ensembles verwursten die 3. Sinfonie zu einer „Klangpörformänz auf Basis von“. Statthaben tut die Chose im Weißenseer Theater im Delphi, dem Moka Efti aus der vielbekakelten Babylon Berlin-Serie, die auf mehreres Nachfragen hin ja doch nicht so dolle sein soll, so dass man vielleicht Lebenszeit gewonnen hat, wenn man sie verpasst hat. Wie stehts nun mit Gewinn und Verlust von Lebenszeit bei diesem Konzert?

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Ausbalancierend: Wiener Philharmoniker im falschen Konzerthaus

„Klassik hautnah“ ist ja eine zwiespältige Verheißung in Zeiten von Levine, Dutoit, Gatti & Co. Aber wenn die Wiener Philharmoniker auf Tuchfühlung kommen, geht alles ganz manierlich zu. Grab them by the Trommelfell, zart, nicht hart. Das Publikum sitzt ringsum und dicht dran im aus Wiener Sicht falschen Konzerthaus, dem berlinischen nämlich. Hier ist man ja, dank Iván Fischer, solche durcheinander gewürfelten mittendrin-Formate gewohnt. Das Programm 360 Grad Wiener Philharmoniker ohne Dirigent, dafür mit Johannes Maria Staud, John Cage und Arnold Schönberg ist mehr als ein Appetizer für den Konzerthaus-Schwerpunkt Hommage an die Wiener Philharmoniker im Dezember. Weiterlesen

Musikfest 2018: Isabelle Faust & Friends verklären, Benjamin fängt nicht so recht

Gibt es irgendein Stück, das in nachgeschobener Orchesterfassung schöner ist als im Kammer-Original?

Arnold Schönbergs Verklärte Nacht jedenfalls nicht. Selbst wenn die ursprüngliche Sextettfassung nicht in solcher Luxusbesetzung aufgeführt würde wie im Kammermusiksaal beim Musikfest Berlin. Dass Isabelle Faust sich hier als prima inter pares gerierte, steht nur auf dem Programmzettel (Isabelle Faust & Friends), tatsächlich ist sie pars inter primas et primos. Prima Verklärung, die den Hörer fängt. Diesen Fängern folgt man gern, da ertrinkt keine Nuance.

Der unvergleichliche Wert der Streichsextettfassung zeigt sich schon in den ersten, wie aus dem Nichts sich herausdämpfenden Bratschentönen von Danusha Waskiewicz. Weiterlesen

Nutzenfreudig: DSO-Saisonvorschau und Konzert mit Ticciati und Aimard

Woche im Zeichen des Deutschen Symphonie-Orchesters: erst die Vorstellung der kommenden Saison 2018/19, dann ein so verknapptes wie ausschweifendes Konzert mit Chefdirigent Robin Ticciati und dem Pianisten Pierre-Laurent Aimard. Am Abend eines dieser Qual-der-Wahl-Sonntage, an dem auch das RSB ein hochinteressantes  Totentänze-Konzert gab und es im Konzerthaus von früh bis spät brahmste. Weiterlesen

Zumutig: Silvesterkonzert mit RSB, Rundfunkchor, Vladimir Jurowski

Beflügeltes Jahresendkonzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin und des Rundfunkchors, mit dem der Chefdirigent Vladimir Jurowski seinem Publikum im Konzerthaus einiges zutraut und einiges zumutet.

Gut so! Denn eine zumutungsfreie Neunte ist die eigentliche Zumutung. Nicht nur montiert Jurowski (wie vor 40 Jahren Michael Gielen in Frankfurt) Arnold Schönbergs A Survivor from Warsaw mitten in Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie d-Moll hinein. Er spielt überdies den Beethoven-Remix von Gustav Mahler, der für seine eigenen Aufführungen spätromantische Orchesterretuschen an den Sinfonien verübte. Historisch informierte Aufführungspraxis mal anders, aber sowas von. Weiterlesen

Nachtrund: Quatuor Ebène, Tamestit, Altstaedt spielen Noctürnliches

Genau das richtige Programm, wenn man die vorhergehende Nacht kein Auge zugetan hat, wie der Konzertgänger. Aber nicht deshalb richtig, weil man beim Quatuor Ebène so gut schlafen könnte! Sondern weil man für dieses von nächtlichen Stimmungen und Erlebnissen inspirierte Programm in einer gesegneten Rezeptionssituation ist: Keinen hellen Verstand erfordernden Haydn oder Beethoven oder Brahms gibts im Kammermusiksaal, sondern tiefere Formen von Wachheit – Sciarrino und Dutilleux, Night Bridge und Verklärte Nacht. Weiterlesen

Fein- bis überdimensioniert: Vladimir Jurowski beim RSB mit Isang Yun, Schönberg, Nono und Gustav van Beethoven

Verdient auch mal festgehalten zu werden: Von allen Berliner Orchester liefert allein das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin einen nennenswerten Beitrag zu einem der diesjährigen Themenschwerpunkte des Musikfests: Neben „Monteverdi 450“ ist das nämlich Isang Yun 100. Mit einem bedeutenden Werk des deutschkoreanischen Komponisten (1917-1995) eröffnet das RSB sein Konzert in der Philharmonie: und zwar nicht irgendeins, sondern sein Saisoneröffnungkonzert und das Antrittskonzert seines neuen Chefdirigenten Vladimir Jurowski. Es ist der Abschluss eines Isang Yun gewidmeten Tages und zugleich das Eingangstor zu einer wüst-genialen Programmmischung, wie Jurowski sie offenbar liebt: von Arnold Nono bis zu Gustav van Beethoven. Dafür muss man Jurowski zurücklieben. Weiterlesen

8.1.2017 – Vollendet: Janine Jansen & Co spielen Korngold, Berg, Schönberg

emotionheaderMittags Rodeln, abends  Schönberg. Tagsüber ruft der Schnee in den Park, am Abend Spectrum Concerts in den Kammermusiksaal. Das ist die interessanteste, vielfältigste, immer hochklassige, kurzum: wohl beste Kammermusikreihe, die es in Berlin gibt. Nur Star-Appeal fehlt meistens, so dass der Saal manchmal halbleer ist und die Reihe seit Jahren immer mal wieder ums Überleben kämpft.

An diesem Abend ist jedoch ein Star dabei, darum ist der Saal nicht halbleer, sondern halbvoll: die niederländische Geigerin Janine Jansen, die Spectrum als ihre kammermusikalische Heimat bezeichnet. Unter den sechs Musikern des Abends ragt sie jedoch in keiner Weise heraus – was für Jansens kammermusikalischen Spirit spricht, aber natürlich auch für die Qualität der anderen.

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14.10.2016 – Frühunvollendet: Ein Abend für Lili Boulanger beim RIAS Kammerchor

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Nadia und Lili Boulanger

Eine  Rarität, mit der man keine Zuhörerfluten hinter dem Ofen hervorlockt, doch gerade deshalb um so wertvoller: Während Tugan Sokhiev und die Berliner Philharmoniker im ausverkauften Großen Saal kalorienreiche russische Kost auftischen, serviert der RIAS Kammerchor im Kammermusiksaal erlesene ätherische Klangdüfte, Chorwerke der fast vergessenen Lili Boulanger.

Vorzeitig ist kein Ausdruck für Lili Boulangers frühen Tod, mit ihr verglichen wurden Pergolesi, Mozart und Schubert steinalt: Sie starb 1918 im Alter von nur 24 Jahren. Ihre große Schwester Nadia hängte auch aus Ehrfurcht vor dem Werk ihrer unerreichbar talentierten Schwester das Komponieren an den Nagel und wurde eine der bedeutendsten Musikpädagoginnen des 20. Jahrhunderts. Sie berichtete von den Worten ihrer sterbenskranken Schwester während einer häuslichen Probe: Es ist komisch, jedermann wird diese Musik hören außer mir.

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15.9.2016 – Veränderlich: John Adams bei den Berliner Philharmonikern

Für das Bekenntnis, dass mir der Klang von Zwölftonmusik überhaupt nicht gefällt, wird heutzutage zum Glück niemand mehr vor den Darmstädter Wohlfahrtsausschuss zitiert. So kann sich der amerikanische Komponist John Adams (der das 2008 in seiner Autobiografie schrieb) ohne Gefahr für Leib und Leben ins Alte Europa begeben, um hier ein Jahr als Artist in Residence der Berliner Philharmoniker zu verbringen. 2012 war er bereits mit dem BBC Symphony Orchestra beim Musikfest zu Gast, um seine Oper Nixon in China konzertant aufzuführen.

Adams eröffnet sein erstes Konzert in der Philharmonie mit der dreiteiligen Harmonielehre (1985), deren Titel sich auf Arnold Schönbergs Buch von 1911 bezieht (hier eine lustige zeitgenössische Lobbuckelei des Schönbergianers Heinrich Jalowetz). Wunderbar, dieses berühmte Stück von Adams einmal live zu hören: nicht weniger als ein Hauptwerk des 20. Jahrhunderts, wenn man Alex Ross‘ Buch The Rest Is Noise folgt, Weiterlesen

30.5.2016 – Beginnend: Maurizio Pollini spielt Schönberg, Schumann, Chopin

YggdrasilAltmeister-Klavierabend im Zeichen des beginnenden Lebens: Im dritten Satz der Fantasie C-Dur von Robert Schumann schreit ein erwachendes Baby. Im Mittelteil des ersten Scherzos von Frédéric Chopin wiegt das polnische Weihnachtslied Schlaf, mein Jesulein, schlaf. Und als dritte und letzte Zugabe spielt Maurizio Pollini in der Philharmonie Chopins Berceuse Des-Dur op. 57, ohne jede Süßlichkeit, sondern glasklar und hellwach.

Das muss auch die Toten freuen, einem von ihnen ist das Eröffnungsstück gewidmet: In memoriam Pierre Boulez (der Name im Programmheft schmählich falsch geschrieben, Boulez hätte sich hoffentlich amüsiert) spielt Pollini Arnold Schönbergs Sechs kleine Klavierstücke op. 19 von 1911. Ein Teil des Publikums ist da noch im Plaudermodus, so dass ihm entgeht, wie konzentriert und verinnerlicht Pollini diese zarten Miniaturen spielt. Im Großen Saal der Philharmonie wirkt das, als schwebten winzige Perlen durchs unendliche Weltall mit seinen toten Steinen und Meteoritenhageln.

Wie ein Schauer aus Weltraumschrott ist der gutgemeinte, aber voreilige Applaus, mit dem einige Hörer das langsam getragene, durchweg leise zu haltende Finale von Robert Schumanns Fantasie C-Dur op. 17 von den beiden vorhergehenden Sätzen grob abschneiden. Doch den Sternenkranz, in dem Pollini über 12/8-Weben den abgedunkelten Klang der Melodie magisch lichtet, lässt dieser Fauxpas umso jenseitiger tönen. Dass dann ein irdisches Baby hineinschallt, hat im Finale einer so uferlosen Liebeserklärung, wie Schumann sie mit der Fantasie für Clara schrieb, eine gewisse Richtigkeit: eine höhere Form der Störung, die regelrecht zu Herzen geht. Robert_und_Clara_Schumanns_KinderGerade weil man weiß, wie es dieser großen Liebe in der kleinen Wirklichkeit erging.

Den schmerzlichen, eindringlichen ersten Satz spielte Pollini zuvor mit großer Emotion, die aus sachlicher, runder Phrasierung entstand. Auch wenn manches Detail etwas undeutlich wirkte und Pollinis Läufe (wie schon in Schumanns Allegro h-Moll op. 8) nicht mehr so perfekt sein mögen wie einst, scheint er nie die Versuchung zu jener Langsamkeit zu spüren, aus der Grigory Sokolov, der die Fantasie kürzlich am selben Ort spielte, seine äußerste Klarheit gewinnt.

Wie im Schlussgesang der Fantasie in der einzelnen Phrase, so öffnet sich Pollinis Klang insgesamt im Lauf des Abends, weg vom anfänglich leicht Verrauschten, Nervösen. Und so wie Pollini vornübergebeugt zum Flügel eilt, der Kopf schneller als die Füße, so stürzt er sich kopfüber in die durchrüttelnden Kaskaden von Frédéric Chopins Scherzo Nr. 1 h-Moll op. 20. Wo die Hände, obwohl Pollini beim Tempo keinen Kompromiss eingeht, dem Kopf zu folgen verstehen: Urväter Weisheit weiß ja, dass Pollini schon seit Erschaffung der Welt nach der Pause immer besser wurde. Aber die pianistische Übersicht und manuelle Kontrolle des 74jährigen in den jähen Entfesselungen dieses Stückes verblüffen trotzdem. Und das Wiegenlied fürs Jesulein mit seinen glöckchenartigen Nachschlägen könnte in diesem noch immer meisterlichen Tumult nicht herzzerreißender wirken.

Die Brillanz, zu der Pollini schließlich (nach vier klangschönen, in jedem Bogen hochdifferenzierten Nocturnes op. 55 und 62) im abschließenden Scherzo Nr. 3 cis-Moll op. 39 gelangt, hätte man bei aller vorauseilenden Bewunderung zu Beginn dieses Klavierabends nie und nimmer erwartet. Ein paar falsche Töne mag es geben, aber nichts zerfällt und nichts verschwimmt: Verklärung durch Genauigkeit in diesem schönsten aller Chopin-Scherzi.

Drei Zugaben: die c-Moll-Etüde op. 10, Nr. 12, die Ballade Nr. 1 g-Moll op. 23 und die erwähnte Berceuse Des-Dur op. 57.

Nach dem Konzert traut man seinen Augen kaum, Pollini steigt (ohne sich am Treppengeländer festzuhalten!) ins Foyer herab, um dort – kein Mensch bei Trost würde das von ihm verlangen – am CD-Stand Autogramme zu schreiben. Rührende Hingabe nicht nur an die Musik, sondern auch ans treue Publikum, wie unzulänglich es sich auch betragen mag. Man kann Maurizio Pollini nicht nicht bewundern.

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