Programm wie zum Adorno-Foppen: erst Schönberg, dann Tschaikowsky. Man kugelt sich vor Aussichtsfreude auf die kommenden Jahre bei dieser jüngsten Kirill-Petrenko-Verheißung bei den Berliner Philharmonikern – so toll ist das.
Von Anbeginn aktiven und konzentrierten Mitvollzug verlange Arnold Schönbergs Violinkonzert opus 36: So weist Adorno den Hörer zurecht (zitiert im lesenswert unverschraubten Einführungstext von Malte Krasting). Aber bei Patricia Kopatchinskaja wird die Philharmonie gottlob nicht zur geschlossenen Mitvollzugsanstalt. Es ist keine Interpretation für Merker mit Tabulaturen, die die Zwölftonreihen rauf, runter, rückwärts und im Sechseck gegen den Uhrzeigersinn verzeichnen. Sondern gestische Musik, klangtheatrig im besten Sinn. Schönberg aus dem Geiste des Pierrot; ein auch fürs Hören produktiver Ansatz.
Im Late Night-Konzert am Samstag, nach der dritten Aufführung des hier besprochenen Philharmonikerprogramms, wird der Pierrot dann im Mittelpunkt stehen:
Kopatchinskaja jongliert mit schillernden Motivkugeln, wirft sie ins Orchester und nickt zufrieden, wenn sie dort weiterhüpfen. Denn Solistin und Orchester sind sich sichtbar und hörbar einig in der Freude an Schönberg.
Fiedelige Elemente verschmäht Kopatchinskajas Pierrot-Witz mitnichten. Der Bogen hüpft manchmal, als wär die Geige elektrisch geladen. Es gibt muntere Rutschandi. Bei der quietschziselierten Kadenz des ersten Satzes hört und schaut Orchestervorgeiger Stabrawa der Kopatchinskaja zu wie ein wohlwollender Vater seiner überkandidelten, aber hochbegabten Tochter. Sie foppt und nervt in tiefem Ernst, am ernstesten ist sie, wenn sie am albernsten ist. Der zweite Satz ist von hinterhältiger Grazie. Im Finale lehnt Kopatchinskaja sich in den Marsch, mit breitbeinig-kopfpendelndem Ton, um dann die so ku- wie furios lostorkelnden Orchestergestalten zu betrachten, in denen bald auch verdrehte Militärtrommeln auftauchen. Orchester und Solistin belauern einander wie Sylvester und Tweety, ehe der Kater eine Weile zuschaut, wie das knallgelbe Vögelchen mit dem Riesenkopf durch die Luft von anderen Planeten flattert. Schließlich meldet der Kater sich mit einem großen Knall zurück. Und ab.
Das Schönbergkonzert hat eine ausgesprochen kurzweilige Wirkung, selbst im Bedrohlichen; auch wenn man die Themen nicht gerade im Pausenfoyer nachpfeift. Dennoch sind in diesem ersten Teil noch einige Plätze im ausverkauften Saal leer. Erstaunlich, wie der Name Schönberg noch immer den einen und die andere erschreckt. Na, besser als Reinhusten. Dennoch schade für die Schwänzer.
Als Zugabe spielen Kopatchinskaja und Klarinettist Andreas Ottensamer als Die drei lustigen Zwei (Helge Schneider) den klavierlosen dritten Satz Jeu aus Darius Milhauds Trio-Suite opus 157b.
Peter Tschaikowskys 5. Sinfonie e-Moll nach der Pause im nun wirklich ratzevollen Saal ist bei Kirill Petrenko, wie bestellt, perfekt und frei von Untertreibungen. Das eröffnende Klarigott-Schicksalsthema ist ein großes, schon endgültig scheinendes Ausatmen, der Kopfsatz ein überstürztes, bestürzendes Weg-von. Wie bestellt bricht uns das Herz, wenn im zweiten Satz auf dunklem Streichergrund das Horn (Johannes Dengler von der Bayerischen Staatsoper) ertönt. Und doch ist es weder kitschig noch pathetisch. Wie bestellt zerreißt es uns, wenn das Grauen wieder hereinbricht, ein durchkonzisiertes Riesendonnerwetter. Erneut entzücken Ottensamers Klarinette und, über allen anderen Holzbläsern heute Abend, das Fagott von Stefan Schweigert. Und wie bestellt nervt das tosende Finale und rührt doch maßlos in seinem lärmenden Glückwollen. Wo’s am dollsten strahlt und jubelpaukt, ist die Verzweiflung am größten. Das foppt die Seele wie bestellt.
Also, Herr Konzertgänger, wie geht’s Ihnen nach diesem Konzert?
Um Tschaikowsky muss man sich wohl keine Sorgen machen in den nächsten Philharmoniker-Jahren. Um Schönberg auch nicht. Höchstens um die Petrenko-Liebe des Publikums, die wirkt nämlich fast schon überstürmisch. Aber der Babo lässt Luft raus durch entspanntes Rein- und Rausschlendern und gechilltes Lächeln nach getaner Großtat. Im Publikum sitzen u.a. DSO-Chef Ticciati und Sir Boris Godunow.
Weitere Kritik: Schlatz, Tagesspiegel, Stagescreen und eine schönbergkundige Meta-Schwärmerei von Alban Nikolai Herbst. Und eine ganz vernünftige Aufforderung von Manuel Brug, ein bisschen runterzukommen von der Petrenko-Schwärmerei und vor allem dem teils damit verbundenen Rattle-Bashing (und unter den „hysterischen Japsern“ wird auch dieses Blog hier zitiert).
Zum Konzert. Noch zweimal am Freitag und Samstag, letzter Termin mit Digital Concert Hall und anschließender Pierrot lunaire-Late Night.
Ich muss dem Rezensenten heftig widersprechen, so scheußlich habe ich diese Sinfonie von Tschaikowsky noch nie gehört. Der warum auch immer gehypte Herr Petrenko vergewaltigt die Musik, brutal, wild und viel, viel zu schnell macht er Tschaikowsky fertig, dass man schon meinen muss, er hasse ihn. Wer meint, Tschaikowsky sei pathetisch, der solle besser die Finger davon lassen. Die Musik ist nun mal wie sie ist, man könnte auch sagen schwermütig, sehnsuchtsvoll. Aber nichts von alledem bei diesem höchst unmusikalischen Dirigenten! Und dann beherrscht er als Russe die Sinfonie noch nicht einmal auswendig! Oh Gott. Ich bekam physische Schmerzen. Einen schlechteren Chef hätten sich die Berliner nicht wählen können, sie hätten nach Rattle dringend jemanden gebraucht, der sie in ihrer Empfindsamkeit fördert, nicht noch ein größeres Krawall-Orchester aus ihm formt. Das ist der Niedergang.
Ihr konträres Urteil respektiere ich selbstverständlich, aber die Wortwahl („vergewaltigen“) erscheint mir maßlos.
Um nur auf einen einzigen Punkt einzugehen: Ob jemand auswendig oder nach Noten dirigiert, sagt m.E. überhaupt nichts über die Qualität des Dirigats aus.
Bei einem solchen Rundumschlag stellen sich mir einige Fragen. Zum Beispiel: Was bedeutet „gehypt“? Damit kann ja nicht gemeint sein, dass die meisten Orchester und Solisten und große Teile von Publikum und Presse das Musizieren dieses Dirigenten schätzen, sondern es wird insinuiert, dass irgend ein Marketing-Masterplan hinter dem Erfolg von K. P. steckt. Dieses Erfolgsrezept würde man gerne wissen, damit ließe sich ja offenbar einiges erreichen. So wie es anscheinend möglich wäre, einen „unmusikalischen“ Dirigenten in einige der begehrtesten Positionen der Branche zu hieven. Oder lugt hier vielleicht eine klitzekleine Verschwörungstheorie um die Ecke …? Zum zweiten: Hat man „als Russe“ eine größere Verpflichtung oder Begabung, Partituren von Tschaikowsky auswendig zu dirigieren, als Dirigenten anderer Nationalität oder Herkunft? Ich bin etwas ratlos, wohin es führt, wenn man diesen Vorwurf weiterdenkt. Am Ende landet man bei recht unerfreulichen Klischees, und da wollen wir ja wohl alle miteinander lieber nicht hin. Und wo wir schon bei russisch sind: Jewgeni Mrawinsky hat die Fünfte möglicherweise noch etwas schneller spielen lassen; das müsste man mal nachprüfen. Noch eine persönliche Beobachtung zum Schluss: Mir schien es viele ausgesprochen leise Stellen in dieser Aufführung zu geben, die eine gewisse inhaltliche Verbindung aufweisen mit den lauteren, die natürlich auch vertreten waren und deren Berechtigung nicht zuletzt aus den Anweisungen der Partitur herrührt. Sei’s drum.