Spinettriesig: erst Grigory Sokolov, dann Lugansky, Gerzenberg, Grosvenor beim Klavierfestival

Der sanftspinettige Virtuose und seine Jünger

Sanfter Spinettismus statt Virtuosengepranke, das sich in der heurigen Auflage des alljährlichen Grigory-Sokolov-Besuchs in Berlin nur einmal nebenher ereignet, aber nein, auch da ohne Gepranke, nur virtuos oder eben meisterlich: bei einer konzentriert hinbrillierten Rachmaninow-Zugabe, dem Prelude op. 23/2 als einem jener stets sechs Encores des dritten Konzertdrittels, in dem das Sokolov-Ritual erst seine Erfüllung findet. Die anderen sind zweimal Rameau (Les sauvages und Le Tambourin), zweimal Chopin (Prélude 28/15 und Mazurka 63/3) sowie einmal Bach (BWV 855a) im vollfülligen, dennoch faszinierenden Siloti-Ornat.

Das erste Drittel aber ist derart antivirtuos, dass es schon an Provokation grenzte, wenn nicht so etwas wie „Provokation“ dem sanften Klavierriesen Grigory Sokolov vollkommen wesensfremd wäre. Höchstens, dass das Provozierende sich ereignet. Ausschließlich Henry Purcell spielt Sokolov in diesem ersten Teil, viel zu „kleine“ Musik also scheinbar für den Steinway-Konzertflügel und den ausverkauften Großen Saal der Philharmonie. Dreisätzige Suiten und eingängige Tunes (darunter der Tristram-Shandy-Lesern wohlvertraute Lilliburlero), geschrieben natürlich fürs Spinett oder waserlei Instrümentlein man halt im ausgehenden 17. Jahrhundert in England so befingerte. Das Wunder, das sich in der langen Abfolge ereignet, ist die nicht endende Spannung. Nach der Pause gibt es Mozart, die B-Dur-Sonate KV 333 und im direkten Anschluss das h-Moll-Adagio KV 540, das so erschütternd traurig ist, dass man es gar nicht fasst, wie sich nun aus heiterem Himmel wiederum das ereignen konnte. Sokolovs sanfte Pranke aber steigt hoch und höher, um wundersam aufzutupfen und doch jederzeit den eigentlich ja viel zu großen Saal spielzauberisch zu füllen.

Der Bösendorfer ist von anderem Temperament. Er steht im Kleinen Saal des Konzerthauses, den ich für Klaviermusik vorzüglich geeignet finde und in dem seit nun vielen Jahren das Berliner Klavierfestival stattfindet. Das ist längst liebgewordene Tradition, nicht nur, weil es den Steinway-Einheitsperlbrei mit hochwertigen Yamahas, gigantischen Faziolis oder eben holzdunklen Bösendorfers unterbricht. Sondern auch, weil hier immer wieder Pianistinnen und Pianisten zu erleben sind, die am Hauptklavierort Kammermusiksaal zu kurz kommen, wo die Ägide der Stiftung Berliner Philharmoniker und die fast immergleichen Konzertdirektion-Adler-Superstars (deren superster Sokolov ist) den Ton angeben.

Die beiden Auftritte der hochgeschätzten Zlata Chochieva, die hier schon Skrjabin pur spielte und auf Platte Skrjabin und Mozart vertindert, gehen sich für mich leider terminlich nicht aus. Ausschließlich Rachmaninow hätte sie gespielt, wie es auch Nikolai Lugansky tut, womit ich mich wiederum schwer tue, sagen wir: mehr Respekt als Liebe empfindend. In den frühen Moments musicaux opus 16 gibt es kuriose Tristan-Anklänge, und von der 2. Sonate behauptet mein Konzertführer, sie sei ein Fall „für Klavierenthusiasten“, was mich daran zweifeln lässt, dass ich einer bin, obwohl ich einmal eine Horowitz-Aufnahme des Stücks (in anderer Fassung, es gibt mehrere) mit großem Gewinn hörte. Lugansky meistert jede technische Schwierigkeit ohne technische Schwierigkeit, und doch scheint sein Spiel mir nicht frei von gelegentlich Drückendem, allzu Drückendem und der Bösendorfer nicht frei von Momenten allzu rauschenden Rauschens.

Eine starke Talentprobe gibt Anton Gerzenberg, dessen Schumann-Papillons und Schubert-Wandererfantasie für mich aber (noch) das gewisse Etwas fehlt, das poetische Element, und überhaupt eine gewisse Freiheit. So wird der beeindruckende Auftritt von Benjamin Grosvenor für mich zum eindeutigen Höhepunkt des Klavierfestivals 2023. Dass dieser britische Pianist erst 30 Jahre alt ist, aber seit gefühlt 28 Jahren immer wieder beim Klavierfestival gastiert, erfüllt mich mit Betretenheit, ja Scham. Zumal Grosvenor eben gar nichts lähmend Musterschülerhaftes hat, sondern das befeuernd Meisterliche, frühe Reife im völlig positiven Sinn.

Der Bösendorfer hat Vorzüge wie Nachteile: sehr hohe, „holzige“ Präsenz im Moment des Anschlags und danach schlagartiger Schwund, von einem Mangel an Obertönen könnte man eventuell sprechen (keine Ahnung, ob das physikalisch haltbar ist). Bei Lugansky und Gerzenberg wird das mitunter schon zum Problem, aber bei Grosvenor neigt sich die Waage ganz auf der Vorzugsseite. Aufs äußerste sorgsam spielt er, den Blick auf die Tastatur, jeden Stimmungsumschwung in Schumanns Kreisleriana genau gestaltend, ohne irgendwas „vorzuführen“. Grosvenors Physiognomie erinnert mich ein wenig an den jungen Orson Welles, kantige bis sogar unfeine Gesichtszüge, doch darin faszinierend kindlich-traurige Augen.

Schön bunt ist Grosvenors Programm, um nicht zu sagen herrlich konfus. Doch im Hören wird es dann absolut stringent, hier die Wiederkehr exzessiver Punktierungen, dort umkippende oder umzukippen drohende Kantilenen. Neben den Kreisleriana sind zwei (wenn man so will) Kriegsmusiken dabei, Maurice Ravels Le tombeau de Couperin von 1917 und Sergej Prokofjews 7. Sonate von 1942. Jedes der beiden Werke endet mit einer irrsinnigen Toccata, die Grosvenor mit stählernen Fingern gelingen, aber eben ohne dass im Donner je Rauschen oder Brausen passiert. Und so vollkommen wie die eröffnende Bach/Busoni-Chaconne sind dann auch Ravels Jeux d’eau, die Grosvenor als Zugabe mal eben perfekt aus dem Ärmel schüttelt. Ein musikalisches Ereignis, das bei aller sensationellen Fertigkeit in geistiger Hinsicht doch auch weniger Prankvirtuosität ist als sanftriesiger Spinettismus.

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