Löwenherzig bis engelsschwarz: Leonkoro, Chiaroscuro und Kronos Quartet

Manchmal geht mir das Licht auf, dass wir in Berlin wirklich im Streichquartett-Paradies leben. Zum Beispiel, wenn an drei aufeinanderfolgenden Abenden drei vorzügliche, dabei vollkommen unterschiedliche Quartette zu erleben sind: Dem Leonkoro Quartet gehört vermutlich die Zukunft, jedenfalls viel davon. Das Kronos Quartet ist Legende, aber längst noch nicht Geschichte. Und das Chiaroscuro Quartet schafft mit seinem historisch info- und affirmierten Ansatz höchste Präsenz.

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Vielbödig: DSO und Ticciati spielen Haydn & Ligeti

Ein Konzept! Hach! Programm-Architektur! Nach zwei Biennale-Konzerten der veranstaltenden Berliner Philharmoniker mit viel Schönem, aber wenig Zusammenhang präsentieren Robin Ticciati und „sein“ Deutsches Symphonieorchester die Festival-Hauptfigur György Ligeti in einer ausgeklügelten Dramaturgie. Das ist umso erfreulicher, als Ticciatis programmatische Einfälle zwar oft höchst ambitioniert sind, aber es in der Praxisprobe dann manchmal klappert. Hier jedoch knackt’s: Haydn + Ligeti + Haydn + Ligeti + Ligeti + Haydn. (Nur ein Knall wird dann fehlen.)

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Innovationsgipfelnd

RSB und DSO erproben neue Konzertkonzepte und Konzeptkonzerte

Innovationsgipfel erwarten dich

„Innovative Formate“ sind für manch emsigen Konzertgänger eher Drohung denn Verheißung. Trotzdem, man will nicht borniert sein, also imma rin inne jute Innovationsstube. Denn jene beiden vortrefflichen Berliner Orchester, die ohnehin häufig die originelleren, mutigeren Programme bauen als die berühmten Philharmoniker-Kollegen, präsentieren zum „World Earth Day“ Unbekanntes wie auch Wohlvertrautes auf ungewohnte Weise: das Rundfunk-Sinfonieorchester erdwühlend mit Vladimir Jurowski im Haus des Rundfunks, und in der Philharmonie das Deutsche Symphonie-Orchester gipfelstürmend mit Andris Poga anstelle des erkrankten Robin Ticciati sowie (nanu?!?) Reinhold Messner.

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Entnachtend

Klavierfreuden in Mendelssohn-Remise und Pianosalon Christophori, John Eliot Gardiner bei den Philharmonikern

Die kleinen Musikorte erholen sich – wie die freien Musiker – mühsamer von der langen Nacht der (wohl noch nicht beendeten) Pandemie, als es große Institutionen und begehrte Stars tun. Eine kleine Klavierrunde führte mich in der vergangenen Woche nordwärts in den Wedding, wo im Pianosalon Christophori an zwei Abenden die jungen Musiker Andrei Gologan und Florian Heinisch spielten, und tags zuvor in die feine Mendelssohn-Remise, unweit vom Gendarmenmarkt. Dort eröffnete gleichzeitig die große Elisabeth Leonskaja eine Schostakowitsch-Hommage, den lang geplanten und nun von kriegerischen Zeitläuften an den Rand des Heiklen geführten Programmschwerpunkt des Konzerthauses. Auf der breiten Freitreppe stimmt dort eine Menschenmenge gutgemeint, aber schwer erträglich ein von beschwingtem Moderator animiertes Lied für den Frieden an.

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Miese beflügelnd!

Ton Koopman beim Konzerthausorchester

So miese kann’s einem gar nicht gehen, dass einem durch Carl Philipp Emanuel Bach nicht neuer Esprit injiziert würde. Und durch die beflügelnd vitale Erscheinung von Ton Koopman, dem schon 77jährigen niederländischen Cembal- und Organisten und auch Dirigenten, der beim Konzerthausorchester unter anderem zwei CPE-Sinfonien aus der späten Hamburger Zeit im Programm hat. Die bekanntere ist die in D-Dur (Wq 183/1), eine der originellsten, überraschungsbombigsten überhaupt. Und auch wenn man sich in den Abschnittsbeginnen des ersten Satzes die Kontraste noch unverschämter geschärft vorstellen könnte, flutschen doch die Streicher famos und die Holzfarben leuchten mit schöner Kontur.

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Hörstörung (29)

Eine Jacke nervt beim Quatuor Ebène

„Lust, meine Jacke auszuziehen und sie in hohem Bogen in das Gestrüpp zu werfen“, empfindet der Erzähler in Wilhelm Genazinos Ein Regenschirm für diesen Tag: weil das Wort Gestrüpp „die Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ ausdrücke. Seine Konzertjacke hängt ein Herr im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie (bei einem der vermutlich letzten Konzerte, das vor der Niederkunft des nächsten Lockdowns noch stattfindet, einem Streichquartettabend des formidablen Quatuor Ebène) über die Holzplatte, die im Mittelknick von Block A zwischen linker und rechter Seite steht. Und bevor noch Joseph Haydns Streichquartett D-Dur Hob. III:34 beginnt, fragt er das auf der anderen Seite des Mittelknicks sitzende Paar, ob seine abgeworfene Jacke dort es störe? Nein, sagt er. Schön sei es allerdings nicht, fügt sie mit ernstem Blick hinzu, und da hängt er seine Jacke ab. Um sie nach der Pause dann zusammengefaltet auf den leeren Sitz zu seiner anderen Seite gelegt zu haben: mit dem Zweck, zwei amerikanische Studentinnen daran zu hindern, sich unbefugt auf zwei freie teure Plätze zu setzen, um das formidable Quartett besser zu hören. Worauf ein Konzertgänger in derselben Reihe spontan das tut, was ein musikliebender Mensch tun muss: nämlich einen Platz aufzurücken, damit die beiden Studentinnen sich doch gemeinsam auf die guten Plätze setzen können. Denn es wäre ein Jammer um jeden guten Platz, der leerbliebe bei diesem Konzert, in dem nach Haydn noch Leoš Janáčeks ungeheures 1. Streichquartett „Kreutzersonate“ erklingt, in dem schroffe Kratzklangflächen abrupt auf zarteste Momente purer Schönheit stoßen, eine kammermusikalische Oper nicht weniger aufregend als die gerade an der Komischen Oper neuinszenierte Katja Kabanowa (und wie sympathisch, dass der Seelenkauz Janáček die Erzählung Kreutzersonate des von ihm verehrten misogynen Nieselpriems Tolstoi kurzerhand komplett umdreht, um mit der von Tolstoi verachteten Frauenseele mitzufühlen – fast als musikalisches Äquivalent zu der, Janáček unbekannten, Gegenerzählung Eine Frage der Schuld von Sofia Tolstaja), sowie schließlich Robert Schumanns 2. Streichquartett F-Dur op. 41, 2, eine Herrlichkeit vom ersten Thema des Kopfsatzes an, das einer nicht enden wollenden Arabeske gleicht. Höchstens, dass das formidable Quatuor Ebène manchmal fast zu formidabel klingt. Welch Glück, dass der Hörstörversuch der verirrten Jacke gescheitert ist.

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Kurz und kryptisch* (6): Takács Quartett im Konzerthaus

Der superhohe Tinnitus-Ton im Finale von Bedřich Smetanas Streichquartett e-Moll ist der Ton dieses erneut hereinbrechenden Winters unseres Missvergnügens. Man möchte nur noch schreien. Im Konzerthaus ist jetzt auch 2G, aber (noch) Maske ab am Platz erlaubt, selbst manch hochbetagter Kammermusikfreund macht im Kleinen Saal Gebrauch von dem Recht. Die vier Musiker des Takács Quartett hingegen (gegründet vor einem halben Jahrhundert in Budapest, heute daheim irgendwo in Colorado) tragen während des kompletten Konzerts schwarze Masken. Zwischendurch schaut der Primarius mit – so weit bei der halbverborgenen Mimik erkennbar – leicht verstörtem Blick ins Publikum des Hochinzidenz-Gastlandes, das durch verantwortungsscheue Politik und verblendete Impfverweigerer ins offene Messer geschlurft ist. Dass wir gemeinsam mit der Schweiz, Österreich und Südtirol gerade die selbstmörderische Trottelhochburg Westeuropas sind, dürfte sich bis in die Rocky Mountains herumgesprochen haben.

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Wiedersehrauschend: Einmal Konzerthaus, zweimal Philharmonie

Schlechte Vorsätze überstehen nicht mal das erste Wochenende: Der Konzertgänger wollte doch, wenns endlich wieder losginge, nicht mehr allabendlich in die Säle sausen! Nun aber, da der öffentliche Konzertbetrieb wieder begonnen hat, ist er am Freitag wie am Samstag auf der Piste und lässt auch den Sonntag nicht aus. Im Akkord getestet und dauermaskiert. Denn es ist ja wie ein Wiedersehen mit guten alten Bekannten, die man allzu lang vermisst hat: Iván Fischer und Anna Prohaska im Konzerthaus, die Berliner Philharmoniker, Vladimir Jurowski und „sein“ RSB. Es fühlt sich an wie Heimkehr.

Das Publikum kehrt zurück!
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Fremdwohlwollend: Chiaroscuro Quartett spielt Fanny Hensel, Haydn, Schubert

Komponistinnen! In der Gegenwartsmusik mags nicht ideal, aber besser aussehen, doch im klassischen Kanon bleibts heikel. Im Clara-Schumann-Jahr könnte man sich fragen, warum alle Welt diese Künstlerin Clara zu nennen sich erlaubt (niemand würde von Robert oder Johannes sprechen). Die verdienstvolle Arbeit des seit 40 Jahren arbeitenden Frankfurter Archiv Frau und Musik wurde kürzlich von der örtlichen FDP torpediert. Und im VAN Magazin beginnt dieser Tage eine Serie, in der 250 Komponistinnen vorgestellt werden. Den Namen Fanny Hensel aber kennt jeder, kaum jedoch Hensels Musik. Es sei denn, man ist bei dem unbedingt hörenswerten Chiaroscuro Quartett im Pierre-Boulez-Saal dabei.

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Sanfttröstend: Sampson und Bezuidenhout im Boulezsaal

Ariadne auf Naxos, sich nach einem Clavier sehnend I

Gelobt sei die Kunst des sinnigen Sichversprechens und Sichversingens! Nur ein die und ein der vertauscht, und schon ersetzt der Großvater die Oper: Flieht, was der Opa singet und folgt der Phantasie. Wie schön ist das denn! Wahrlich von tieferem Sinn aber, wenn die wunderbare Sopranistin Carolyn Sampson nicht singt Doch nein, laß mir mein Leid und meine Zärtlichkeit, sondern: mein Leid und seine Zärtlichkeit. Die Zärtlichkeit des Leids. So geschehen in einer Ode an das Clavier von Friedrich Gottlob Fleischer, einer von vielen wertvollen Raritäten, die man an dem schönen, klugen Liederabend von Sampson und dem sorgsamen Pianisten Kristian Bezuidenhout im Pierre-Boulez-Saal kennenlernen darf.

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Dürrheil: Haydns „Jahreszeiten“ mit RSB, Vocalconsort, Jurowski

Gute Sache, ein paar Tage nach diversen Gewitter- und Pastoralmusiken mal wieder Joseph Haydns Jahreszeiten zu hören. Moment, „mal wieder“? Es ist der Erstkontakt seit dem Musikunterricht in der Schule, damals in der mittlerweile gefühlten nullten Jahreszeit des Lebens. Dass für Bammel und Kontaktsperre gar kein Grund war, zeigt aber die schöne Aufführung durchs Rundfunk-Sinfonieorchester und Vocalconsort Berlin mit dem Dirigenten Vladimir Jurowski.

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Streichquartett-Woche: Belcea spielt Haydn und Janáček

„Seids vernünftig, sonst gibts eins mit dem Staberl über!“ (Schiller)

Abgenudeltster Über-Streichquartette-Einstieg: dieses berühmte Kant-Zitat (oder wars Konfuzius), demzufolge man vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten höre und dabei langweile. Bei Joseph Haydn aber hört man manchmal eine Person, die sich mit dreien unterhält, und Vernunft ist nicht alles, Vergnügen und Spielkultur sind von wenigstens gleicher Bedeutung. Und wenn im Menuett des d-Moll-Quartetts Hob. III:76 der Tanzbär hudelt, ist Vernunft schon gar keine Kategorie. Oder in diesem Largo e cantabile im G-Dur-Quartett Hob. III:41, einem erstaunlich pathetischen, teils sogar harschen Satz.

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Mestorein: Belcea Quartett spielt Mozart, Bartók, Mendelssohn

Nach ein paar Tagen alter Musik auch wieder Freude über die vollkommene Intonationsreinheit eines Streichquartetts. Die ist bei einem guten Ensemble natürlich nicht Ziel, sondern bloß Bedingung erfüllten Musizierens – erst recht bei einer Hausnummer wie dem Belcea Quartett, dem Ensemble in Residence des Pierre-Boulez-Saals. Der Ton ist rein, aber der Sinn ist trüb, ja mesto in diesem novemberabschiedlichen Programm mit Mozart, Bartók, Mendelssohn.

Die vier Musiker (man ist versucht zu schreiben: Corina Belcea und drei Männer) sitzen je rechtwinklig einander zugewandt in der Mitte des Saals, ein Streichquadrat. Wie neulich das JACK-Quartett im Kammermusiksaal spielen sie alle vom Tablet, während die Partitur-Mitleser im Auditorium noch am Gedruckten kleben, den Bleistift zwischen Zeige- und Mittelfinger. Weiterlesen

Naturgezartig: Staatskapelle und Rattle spielen Gabrieli, Haydn, Janáček

Stehen in der Berliner Philharmonie Haydn und Janáček auf dem Programm, muss man den Namen des Dirigenten gar nicht dazu sagen. Es sei denn, um zu streiten, ob man ihn Sir Simon nennen soll, wie laut Musiklehrer des Konzertgängersohns alle Berliner sagten (nein, ruft der Vater), oder eben Simon Rattle.

Beide Herzensstücke dirigiert er auswendig, nicht nur Haydns Pariser D-Dur Sinfonie Nr. 86, sondern auch Janáčeks gigantische Glagolitische Messe. Kurze Irritation, weil ihm das falsche Orchester gegenüber sitzt: nicht die Berliner Philharmoniker, sondern die Staatskapelle. Aber was heißt falsch, Rattle ist jetzt ein freier Mann, und das Orchester der Lindenoper dirigiert er ja schon seit langem immer wieder. Weiterlesen

Dreihirnherzig: Andreas Staier spielt Mozart, Haydn, Beethoven

Beethoven empfängt Mozart’s Hirn aus Hayden’s Händen. Rechts Gräfin Waldstein

Beethoven-Sonaten kann man sein ganzes Leben lang immer neu kennenlernen, aber zwei Kennenlernen sind einschneidend: das allererste natürlich, meist auf einem handelsüblichen Steinway. Und dann das erste Mal auf einem historischen Klavier. Da hört man plötzlich ein ganz neues Werk.

Der Pianist Andreas Staier spielt bei seinem Rezital im Pierre-Boulez-Saal Ludovico van Beethovens Sonate d-Moll op 31, 2 von 1802 auf dem Nachbau eines Alois-Graff-Flügels von etwa 1830 aus Wien. Das ist die Sonate, die nach einem vom Ober-Apokryph Schindler kolportierten kryptischen Hinweis auf Shakespeare geradezu apokryptisch Der Sturm genannt wird. Weiterlesen