Stehen in der Berliner Philharmonie Haydn und Janáček auf dem Programm, muss man den Namen des Dirigenten gar nicht dazu sagen. Es sei denn, um zu streiten, ob man ihn Sir Simon nennen soll, wie laut Musiklehrer des Konzertgängersohns alle Berliner sagten (nein, ruft der Vater), oder eben Simon Rattle.
Beide Herzensstücke dirigiert er auswendig, nicht nur Haydns Pariser D-Dur Sinfonie Nr. 86, sondern auch Janáčeks gigantische Glagolitische Messe. Kurze Irritation, weil ihm das falsche Orchester gegenüber sitzt: nicht die Berliner Philharmoniker, sondern die Staatskapelle. Aber was heißt falsch, Rattle ist jetzt ein freier Mann, und das Orchester der Lindenoper dirigiert er ja schon seit langem immer wieder.
Erstmal aber die Canzon septimi et octavi toni a 12. Als Giovanni Gabrieli dieses Werk 1597 für den Markusdom komponierte, war die Berliner Staatskapelle schon 27 Jahre alt – die älteren Abonnenten erinnern sich. Die Jüngeren haben vielleicht mitbekommen, dass der Jung-Rattle Sir in spe Robin letztes Jahr beim DSO Gabrieli mit Adès und Mahler kombinierte. Da stand das Blech hoch über dem Podium in Block K. Hier nun stehen drei Quartette zu je zwei Trompeten und Posaunen in einem weitgespannten Dreieck auf dem sonst noch leeren Podium der Philharmonie dem Dirigenten gegenüber – will heißen, unten.
Der Titel bezieht sich auf den kirchlichen mixolydischen Modus, der für Otto Normalhörer nach bissl altmodischem Dur klingt. Was die Raumwirkung angeht, bewirkt die Position des Gebläses auf dem Podium noch weniger von venezianischer Mehrchörigkeit als die Position oben bei Ticciati last year. Und weils im Markusdom sagenhafte elf Sekunden Nachhallzeit haben soll, in der Philharmonie nur deren zwei, wird die mixolydische Canzon zum Remix-olydicum, das schnell verpufft.
Die Wirkung wäre wohl stärker, wenn das Orchester bereits auf den Plätzen säße und danach direkt loslegte mit Joseph Haydns 86. Sinfonie D-Dur Hob. I:86 (UA Paris 1787), statt zwischen den Stücken erst hereinzutröpfeln. Als es dann loslegt, tropft freilich nichts, sondern es spritzt. Sieben erste Violinen. Rattle dirigiert ebenerdig, ohne Podest, dreht sich mit viel Fußarbeit in einem Gesamtradius von 180 Grad nach links und rechts, manchmal beugt er sich weit über die Notenständer, so dass die Streicher in der ersten Reihe doch seinen Atem auf den Fingern spüren müssen. Weich und zart sind die Staccati des Kopfsatz-Themas. Man spürt Rattles Freude an Witz und Energie dieser Musik, er wirkt geradezu gelöst.
Das Abo-Publikum der Staatskapelle ist ähnlich unruhig wie das der Berliner Philharmoniker; darf man das als Beleg für die Gleichrangigkeit der Orchester deuten? Dass eine dänische Schulklasse zwischen allen Sätzen klatscht, stört hingegen nicht, denn es ist Ausdruck von Interesse und Ergötzen. Schlimm ist vielmehr dieses amusische Hineinhusten und -scharren in jeden Generalpause-Effekt; aber das sind nicht die dänischen Jungs und Mädels, das schaffen wir Berliner schon selber.
Und wo ist nun der Zusammenhang zwischen Haydn und Janáček? In diesem ganz außerordentlichen zweiten Satz der Sinfonie meint man was haschen zu können: einem Capriccio mit der Tempobezeichnung largo, das jeden Moment eine Verblüffung bietet – gerade tapst da ein Bär, da flirrt auch schon eine Fee vorbei – eben kapriziös, dann heftiger Ausbruch etc pp.
Dieser Satz ist nicht minder crazy als Leoš Janáčeks Glagolitische Messe (1927). Und die ist ja was Irres. Vor allem aber hat sie bei allem wüsten Tumult doch eine enorme, diesseitige Gelöstheit, die den Bogen sinnig schlägt. An sich wärs ja Effekt einer Messe eher, sich vom Irdischen zu lösen, nicht vom Himmlischen. Aber beim Kirchenmuffel Janáček ists halt andersrum. Er glaubt allerdings auch: an die Natur vor allem und, aus heutiger Sicht heikler, an die Nation. Sein Nationalismus treibt hier immerhin die schöne exotische Blüte, den altslawischen Messtext aus dem 9. Jahrhundert zu verwenden, als die Gebrüder Kyrill und Method von Mähren aus die Slawen zu missionieren begannen. Die Glagoliza ist eigentlich die aus dem Griechischen kommenden proto-kyrillische Schrift, wie man im Einführungstext von Benjamin Wäntig erfährt; der Titel mithin etwas widersinnig, denn man singt ja keine Schrift.
Alles egal bei der sensibel exzessiven Wucht dieser Musik. Eine einzige turbulente Freude, die aus Kontrasten auf engstem Raum besteht, nicht um des Effekts willen, sondern als Konstruktionsprinzip. Das wirkt aufs erste Hinhören hektisch, aufs zweite hats eine höhere Ruhe.
Die eröffnenden Fanfaren verweisen in diesem Programm natürlich auf Gabrieli zurück. Aber wenn dann im Gospodi Pomiluj (= Kyrie) harsche Orchesterklänge der ausgezeichneten Staatskapelle auf die füchsleinweichen Stimmen des Tschechischen Philharmonischen Chors Brünn (Brno) treffen, ist man bereits tief und glücklich im Glagolitikum versunken. Dieser von Petr Fiala gegründete und einstudierte Chor hat die echte idiomatische Janáček-Naturgewalt und Naturzartheit, die’s hier braucht. Fantastisch! Bei den Solisten bedauert man, dass die wunderbare Anna Lapkovskaja (Alt) und Jan Martiník (Bass) so wenig zu singen haben. Die Sopranistin Iwona Sobotka aber haushaltet klug und strahlt kohärent durch die Klangwucht; abgesehen davon, dass ihr Dekolleté eine paní-theistische Feier des Diesseits ist, an der Janáček seine altherrliche Freude gehabt hätte. Und der Tenor Simon O’Neill gefällt dem Konzertgänger diesmal viel besser als bei anderer Gelegenheit; mit welch kontrolliertem Karacho er sein sédej o desnuju Otca herausschleudert („du sitzest zur Rechten des Vaters“), das hat was.
Ja, seltsame Blüten treibt Janáčeks Behandlung des religiösen Texts. Im Credo, wo Textausdeutung nun wirklich unumgänglich ist, steht zwischen hauchzartem věruju (ich glaube) und dem Kreuztod ein großes Orchesterzwischenspiel, das sich von weichen Flöten, Klarinetten, tiefen Streichern steigert bis zu einem Schlagzeugwirbel und einem irren Orgelsolo, das den Ausruf des Chors übers Kreuzfaktum vorbereitet. Dieser irre Orgelrabatz (Christian Schmitt) klingt schon lustig, ein bissl nach Bela Lugosi als Doktor Mabuse. Janáček aber setzt noch eins drauf, indem er nach dem Agnus Dei-Verklingen des Chors eine weitere komplette Solo-Orgelnummer nachschiebt: der Schocker dieses Werks überhaupt. Egal ob das kompositorisch so eine tolle Idee ist, jedenfalls katapultiert es den Erinnerungswert der Glagolitischen Messe ins Astronomische. Und das zum Abschluss noch eine spektakelige Intrada (!) ertönt, ist das perfekte Outro, ein Rausschmeißer hinein in die Unendlichkeit des Diesseits.
Lieber Herr Selge, Sie erwähnen gar nicht den komischen Moment, als die Solisten aufs Podium marschiert kamen und sich erst irritiert, dann erheitert zeigten, weil es für sie keine Stühle gab, und man erst umständlich und von mehreren Seiten Ersatz heranschaffen musste.
Aber zum Glück hat das die Künstler nicht vom schönen Singer abgehalten. Bei O’Neill fürchtete ich ein Fiasko (quälte er uns nicht neulich in Siegfried III unter Runnicles?), aber im Gegenteil, die Solisten waren alle wunderbar. Und der Chor erst, Sie sagen es!
Dieser Janacek hatte mal wieder etwas Süchtigmachendes. Nächste Woche gibt’s für mich auch endlich wieder die Vec Macropolus – Sie hatten ja bereits das Vergnügen, wie ich Ihren neuesten Beiträgen entnehme.
Ja, die kleine Verwirrung mit den fehlenden Stühlen habe ich weggelassen, weil der Bericht eh schon zu lang geworden ist. Ich verlasse mich einfach auf die Kommentare meiner Leser!
Besonders sympathisch war, wie Simon O’Neill persönlich die Stühle genommen und aufs Podium getragen hat. Als Siegfried fand ich ihn auch furchtbar und war gestern umso erfreuter. Den Tenor in der Glagolitischen Messe habe ich neulich in einer Aufnahme viel gepresster gehört. O’Neill hat das gut gemacht.
Dass der Staatsopernchor ein paar Tage vor dem Konzert durch die Brünner bzw Brnoer ersetzt wurde, war ein Glücksfall.
Wieder ein amüsanter Konzertbericht, ich danke sehr!