Gelobt sei die Kunst des sinnigen Sichversprechens und Sichversingens! Nur ein die und ein der vertauscht, und schon ersetzt der Großvater die Oper: Flieht, was der Opa singet und folgt der Phantasie. Wie schön ist das denn! Wahrlich von tieferem Sinn aber, wenn die wunderbare Sopranistin Carolyn Sampson nicht singt Doch nein, laß mir mein Leid und meine Zärtlichkeit, sondern: mein Leid und seine Zärtlichkeit. Die Zärtlichkeit des Leids. So geschehen in einer Ode an das Clavier von Friedrich Gottlob Fleischer, einer von vielen wertvollen Raritäten, die man an dem schönen, klugen Liederabend von Sampson und dem sorgsamen Pianisten Kristian Bezuidenhout im Pierre-Boulez-Saal kennenlernen darf.
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4. Juni 2015 – Sonnenwandlerisch: DSO und Brabbins mit Dvořák und Bohuslav Martinůs ‚Ariane‘
Der Konzertgänger kennt kein Wetter, nur Licht und Schatten in der Musik. Trotzdem ist er froh, an einem warmen Juniabend in der Philharmonie zu einem (scheinbar) sonnigen Programm zu gehen.
Serenaden haben immer etwas von Sommernacht, obwohl Mozart auch Serenaden für Winternächte geschrieben hat. Antonín Dvořáks Serenade für Streichorchester E-Dur op. 22 von 1875 ist auf jeden Fall Sommernachtsmusik. Am schönsten ist der Anfang, ein wellenartig fließendes Thema mit einem hübschen Kringel am Schluss. Der folgende Walzer ist etwas monoton, jede Figur wird zwei- bis vierfach wiederholt. Im Larghetto an vierter Stelle taucht der Anfang von Saint-Saëns‘ Schwan auf, auch dieses Motiv kehrt hinreichend häufig wieder. Martyn Brabbins dirigiert das alles engagiert und inbrünstig, als wäre es Bruckners Achte. Das passt am Beginn des Finales, wo plötzlich symphonischer Drive da ist; der aber bald zum fröhlichen Tanzen abbiegt, bevor schließlich der tschechische Schwan und die Anfangswellen wiederkehren. Der Konzertgänger fragt sich, wo die Grenze vom Leichten zum Belanglosen verläuft, er hätte diese Serenade gern im Kurpark oder an der Strandpromenade gehört, mit einem Glas Champagner. Vielleicht hätte man das Stück etwas schlanker, dafür sperriger, melancholischer, rauher spielen können? Im Foyer erklärt jedoch ein begeisterter Mann seinen Begleitern lauthals, die Dvořák-Serenade sei keineswegs langweilig, sondern luftig, tiefgründig, böhmisch, ja sogar biotop-artig.
Bohuslav Martinůs Ariane von 1958 beginnt ebenfalls luftig, wird dann allerdings extrem biotop-artig! Denn so sonnig, wie diese einstündige Oper mit einer schmissigen, nach Boccherini klingenden Sinfonia anfängt, bleibt sie nicht. Im Gegenteil: Wir begegnen bald kriegerisch schnarrenden Trompeten und Rührtrommeln, später irritierend säuselnder Kampfmusik, der Sinfonia-Ohrwurm hat sich als Ariane-Motiv entpuppt, dazwischen immer wieder das originelle Holzbläserblubbern und Glöckchenklingen, das den unverkennbaren, süchtig machenden Martinů-Sound ausmacht. Wenn es je passt, Musik als farbig zu bezeichnen, dann bei Martinů! Ariane wartet am Schluss sogar mit einer zehnminütigen Lamento-Bravour-Arie inklusive Stretta und Schluss-Entrückung auf, die man gern einmal mit Claudio Monteverdis Arianna-Lamento gekoppelt hören würde. Laura Aikin singt das sehr beeindruckend, wenn auch an einigen Stellen nicht unschrill; die Spitzentöne aber weich und leise. Die anderen Sänger, durchweg überzeugend, allesamt Männer, darunter Theseus und der Minotaurus, haben eher rezitativische Aufgaben. Auch das DSO und Brabbins, dem man danken muss, dass er den kranken Tugan Sokhiev vertritt und Berlin dieses abgelegene Werk hören lässt, machen ihre Sache bestens.
Arianes große Schlussarie verweist auf das Paradox dieser Kurzoper: In der Vorlage von Georges Neveux steht Theseus (in der Operngeschichte stets eine Lusche) im Mittelpunkt. Die Pointe des Stücks, das bezeichnenderweise nicht Ariane, sondern Le voyage de Thésée heißt, besteht offenbar darin, dass Theseus im Minotaurus sein Spiegelbild erkennt und mithin sich selbst tötet, oder zumindest sein früheres, glücklicheres Selbst. Insofern hat Martinů den Text erheblich verunklart, indem er – inspiriert von einer Radiosendung (!) mit Maria Callas – den Akzent auf Ariane verschob. Die Oper wird damit selbst zu einer Art Doppelwesen, ein Frauenkopf auf einem Männerkörper. Die Callas hat das natürlich nie gesungen.
Aber widersinnige Verunklarungen können in der verrückten Welt der Oper ja hochproduktiv sein. Ariane ist ein verstörend zusammengewürfeltes, schönes, schreckliches, geheimnisvolles, konfuses Werk. Man kann es kaum fassen, dass es noch nie in Berlin gespielt wurde; die Uraufführung fand 1961 in Gelsenkirchen (!) statt. Martinů kommt in Berlin überhaupt zu kurz; umso erfreulicher, dass nächstes Jahr die Staatsoper Martinůs Meisterwerk Juliette spielen wird… mit Daniel Barenboim, Magdalena Kožená und Rolando Villazon! Hoffentlich bringt das Berlins Martinů-Pflege nicht vom Regen in die Traufe.
Ariane erinnert in mancher Hinsicht an Juliette: die Titelheldin von vornherein komplett durch den Wind, ihr Geliebter fremder als fremd, die ganze Oper ein Amnesie-Mysterium, Erzählung aus einem hypnotischen Zwischenreich, das man sich kaum auf einer staubigen Bühne vorstellen kann. Schön, es in der Philharmonie zu hören und vor dem geistigen Auge zu sehen. Am Schluss verabschiedet sich das Stück mit dem leisen Ariane-Motiv von Klavier und Glockenspiel, wie eine Spieldose, die sich schließt; aber in dieser Spieldose gähnte ein Abgrund.
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