Zephyrisch: Michael Spyres und Il pomo d’oro

Nein, am betrüblichen Deckenteilsturz im Foyer ist nicht der Sänger schuld, jener Baritenor, der die scheinbar natürlichen Obergrenzen seines Stimmfachs sprengt. Auf dem Weg zu Michael Spyres im Kammermusiksaal passiert der Konzertgänger eine weiträumige Absperrung neben der Treppe, an die noch Putzstücke angelehnt sind. Ein Glücksfall, dass das nicht in Andrangzeiten herunterfiel, in Zeiten des ohnehin grassierenden Abonnentenschwunds. Aber wie gesagt, der Sänger ist unschuldig. Nach dem Konzert wird er noch erzählen, dass er als junger Mann, der aus Missouri kam, auch als construction worker arbeitete. Doch dass er sich auch noch des Berliner Konzertsaalverfalls annähme, wäre zu viel verlangt. Denn an diesem Abend hat der Hochkunstschwerstarbeiter Spyres (am Vortag sang er noch in Antwerpen, am Vorvortag in London!) genug Außerordentliches geleistet.

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Unabgenudelt: Klavierabende mit Pogorelich, Kanneh-Mason, Pletnev

Konzertgänger beim pianistischen Nudelverzehr

Drei völlig unterschiedliche Klavierabende in den vergangenen drei Monaten: zwei ältere Herren, eine junge Frau. Im Februar spielte Ivo Pogorelich (den gibt es noch?) im Großen Saal der Philharmonie. Gestern Abend Mikhail Pletnev (was, den gibt es auch noch?) ebenda. Und dazwischen im März im Kammermusiksaal Isata Kanneh-Mason (kennen Sie die schon?).

Obwohl ich Pogorelich und Pletnev eben in einem schnöden Atemzug unter „zwei ältere Herren“ (beide sind Mitte 60) subsummierte, lässt sich nichts Gegensätzlicheres vorstellen als ihre beiden Auftritte. Und das, obwohl ihre Programme sich in drei gewichtigen Werken überschnitten, und zwar alle von Frédéric Chopin: Fantaisie f-Moll Opus 49, Barcarolle Fis-Dur Opus 61, Polonaise-Fantaisie As-Dur Opus 61. Spätwerke mithin. Aber hörte man sie bei dem einen, waren sie bei dem anderen nicht wiederzuerkennen, und umgekehrt.

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Ordnend: Quatuor Diotima spielt Ligeti & Janáček, Berliner Philharmoniker mit Alan Gilbert

Unordnung greift nach dem modernen Künstler (Symbolbild)

Muss das ein Vergnügen sein: einen ganzen Abend lang nur Leoš Janáček und György Ligeti zu spielen, zwei der tollsten Komponisten, wo überhaupt gibt unter Gottes weitem Ohr. Das französische Quatuor Diotima gönnt sich, und dem Publikum. Und zeigt damit (nach Bertrand Chamayous Klavierabend) noch einmal, dass bei der Halb-Ligeti-halb-ganz-anderes-Biennale der Berliner Philharmoniker die stringentesten Beiträge im kleineren Rahmen stattfinden.

Vor ein paar Tagen im DSO-Konzert, wo es Ligeti + Haydn + Haydn + Ligeti gab, ließen mich die entfesselten Huster an ein Weltraummonster denken, über das der Held in Ian McEwans Zementgarten liest – Captain Hunt soll das Monster zur Strecke bringen! Nun, bei György Ligetis zweitem Streichquartett kam mir in den Sinn, wie ebenjener Captain Hunt in seinem Raumschiff für Sauberkeit sorgt:

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Biennale 2: Bertrand Chamayou spielt Klavier, Pintscher dirigiert die Philharmoniker

Rein staturmäßig passt auch König Ubu ideal in die 50er Jahre…

Einen Lapsus der Biennale der Berliner Philharmoniker bügelt (48 Stunden vor deren zweitem Konzertprogramm, dazu unten mehr) der französische Pianist Bertrand Chamayou beiläufig aus, zumindest ein bisschen: Seine erste Zugabe ist eine stupende Etüde von Unsuk Chin. Und die ist nicht nur Schülerin von György Ligeti, der im Mittelpunkt der Biennale steht, sondern auch eine jener ominösen Frauen, deren Fehlen als Komponistinnen im zweieinhalbwöchigen Festivalprogramm hier oder auch hier bemängelt wurde. Ansonsten hat der lässige Zuschnitt der Biennale zu den 1950ern und 60ern, sehr weit um Ligeti herum, sein Gutes wie sein Schlechtes. Thematisch geht es bis zu Heimatfilmen und Architekturavantgarde, auch Chansons mit Tim Fischer gibt’s. Das ist schön in der Abwesenheit von Berührungsängsten, aber es dräut auch Ein-Kessel-Beliebiges-Risiko, für ein wirklich kuratiertes Programm fehlen manchmal (außer Frauen) Pointierung und stringente Bezüge. In Chamayous imposantem Soloabend im Kammermusiksaal ist genau das aber da.

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Märchenonkelig

Medtner und Schostakowitsch bei Spectrum

Märchenonkeltreffen im Kammermusiksaal: Wenn Nikolaj Karlowitsch Medtner der nostalgische Geschichtenerzähler war, dann war Schostakowitsch das Väterchen mit den nicht endenden Gruselstories. Beide Haltungen haben ihre eigene, auch biografisch beglaubigte, Wahrheit. Kaum ins Hirn zu kriegen aber, dass Medtners Klavierquintett C-Dur und Schostakowitschs e-Moll-Trio ungefähr gleichzeitig entstanden.

Oder auch alles andere als gleichzeitig. Dann Medtner arbeitete an seinem Quintett, das erst 1955 und damit vier Jahre nach seinem Tod uraufgeführt wurde, anscheinend ein halbes Jahrhundert lang. Zum Glück nicht durchgehend, es gibt ja sehr viel andere Klaviermusik von ihm und auch mehrere Klavierkonzerte.

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Sternfallend

Der RIAS Kammerchor singt Musik aus Jahrtausenden und die Uraufführung von Jüri Reinveres „Die Vertreibung des Ismael“

„Ist Gott mit den Sternen?“, fragt der kleine Ismael in der nächtlichen Wüste, in die er mit seiner Mutter Hagar vertrieben wurde (vertrieben, wie es auch heute Millionen Menschen werden), und: „Können die Sterne auch runterfallen? Sieht das dann so aus wie Regen?“ Der Glaube droht sich im Niederschlag aufzulösen, Gottessturz. Aber die Mutter antwortet dem Kind nicht mehr, sie schweigt. Und Engel sind anscheinend auch nicht zu erwarten. Es ist der beklemmende Schluss von Jüri Reinveres Die Vertreibung des Ismael, einem Vokalwerk nach der Erzählung aus Genesis, das der RIAS Kammerchor unter Justin Doyle eindrucksvoll im Kammermusiksaal der Philharmonie aufführt. Und bei diesen ins Leere fallenden letzten Fragen des unglücklichen Kindes (das in der koranischen Überlieferung einer der großen Propheten und Erbauer der Kaaba sein wird) widerhallt im Ohr Musik aus dem 13. Jahrhundert, die der Chor zuvor sang: Santa Marìa, Strela do día. „Tagesstern“: So heißt die Muttergottes in dem galicisch-portugiesischen Gedicht aus einer Sammlung des kastilischen Königs Alfonso X el Sabio. Es gehört zum gewichtigen ersten Konzertteil, der weit mehr als eine Hinleitung auf die Uraufführung ist.

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Hochseilgaloppierend

Quatuor Modigliani und Sharon Kam spielen Schubert und Brahms

Wenn die Tücken der Programmplanung zum Aberwitz werden: Am Donnerstagabend spielen drei hervorragende Streichquartette gleichzeitig. Selbst in Berlin ist das kein Normalfall. Und schon gar nicht, dass zwei davon (Belcea im Boulezsaal und Modigliani im Kammermusiksaal) Schuberts Der Tod und das Mädchen spielen. Drittes Angebot in der Terminkollision wäre das Pavel Haas Quartett, das im Konzerthaus im Rahmen der Schostakowitsch-Hommage auftritt. Ich entscheide mich am Ende für die Modiglianis: weil ich die noch nie gehört habe und weil dort auch noch die israelische Klarinettistin Sharon Kam dabei ist. Und Brahms.

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Trismegistisch

Collegium 1704, Les Arts Florissants und Jean Rondeau beim Barock-Festival in der Philharmonie

Drei sehr verschiedene Konzerte am zweiten (und letzten) Wochenende des Barock-Festivals, jedes auf seine Weise beeindruckend: trimagisch, ja geradezu trismegistisch. Den Anfang macht am Freitagabend das tschechische Collegium 1704 im Kammermusiksaal. Auf dem Programm steht unter anderem ein Bachkonzert (BWV 1060, c-Moll) mit den Solo-Instrumenten Oboe und Violine, während gleichzeitig die Berliner Philharmoniker im Großen Saal ebenfalls ein Bachkonzert mit Oboe spielen (BWV 1055R). Kuriose Selbstkannibalisierung. Das Barock-Festival ist ja eine Veranstaltung der Stiftung Berliner Philharmoniker, die Reihe „Originalklang“ in gebündelter Form, und das Collegium 1704 geladener Gast der Hausherr/*/frauschaft. Ohne dem Orchester, Dirigent Roth und vor allem Albrecht Mayer nahezutreten, den aufregenderen, quickigeren Bach gibt’s ziemlich gewiss bei den tschechischen Spezialisten.

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Deconquista!

Accademia del Piacere beim Barock-Festival in der Philharmonie

Auf welcher Insel der Seligen man lebt, wird einem bewusst, wenn man in der Berliner Philharmonie entzückt beim Barock-Festival sitzt, während gerade ein demokratisches Land von den Panzern eines gewissenlosen Großmachtpsychopathen überrollt wird. Die Ukraine liegt näher an Berlin als Spanien, Kiew näher als Madrid oder gar Sevilla, wo die Accademia del Piacere ihren Sitz hat. Deren Zugabe im Kammermusiksaal widmet der Leiter Fahmi Alqhai der Kraft des Friedens; so wie die Berliner Philharmoniker nebenan im Großen Haus ihr Mahler-Konzert mit Gustavo Dudamel den Menschen in der Ukraine zueignen.

Hier also nur einige inselselige Notizen zum köstlichen Konzert der Accademia del Piacere. Spanische Tänze und Melodien aus dem 16. und 17. Jahrhundert, in aufregender, aber nicht anbiedernder Verzeitgemäßung. Notierte Quellen sind offene Grundlage der Musik, nicht fertige Vorgabe. Nach zwei gediegenen, fast schulbuchmäßigen tänzerischen Nummern beginnt es schlagartig zu lodern: Über stehendem Bordunton setzt ein improvisatorisches Gambensolo von Fahmi Alqhai ein, immer wieder ins Mikrotonale pendelnd, rhythmisch sehr frei gefärbt vom Percussionisten Agustín Diassera.

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Hörstörung (29)

Eine Jacke nervt beim Quatuor Ebène

„Lust, meine Jacke auszuziehen und sie in hohem Bogen in das Gestrüpp zu werfen“, empfindet der Erzähler in Wilhelm Genazinos Ein Regenschirm für diesen Tag: weil das Wort Gestrüpp „die Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ ausdrücke. Seine Konzertjacke hängt ein Herr im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie (bei einem der vermutlich letzten Konzerte, das vor der Niederkunft des nächsten Lockdowns noch stattfindet, einem Streichquartettabend des formidablen Quatuor Ebène) über die Holzplatte, die im Mittelknick von Block A zwischen linker und rechter Seite steht. Und bevor noch Joseph Haydns Streichquartett D-Dur Hob. III:34 beginnt, fragt er das auf der anderen Seite des Mittelknicks sitzende Paar, ob seine abgeworfene Jacke dort es störe? Nein, sagt er. Schön sei es allerdings nicht, fügt sie mit ernstem Blick hinzu, und da hängt er seine Jacke ab. Um sie nach der Pause dann zusammengefaltet auf den leeren Sitz zu seiner anderen Seite gelegt zu haben: mit dem Zweck, zwei amerikanische Studentinnen daran zu hindern, sich unbefugt auf zwei freie teure Plätze zu setzen, um das formidable Quartett besser zu hören. Worauf ein Konzertgänger in derselben Reihe spontan das tut, was ein musikliebender Mensch tun muss: nämlich einen Platz aufzurücken, damit die beiden Studentinnen sich doch gemeinsam auf die guten Plätze setzen können. Denn es wäre ein Jammer um jeden guten Platz, der leerbliebe bei diesem Konzert, in dem nach Haydn noch Leoš Janáčeks ungeheures 1. Streichquartett „Kreutzersonate“ erklingt, in dem schroffe Kratzklangflächen abrupt auf zarteste Momente purer Schönheit stoßen, eine kammermusikalische Oper nicht weniger aufregend als die gerade an der Komischen Oper neuinszenierte Katja Kabanowa (und wie sympathisch, dass der Seelenkauz Janáček die Erzählung Kreutzersonate des von ihm verehrten misogynen Nieselpriems Tolstoi kurzerhand komplett umdreht, um mit der von Tolstoi verachteten Frauenseele mitzufühlen – fast als musikalisches Äquivalent zu der, Janáček unbekannten, Gegenerzählung Eine Frage der Schuld von Sofia Tolstaja), sowie schließlich Robert Schumanns 2. Streichquartett F-Dur op. 41, 2, eine Herrlichkeit vom ersten Thema des Kopfsatzes an, das einer nicht enden wollenden Arabeske gleicht. Höchstens, dass das formidable Quatuor Ebène manchmal fast zu formidabel klingt. Welch Glück, dass der Hörstörversuch der verirrten Jacke gescheitert ist.

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Rosengeistig: Schubert und Berlioz mit FBO, Heras-Casado, Crebassa

Eine Bereicherung ist es, dass sich klassische Sinfonieorchester immer mal wieder in „historische“ Spielweisen zurückwagen (in Berlin macht das DSO es toll, früher öfter mit Roger Norrington, der jüngst seine Dirigentenkarriere beendete). Und ebenso, dass ehedeme Alte-Musik-Spezialensembles sich ins „romantische“ Repertoire vorwagen. Das Freiburger Barockorchester spielt auf seiner aktuellen Tour in Berlin, Köln, Freiburg und Baden-Baden Franz Schubert und Hector Berlioz. Weiß nicht, ob ich den beiden Komponisten schon je innerhalb eines und desselben Konzerts begegnet bin.

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Endlich: Ursula Mamlok, Ravel und Messiaen bei Spectrum

Was für unerwartete, aufregende, bewegende Anfänge in einem Ende stecken können! Als die 83jährige Komponistin Ursula Mamlok im Jahr 2006 nach dem Tod ihres Mannes von New York nach Berlin zog, war das nicht irgendein Umzug in einen Altersruhesitz. Denn Berlin war die Stadt, die die gerade 16 gewordene Ursula Lewy im Februar 1939 mit ihrer jüdischen Familie gerade so noch hatte verlassen können. Heimat mochte sie den Ort verständlicherweise nicht mehr nennen, der zur Heimstatt des Völkermords geworden war und an den sie dennoch an ihrem, noch taghellen, Lebensabend zurückkehrte. Frank Sumner Dodge aber verwendet das Wort mehrmals in seiner kurzen Begrüßung vor dem Konzert im Kammermusiksaal der Philharmonie – der amerikanische Gründer jenes seit 1988 bestehenden, hochwertvollen, unkaputtbaren Formats Spectrum Concerts, bei dem Mamlok (wie sie seit ihrer Heirat 1947 hieß) ein spätes musikalisches Zuhause fand. Heimat vielleicht. Ihr, die 2016 in Berlin starb, ist das ganze Konzert gewidmet.

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Mimoso: Zwei Konzerte des Collegium Vocale Gent mit Philippe Herreweghe

Musikfest ist Gastorchester-Zeit. Das Orchestre des Champs-Élysées ist ein Ensemble, das nicht alle Jahre in Berlin zu hören ist. Aber die Hauptattraktion des Konzerts ist der Chor. Das Collegium Vocale Gent gibt es zwei Tage nach einem ersten Konzert mit Orchester noch einmal (fast) allein zu hören, in Madrigalen des Wortklauberichs Gesualdo. Fast alles dreht sich in diesen beiden Konzerten um den Tod; aber wie grundverschieden!

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Wiederschiedsfreudicht: Spectrum im Kammermusiksaal

Freudige Wiederkehr, …

Zu den besonders lieben Kulturbekanntschaften, um die der Konzertgänger sich während der Konzert-Prohibition entsprechende besonders schwere Sorgen machte, gehört die seit 33 Jahren existierende Kammermusik-Reihe Spectrum Concerts. Denn die gehört mit ihrem speziellen Profil (maximales Niveau, minimale Subvention) seit jeher zu den Risikopatienten des Konzertbetriebs. Einerseits klassische Kammermusik des 18. und 19. Jahrhunderts, andererseits kaum je zu hörende Komponisten des 20. wie Ernst Toch, Robert Helps oder Ursula Mamlok werden gespielt, getragen von einer treuen Unterstützerschar. Zum Comeback gehts mit Brahms und nochmal Brahms erstmal quasi ins Herz aller Kammermusik.

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