Musikfest ist Gastorchester-Zeit. Das Orchestre des Champs-Élysées ist ein Ensemble, das nicht alle Jahre in Berlin zu hören ist. Aber die Hauptattraktion des Konzerts ist der Chor. Das Collegium Vocale Gent gibt es zwei Tage nach einem ersten Konzert mit Orchester noch einmal (fast) allein zu hören, in Madrigalen des Wortklauberichs Gesualdo. Fast alles dreht sich in diesen beiden Konzerten um den Tod; aber wie grundverschieden!
Drei so gegensätzliche spirituelle Musiken wie diese von Fauré, Brahms und Strawinsky muss man auch erstmal finden, wie Philippe Herreweghe (Gründer des Champs-Élysées-Orchesters 1991 wie des Collegium vocale 1970) hier zusammengestellt hat. Die Kontrabassisten des „historisch impformiert“ verinstrumenteten und intonierenden Orchesters stehen hockerlos bei Gabriel Faurés Requiem in der Fassung von 1893, was ihrem Spiel auch optisch gleich etwas Beschwingtes gibt, so un tic Orchestre de Quartier Latin. Die base aber ist gechillt in diesem ungewöhnlichen Requiem, friedfertig wogt es, höchstens verhaltenes Aufbäumen, schon gar kein Aufschreien. Geschweige denn so ein theatralisches Drohgebrassel wie bei Verdi, dies irae findet hier fast überhaupt nicht statt. Dafür, horribile dictu, Zuversicht. Organisch treten die beiden Solisten aus dem Chor hervor: der Bariton Krešimir Stražanac mild bittend im Hostias, später im Libera me über zupfenden Bässen, und Dorothee Mields mit ihrem unvergleichlichen Timbre im Pie Jesu, anfangs nur von der Orgel begleitet. Welche dann herrliche Kringel spieliziert in der entzückenden zuckersüßen Vision vom Paradies, mit der Fauré schließt, man hört die Lichtvögelchen schwirren.
Johannes Brahms‘ Begräbnisgesang von 1858 dann natürlich erdiger und von herberem Glanz. Irgendwie vielleicht Vorstufe fürs Deutsche Requiem, aber doch wieder was ganz Eigenes mit seinen Taktverschleierungen, die den Sinn der Worte des Luther-Zeitgenossen Michael Weiße anfangs zu ignorieren scheinen und durch dieses Archaisieren umso tiefer tragen. In Igor Strawinskys Psalmensinfonie schließlich dürfen die Bassisten doch abhockern, die „Barockbögen“ sind auch eingetauscht, dennoch spielt das Orchester auch hier aus vital historisierendem Geist, sehr prägnant, höchstens mal ein wenig behäbig buchstabierend. Aber diese hochsinnliche Chorkunst! Einen der schönsten Schlüsse überhaupt hat diese Psalmensinfonie ja, was wollte Leonard Bernstein einst mit seinem „Gebet aus Stahl“?
Strawinsky ist Schwerpunkt des diesjährigen Musikfests der Berliner Festspiele. Im Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters vor wenigen Tagen war Strawinskys spätere „geistliche Ballade“ Abraham und Isaak zu hören, in fremdem Hebräisch, das unnahbare Mysterium umkreisend nur durch den Klang der Silben, nicht den Sinn der Worte. Im Konzert des RIAS Kammerchors am 15. September wird Strawinsky auf den von ihm verehrten Gesualdo treffen, was spannend werden könnte. Das zweite Konzert des Collegium Vocale Gent aber widmet sich, im Kammermusiksaal der Philharmonie, ganz diesem spätrenaissance-menschlichen Tunichtgut (der bekanntlich seine Frau ermordete) und musikalischen Tusupergut (der einen unverkennbar eigenen Singklang schuf). Das fünfte Madrigalbuch von Don Carlo Gesualdo da Venosa, entstanden 1611, ist zu hören, aufgelockert nur von kurzen Instrumentalstücken von Pietro Paolo Melli, Alessandro Piccinini und Girolamo Kapsberger, die der Chitarroniere Thomas Boysen auf kurzhalsiger Rundbauchlaute geschmeidig zupfelt. Was die Konzentration auf Gesualdos Madrigale gar nicht unterbricht, sondern eher noch verstärkt, auch weil es Ermüdungserscheinungen unterbindet.
Einen größeren Kontrast zu Strawinskys Abraham und Isaak kann man sich nicht vorstellen als Gesualdos fast grotesk bedeutungsnahes Komponieren, dieses chromatische Hineinkriechen in die Wörter. Die hohe Kunst des mimimi ist das zugleich, bzw des mimoso: mi wie misero, mo wie morir, so wie sospir. Dazwischen lässt das Wort volo seine Flügel schlagen, lodert’s im foco, stürzt es abwärts im languisce („siechen“), schlägt Kapriolen im amando. Wieder und wieder gehts in Halbtonschritten todwärts nach unten. Erst das letzte Madrigal T’amo, mia vita ist dann frei von allem sospir e pianger e morir.
Sechs vorzügliche Sänger des Collegium vocale sind dabei, von denen jeweils einer aussetzt bei den fünfstimmigen Madrigalen. Jede Stimme hat ihren eigenen Charakter, und doch bilden sie jeweils ein vollkommenes Fünfganzes. Die Namen der sechs famosen Fünf seien genannt: Miriam Allan (Sopran), Barbora Kabátková (Mezzo), Marine Fribourg (Alt), Benedict Hymas und Tore Tom Denys (Tenöre) und Jimmy Holliday (Bass). Als Zugabe wiederholen die Sänger das faszinierende elfte Madrigal Mercé grido piangendo, das mit einem eindrucksvollen Schrei des Soprans beginnt und in betörender fünfstimmiger Auffächerung des „io moro“ endigt. Ohimé, aber sowas von!