Löwenherzig bis engelsschwarz: Leonkoro, Chiaroscuro und Kronos Quartet

Manchmal geht mir das Licht auf, dass wir in Berlin wirklich im Streichquartett-Paradies leben. Zum Beispiel, wenn an drei aufeinanderfolgenden Abenden drei vorzügliche, dabei vollkommen unterschiedliche Quartette zu erleben sind: Dem Leonkoro Quartet gehört vermutlich die Zukunft, jedenfalls viel davon. Das Kronos Quartet ist Legende, aber längst noch nicht Geschichte. Und das Chiaroscuro Quartet schafft mit seinem historisch info- und affirmierten Ansatz höchste Präsenz.

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Herabsphärend

Benedikt Kristjánsson und Margret Köll im Pierre-Boulez-Saal

Gegen die Barockharfe, die in diesem Konzert gleich in mehreren Formen zu erleben ist, wirkt das moderne Konzertgoldflügelgetüm wie ein monströser SUV im Vergleich zu einem wendig-schnittigen Fahrrad. Über mehr als 4000 Jahre leitet Michael Horst in seiner Einleitung die Bedeutung des Instruments und der dazugehörigen Stimme her, bis zu den Pyramiden und natürlich zum Orpheus-Mythos. Vor einigen Wochen hat die Komische Oper einen lohnenden neuen Orfeo vorgestellt: den geradezu simplen von Gluck. Die Lieder von Emilio de‘ Cavalieri und Giulio Caccini, mit denen der Tenor Benedikt Kristjánsson und die Barockharfenistin Margret Köll ihr Programm im Boulezsaal beginnen, erinnern allerdings eher an eine andere, frühere Orphik, nämlich die von Maestro Monteverdi.

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Rappelruhigend

Musik von und mit Konstantia Gourzi im Boulezsaal

Ich im Boulezsaal (Symbolbild)

Aus einer „Vibration der Stille“ entstehe die Musik von Konstantia Gourzi, erklärt der Pianist William Youn. Gemeinsam mit dem Bratschisten Nils Mönkemeyer geben die beiden im Pierre-Boulez-Saal ein leises, konzentriertes und doch abwechslungsreiches Konzert, von dem man – klänge es nicht so kitschig – sagen möchte, dass es dem Hörenden tiefe, doch schillernde Ruhe schenkt.

Fein durchgearbeitet sind die vielen kleinen Teile der größeren Einheiten, die sich dem Wind oder dem Blick aus dem Fenster widmen, den Bienen und Bäumen, der Liebe und dem Meer. Dass sich hinter einer bestimmten Komposition etwa die Erinnerung an Chagall-Bilder versteckt, kann man wissen, muss es aber nicht. Denn die Musik lässt sich unmittelbar erfahren. In Klavierstücken tritt der einzelne Ton spannungsvoll hervor, und zum Ereignis wird es, wenn er mit einem zweiten Ton verschmilzt oder mit Tropfen und Klopfen. Oder das Geschehnis eines Crescendo. wind whispers wäre die Musik, die der Film Nomadland gebraucht hätte, dessen Großartigkeit durch den Einaudi-Soundtrack zu ruinieren drohte (denn mit der Banalität Einaudis hat Gourzis zum Klingen gebrachte Stillevibration nichts zu tun).

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Robbenpistolig

Hinreißender Liederabend mit Golda Schultz und Jonathan Ware im Boulezsaal

Liederabend im großen Konzertbetrieb (Symbolbild)

Was der Pierre-Boulez-Saal diese Woche an ausgefallenen (im Sinn von raren, nicht etwa von abgesagten) Programmen bietet, ist bemerkenswert: Den einen Tag spielen der Pianist Melnikov & Co an Hindemith-Sonaten, was niemals gespielt wird. Am Samstagabend wird ein hochbesetztes Trio um die Komponistin Konstantia Gourzi nichts als Musik von Gourzi aufführen. Und dazwischen präsentiert die südafrikanische Sängerin Golda Schultz mit ihrem Klavierbegleiter Jonathan Ware ausschließlich von Frauen komponierte Lieder aus zweihundert Jahren; das Ganze zusätzlich auch als „Elternzeit-Konzert“ für Babys ab 0 Monaten, auf dass in Zukunft niemand mehr behaupten möge, er habe gar nicht gewusst, dass „auch Frauen komponiert haben“. Und wie gut Golda Schultz ist, Weltstar in spe.

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Vertikal lustvoll

Staatskapelle mit James Gaffigan spielt Janáček, Eötvös, Ravel im Boulezsaal

Porträt des großen Altzausels als Jungzausel: Leóš Janáček 1874

Alles sehr kiezig heute: James Gaffigan, Dirigent dieses feinen Sonntagvormittagskonzerts im Pierre-Boulez-Saal, wird nächstes Jahr Chef an der 700 Meter entfernten Komischen Oper. Vom Komponisten Peter Eötvös, dessen Werk in der Programmmitte steht, lief an der gleich nebenan gelegenen Staatsoper Unter den Linden kürzlich das neue Werk Sleepless (gemischte Eindrücke bei mir). Und von Leoš Janáček, mit dem es losgeht, gibt’s ebendort demnächst Die Sache Makropulos. (Falls nicht alle Beteiligten dann mit Omikron in der Zwangsheia fläzen werden, von Emilia Marty über Ellian McGregor bis Eugenia Montez).

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Konsistent einzykelnd: Hagen Quartett spielt Schostakowitsch

„Haben Sie ‚Zyklus‘ gesagt?“

Über die inconsistency des Berliner Kulturlebens in Pandemiezeiten kriegt sich der ältere britische Streichquartettkenner hinter mir im Pierre-Boulez-Saal kaum mehr ein. Ganz Unrecht hat er nicht, es ist zwar schön, ohne Maske im vollbesetzten Saal zu sitzen. Aber während uns tragisch verblendete oder auch bloß banal renitente Impfmuffel gerade ins nächste Desaster seuchen, wäre es schöner mit 2G-Regel statt des geltenden „3G“. Und auch eine genauere Kontrolle der Impfzertifikate wäre eine feine Sache – man kann und sollte die QR-Codes mal scannen, nicht bloß anschauen, lieber Boulezsaal (und liebes Konzerthaus am Vortag)!

Nevertheless, die Eröffnung eines kompletten „Schostakowitsch-Zyklus“ durchs großartige Hagen-Quartett ist ein Ereignis, für das man Gefahr in Kauf nimmt.

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Frischdesolat: Quatuor Diotima im Boulezsaal

Diotima ruft ihr Schnelltest-Ergebnis ab (zeitgenössische Darstellung)

Entcoronaisierung allüberall (hoffnungsvoll), die Cafétische sind voll, die Parks sowieso, die Single gebliebenen Nachtigallen trällern sich die Seele aus der Brust – wer jetzt kein Weib hat, balzt sich keines mehr, schreibt Rilke, aber das wissen die Vögel ja nicht. Wir hingegen radeln beschwingt, frischgetestet und halbgeimpft zum Pierre-Boulez-Saal, wo pilotprojektweis‘ konzertiert wird. Großer Radlerpulk auf der noch immer peinlich radspurlosen Monsterfahrbahn Unter den Linden, einzig und allein der Tagesspiegelkritiker wartet gutbürgerlich aufs Ergrünen der ewig roten Ampel.

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Geistkorpusig: Igor Levit spielt Muffat, Rzewski, Kerll, Busoni

Künstlerischer (Nach-)Schöpfungsakt. Symbolbild

Igor Levit spielt … nicht Beethoven. Stattdessen ein komplexes Programm, das er, wie er im Interview erklärt, von hinten nach vorn denkt. Entscheidend ist, was hinten rauskommt, sagte ja einst ein gewichtiger deutscher Vielosoph, und was hinten rauskommt, ist in diesem Denkfall ein einigermaßen erschlagendes Werk von Ferruccio Busoni. Das macht die Stücke, die zuvor vorne reinkommen, nicht weniger hörenswert. Und hörbarer und genussreicher vielleicht auch, zumindest für den Konzertgänger.

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Zehenvergessend: Belcea Quartett spielt 5 von 16

In kluger Vorsorge offenbar hat der Meister schon zu Lebzeiten an #BTHVN2020 gedacht und sein Streichquartett-Schaffen so angelegt, dass es sich zyklusfreundlich portionieren lässt: je 1 Früh-, 1 Mittel- und 1 Spätwerk geht sich ganz gut aus (nur zwei Termine müssen eins auslassen bei insgesamt 16 Quartetten). Das Belcea Quartett, das jetzt im Pierre-Boulez-Saal den gewiss nicht schlechtesten Quartettzyklus dieses längst angebrochenen Beethovenjahrs in Überlänge begonnen hat, macht es sich dann aber doch ein bisschen pfiffiger.

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Schneeflockdenkicht: Maurizio Pollini und Nathalia Milstein spielen Klavier

Holla die Schneefee, zwei große Namen sind das: Pollini und Milstein. Nur einer ist der echte, eine fast unverhoffte Wiederbegegnung mit Maurizio. Der andere ist in Wahrheit die andere, nicht Nathan natürlich, sondern Nathalia, und sie spielt auch nicht Geige, sondern ebenfalls Klavier – und ist schon ihr eigenes Original! Zwei sehr unterschiedliche, beides starke Klavierabende im Pierre-Boulez-Saal.

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Fegeprügelnd: Markus Hinterhäuser spielt Galina Ustwolskaja

Klavierabend (Symbolbild)

Die Chopin pur-Plakate an Stromkästen und Bauzäunen kennt jeder in Berlin, aber im Pierre-Boulez-Saal gibts Galina Ustwolskaja pur. Ja, für sowas wurde die Bude gebaut! Der Pianist Markus Hinterhäuser spielt an einem Abend etwa ein Sechstel des Gesamtwerks dieser sehr speziellen russischen Pianistin, das dauert eine gute Stunde, danach bluten ihm vermutlich die Hände.

Denn die pianistischen Erfordernisse sind von der Art, dass Klavierspieler, die sich an Ustwolskajas Sonaten machen, erhöhte Beiträge zur Berufsunfähigkeitsversicherung entrichten müssen.

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Fremdwohlwollend: Chiaroscuro Quartett spielt Fanny Hensel, Haydn, Schubert

Komponistinnen! In der Gegenwartsmusik mags nicht ideal, aber besser aussehen, doch im klassischen Kanon bleibts heikel. Im Clara-Schumann-Jahr könnte man sich fragen, warum alle Welt diese Künstlerin Clara zu nennen sich erlaubt (niemand würde von Robert oder Johannes sprechen). Die verdienstvolle Arbeit des seit 40 Jahren arbeitenden Frankfurter Archiv Frau und Musik wurde kürzlich von der örtlichen FDP torpediert. Und im VAN Magazin beginnt dieser Tage eine Serie, in der 250 Komponistinnen vorgestellt werden. Den Namen Fanny Hensel aber kennt jeder, kaum jedoch Hensels Musik. Es sei denn, man ist bei dem unbedingt hörenswerten Chiaroscuro Quartett im Pierre-Boulez-Saal dabei.

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Sanfttröstend: Sampson und Bezuidenhout im Boulezsaal

Ariadne auf Naxos, sich nach einem Clavier sehnend I

Gelobt sei die Kunst des sinnigen Sichversprechens und Sichversingens! Nur ein die und ein der vertauscht, und schon ersetzt der Großvater die Oper: Flieht, was der Opa singet und folgt der Phantasie. Wie schön ist das denn! Wahrlich von tieferem Sinn aber, wenn die wunderbare Sopranistin Carolyn Sampson nicht singt Doch nein, laß mir mein Leid und meine Zärtlichkeit, sondern: mein Leid und seine Zärtlichkeit. Die Zärtlichkeit des Leids. So geschehen in einer Ode an das Clavier von Friedrich Gottlob Fleischer, einer von vielen wertvollen Raritäten, die man an dem schönen, klugen Liederabend von Sampson und dem sorgsamen Pianisten Kristian Bezuidenhout im Pierre-Boulez-Saal kennenlernen darf.

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Unaushaltbar: Abschluss der Quartett-Woche mit dem Hagenquartett

Höhepunkt zum Abschluss der irreführend benamsten, da zehntägigen Streichquartett-Woche im Pierre-Boulez-Saal: Das Hagenquartett spielt am Sonntagnachmittag Kurtág, Schostakowitsch und Beethoven. Kaum zum Aushalten, in mancherlei Hinsicht.

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Streichquartett-Woche: Belcea spielt Haydn und Janáček

„Seids vernünftig, sonst gibts eins mit dem Staberl über!“ (Schiller)

Abgenudeltster Über-Streichquartette-Einstieg: dieses berühmte Kant-Zitat (oder wars Konfuzius), demzufolge man vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten höre und dabei langweile. Bei Joseph Haydn aber hört man manchmal eine Person, die sich mit dreien unterhält, und Vernunft ist nicht alles, Vergnügen und Spielkultur sind von wenigstens gleicher Bedeutung. Und wenn im Menuett des d-Moll-Quartetts Hob. III:76 der Tanzbär hudelt, ist Vernunft schon gar keine Kategorie. Oder in diesem Largo e cantabile im G-Dur-Quartett Hob. III:41, einem erstaunlich pathetischen, teils sogar harschen Satz.

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