Entcoronaisierung allüberall (hoffnungsvoll), die Cafétische sind voll, die Parks sowieso, die Single gebliebenen Nachtigallen trällern sich die Seele aus der Brust – wer jetzt kein Weib hat, balzt sich keines mehr, schreibt Rilke, aber das wissen die Vögel ja nicht. Wir hingegen radeln beschwingt, frischgetestet und halbgeimpft zum Pierre-Boulez-Saal, wo pilotprojektweis‘ konzertiert wird. Großer Radlerpulk auf der noch immer peinlich radspurlosen Monsterfahrbahn Unter den Linden, einzig und allein der Tagesspiegelkritiker wartet gutbürgerlich aufs Ergrünen der ewig roten Ampel.
Das französische Diotima-Quartett ist vielgerühmte Expertin für neue Musik – und die erste Konzerteröffnung nach langer Zeit mit Franz Schuberts „Rosamunde“-Quartett a-Moll grenzt an einen Missgriff, einerseits programmplanerisch, andererseits auch interpretatorisch. Arg gepflegt fließt der erste Satz dahin und zerfällt dadurch. Auch danach bleibts allzu behäbig, auch wenn der Klang leicht ist. Dann kanns gar nach Rokoko-Divertimento klingen, dieser Schubert ist verhalten in Verzweiflung wie Jubel und darum irgendwie kein Schubert. Es geht mir wie mit dem Beethovenspiel des großen Pierre-Laurent Aimard vor etwa zwei Jahren, ich empfinde es als Irrtum.
Alles vergessen, als wir den Tempelbezirk der weisen Diotima betreten! Bei Pierre Boulez kommt man mit dem (unvermeidlichen) akkuraten Abzählen weiter als bei Schubert. Sinnlichkeit ereignet sich dann von selbst. Anno 2018 hörte ich am selben Ort die posthum komplettierte Endlos-Fassung von Boulez‘ Livre pour quatuor mit dem Arditti-Quartett, das grenzte damals an ehrfürchtige Quälerei. Ich schrieb ratlos: Erstaunlich, dass Boulez‘ hyperrationale Musik derart Vertrauenssache ist. Wer nicht gerade einen Serialismus-Lehrstuhl bekleidet, der kann nur darauf hoffen, dass die vier Musiker nicht spaßeshalber alles von hinten nach vorn spielen. Oder aus Jux jeden siebten Ton weglassen. Doch beim Quatuor Diotima, das sich auf die Urfassung vulgo Keimzelle von 1948/49 beschränkt, vertraut und glaubt man bedingungslos. Und genießt, gerade weil es unendlos ist.
Vor Beginn des pandemiebedingt pausen- wie buffetlosen neunzigminütigen Konzerts bewunderte ich den Handwasch-Guide in der Boulezsaaltoilette, hyperdeterminiert wie eine serialistische Arbeit des kontrollwütigen Namenspatrons. Gut, nach des Maîtres hochrationalen Plings und Tupfs die intensiven offenen Linien von Alban Bergs sechssätziger Lyrischer Suite (1925/26) zu hören, Meisterwerk der vorwärtsschreitenden Wiener Moderne wie des rückwärtssüchtigen post-fin-de-siècligen Liebeskummers! Oh, das Raunen und Wuseln des Allegretto gioviale, ah, das heftige Brodeln von Sehnen und Leiden im Adagio appassionato, oh, die Blitze im Presto delirando, als flitzten und fleuchten die weißen Mäuse aus den Streichinstrumentkorpussen (und gleich hernach kröche das Gewürm) – und schließlich ah, das ins totale Verlöschen führende Largo desolato. Da merkt man dolle, was einem gefehlt hat in der konzertlosen Zeit, in jeder Faser von Körper und Seele. Ohne FFP2-Maske wärs noch feiner auf Dauer, aber irgendwann wird auch das wieder. Entcoronaisierung, allüberall, hoffen wir fest drauf.
Weitere Kritik: Tagesspiegel
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