Schlechte Vorsätze überstehen nicht mal das erste Wochenende: Der Konzertgänger wollte doch, wenns endlich wieder losginge, nicht mehr allabendlich in die Säle sausen! Nun aber, da der öffentliche Konzertbetrieb wieder begonnen hat, ist er am Freitag wie am Samstag auf der Piste und lässt auch den Sonntag nicht aus. Im Akkord getestet und dauermaskiert. Denn es ist ja wie ein Wiedersehen mit guten alten Bekannten, die man allzu lang vermisst hat: Iván Fischer und Anna Prohaska im Konzerthaus, die Berliner Philharmoniker, Vladimir Jurowski und „sein“ RSB. Es fühlt sich an wie Heimkehr.
Und zwar Heimkehr ins Offene. Die Schellen klingen wie bei der Losfahrt einer sinistren Kutsche oder eines Winterschlittens, wenn im Konzerthaus am Gendarmenmarkt die Vierte von Gustav Mahler beginnt, seine am kleinsten besetzte Sinfonie. Auf dem Kutschbock sitzt Iván Fischer, das Gegenteil eines Peitschenschwingers. Den Hörer aber springt sie regelrecht an, die Freude der Musiker des Konzerthausorchesters, endlich wieder vor Publikum zu spielen: gerade dieses Werk, gerade mit diesem Dirigenten.
Vor anderthalb Jahren dirigierte Vladimir Jurowski Mahlers Vierte mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester ebenfalls im Konzerthaus, in großen Bögen. Iván Fischer dagegen scheint immer der Dirigent des beseelten Moments. Oder auch des entgeisterten Augenblicks, in dieser wankend-ungewissen Mahler(un)behaglichkeit. Die trösten uns ja innig, all diese tirritierten Harmonien und verstörten Idyllen. Wie auch das ganze Ringsum im Konzerthaus, denn es ist alles wie früher: Das erste Bonbonpapierknistern in der schönen Haydn-Szene Berenice che fai, die Anna Prohaska (sie wird, als Einspringerin für Nuria Rial, auch das Solo im Mahlerfinale singen) am Anfang des Konzerts kunstvoll darbietet. Das erste Handybimmeln im Mahlerkopfsatz. Das erste Weinen des Konzertgängers im langsamen Satz. Da kann Adorno noch so klug von Mahlers Als-ob-Musik geredet haben. (Zum Konzert)
Fürs Konzerthaus gabs online nur Doppelplätze zu buchen, was in den sozialen Netzwerken für böses Blut sorgte. Der Konzertgänger war versucht, den wild Zürnenden auf Facebook spontane Paarbildungen zu empfehlen. Zwei Fliegen wären da mit einer Klappe geklappt: der Musikhunger gestillt wie der Grimm der Vereinzelung befriedet! Im Saal sah man dann übrigens sehr wohl ganz unvergrimmte Einzelbesucher. Am Kartentelefon werden Sie geholfen, so ist zu erfahren.
Anderer Ansatz in der Philharmonie, nämlich nur Einzelsitze mit obligatorischer Sicherheitslücke, auch für Paare. Ein zukunftsträchtiges Modell für langjährige Abonnenten-Ehen? Die Frau des Konzertgängers hat sich jedenfalls (nach nunmehr anderthalb Jahren intensivstem Home-Office-Home-Kindergarten-Home-School-Home-Family-uws-usf) nicht über den Zwangsabstand zum Lebensgefährten beschwert, während sie den Berliner Philharmoniker mit dem vorzüglichen finnischen Dirigenten Sakari Oramo lauschte. In Jean Sibelius‘ 2. Sinfonie gibts die bei Mahler 4 entbehrten Posaunen, unsere Ohren atmen bedürftig die sibeliusschen Mischklangexzesse, und spätestens beim großen schrulligen Schlusshymnus, dieser kauzigen Apotheose, haben wir keinen Zweifel mehr, warum wir solche Orchester in solchen Räumen hören wollen, nein, müssen. Aber das ahnten wir bereits zu Beginn des Abends bei Unsuk Chins beeindruckendem Klavierkonzert, entstanden 1996 und möglicherweise schon „Repertoire“: Denn am selben Abend wie in Berlin wird es auch in Kopenhagen gespielt, dort mit dem Solisten Francesco Piemontesi, hier mit dem jungen Südkoreaner Sunwook Kim. Als es losgeht, ist es nach so langer Live-Abstinenz beinah eine Klangreiz-Überflutung mit dem virtuosen Part in überwiegend hohen Lagen, ständig versilbert und umschillert von allerlei Geklöppel und Flöten, Celesta, Harfe. Ein feiner Rausch. Als Zugabe spielt Sunwook Kim das A-Dur-Intermezzo von Brahms. (Zum Konzert)
Ad astra (ohne zeneca) schließlich am Sonntagabend, als Vladimir Jurowski und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) zum Höhepunkt ihrer diessaisonalen Strawinsky-Reihe laden. Gerade noch rechtzeitig gelockert, in dieser Hinsicht! Ein ganz ausgefallenes, witzig und stimmig komponiertes Programm mit lauter hörenswerten Raritäten, gemeinsam mit dem erlesenen RIAS Kammerchor – von Shakespeareliedern bis zu Katzengesängen, vom ekstatischen bäuerlichen Paarungsritus bis zum biblischen Ehezank im Angesicht der Katastrophe.
Da weigert sich Frau Noah nämlich zunächst halsstarrig, die Arche zu betreten (heute wäre sie wahrscheinlich „Impfskeptikerin“), aber ihre Kinder quengeln sie dann doch an Bord. Strawinskys Die Flut von 1962 ist ganz unweihevoll, und zwar gerade aus Religiosität: Niemals könne ein Kunstwerk sich auf dieselbe Ebene stellen wie die „heilige symbolische Handlung des Gottesdienstes“, ist im Programmheft von Strawinsky zu lesen. Die spirituelle Skrupulösität ist musikalisch reizvoll: Gott erscheint als tiefe Doppelstimme aus der Höhe, von ständigem Großtrommeldonnertakt begleitet – zwei Bässe singen von der Orgelempore, während Luzifer als Hallodri-Tenor irdisch übers Podium hampelt.
Reduziert, aber nicht karg. Und doch, ein wenig spröde und schütter wirkt der ganze Spätstrawinsky ja doch angeohrs der Reizausschüttungen in Les noces, die fast 50 Jahre früher enstanden. In dieser wüsten Eheschließungssause scheint die inhärente Lustigkeit des kurz zuvor entstandenen Sacre bestens gelaunt explodiert. Bei den selbstausgedachten ulkigen Ritualen könnte man verwegen sogar an Stockhausens Inori denken, nur dass Les noces halt tausendmal lustiger ist. Und fetziger, denn gespielt wird die Fassung von 1919, die an Instrumenten neben Schlagzeug, Harmonium und selbstklimperndem Automat-Pianola (armer Dirigent!) auch noch zwei Zymbals verlangt, hierzulande als Hackbretter bekannt. Kein Wunder, dass diese herrliche Version kaum je gespielt wird – aber jammerschade!
Der Reiz des Zymbals war zuvor schon in Strawinskys sarkastischer Füchsin-Parabel-Burleske Renard (1915/16) zu hören. Auch darin machten alle Gesangssolisten einen bestechenden Eindruck. Und das RSB begeisterte durchweg rhythmisch behände und mit leichtfüßiger, doch jederzeit zu Derbheiten fähiger Präzision, auch bei dem vertracktesten Zeugs. Jeweils zwei Trompeten, Blockflöten und natürlich Fagotte (bei Strawinsky eh das musikalische Herz) traten in verschiedenen kürzeren Duo-Stücken hervor, und überhaupt war das ein unerhört reicher Abend, durch den der Moderator Stefan Kaminski ziemlich witzig führte; als Noah hörte man ihn lieber, als wenn er Strawinskys Stimme nachmachte, aber Hut ab, wie er bei den Dramoletten und dergleichen alle Sprechrollen selbst übernahm. Auflockernd, aber angenehm dezent waren die szenischen Elemente von Amisha Bondy. Und in Strawinskys letzter Komposition, dem faszinierend scheinbar skizzenhaften Lied The Owl and the Pussy-Cat, begleitete Jurowski selbst die Mezzosopranistin Alice Lackner am Flügel. (Zum Konzert)
So viel Fremdes beim Wiedersehen mit alten Bekannten – besser kanns nicht neu beginnen! Den erschöpften Konzertgänger aber bringen fürsorgliche Philharmoniebesucher Sonntagabend nach Hause zu seiner Familie:
angeaugs dieser kommentare, der lange entbehrten, schießen tränen der rührung und der wiedersehensfreude ein und geben das gefühl von heim=angekommen!!!
vielen dank, hoffentlich geht’s wieder dahin mit oder ohne geraschel per opus ad opus…….
Vielen Dank. Hoffen wir alle gemeinsam …