Wichtige, lobenswerte, erfreuliche Durchlässigkeit vom Spezialistenreservat in den normalen Konzertbetrieb und umgekehrt: Der aus Serbien stammende Stuttgarter Komponist Marko Nikodijević, dessen Musik das Rundfunk-Sinfonieorchester unter Vladimir Jurowski vor Mahlers Vierter spielt, ist auch beim gerade laufenden Ultraschall-Festival für neue Musik zu hören. Und Nikodijevićs „да исправится / gebetsraum mit nachtwache“ scheint beim RSB-Publikum im Konzerthaus großteils gut anzukommen; trotz einer Dame, die zwanzig Minuten lang immer wieder „Das ist doch keine Musik“ murmelt, wie dem Konzertgänger in der Pause berichtet wird.
Trotz seitenlanger Erläuterungen des kompositorischen Vorgehens und der religiös-theologischen Hintergründe des Stücks ist „да исправится / gebetsraum mit nachtwache“ als Hörerlebnis oft von effektvoller Einfachheit. Da ist der eine Ton, von dem alles ausgeht und sich entfaltet, ein bordunhaftes g. Da ist auf einem Höhepunkt eine mächtige archaische Monodie aller Bläser und der Kontrabässe, nicht aber der anderen Streicher. Da ist durchaus auch spätromantische Schamlosigkeit, wenn mächtig gewaltig die Orgel reinbuttert.
Das mag kein Meilenstein der Musikgeschichte sein, und auf einem Neue-Musik-Festival gäbs eventuell Buh-Rufe. Aber was dort als Gegenargument gelten könnte, nämlich dass das wegen Gustav Mahler gekommene Otto- und Ottilie-Normalpublikum begeistert jubelt: Das ist doch was! Es macht einfach Spaß zu hören, ohne dass es dumm wäre.
Insofern hat sich Jurowskis Idee schon bewährt, Marko Nikodijević als „Composer in residence“ zum RSB zu holen. „да исправится / gebetsraum mit nachtwache“ ist ein Auftragswerk des Orchesters. Am Sonntag spielt das RSB noch ein Stück von ihm – dann aber in einem reinen zeitgenössischen Programm bei Ultraschall, in der schönen alten Akademie der Künste am S-Bahnhof Bellevue. Und da kann man gespannt sein, wie sich Nikodijević zwischen Verunelli, Ratkje, Kampe machen wird. Und ob das RSB mit derselben Hingabe musiziert wie im Konzerthaus unter seinem Chef Vladimir Jurowski!
Dabei hat Jurowski vor dem Konzert in einer (nicht zu kurzen, er hat einfach viel zu sagen) Ansprache offen durchblicken lassen, dass er sich eine etwas längere Komposition erwartet hatte. Was über die Qualität natürlich nichts aussagt. Und darum setzt Jurowski, denn er ist skrupulös und seine Programme sind immer interessant, spontan noch ein Stück an den Beginn des Programms: das Orchesterlied vom Himmlischen Leben von 1892, das Gustav Mahler einige Jahre später zum Finale seiner 4. Sinfonie G-Dur erweiterte. So werden diese einfachen Kinderworte aus Des Knaben Wunderhorn zur Klammer des Konzertprogramms, bergen auch Nikodijevićs von sehr erwachsenen orthodoxen Riten beeinflusste Musik in sich.
Und man darf also die hervorragende Mezzosopranistin Alice Lackner, die kurzfristig für Katharina Konradi (den prima Hirten aus dem 2019er Bayreuther Tannhäuser) eingesprungen ist, am Anfang und am Schluss hören. Das ist ein stupender Effekt. Schon im Orchesterlied, das in seiner schlanken Besetzung deutlich von den Holzbläsern geprägt wirkt, überzeugt Lackner sehr, und wie dann erst im Finale der Sinfonie: Die Umschläge der Stimmungen in dieser ziemlich schaurigen Paradies-Vision führt sie drastisch vor, mit hörbarer Intelligenz und dabei immer schön anzuhören.
Ähnlich das RSB: transparent und kantig in der ganzen Sinfonie. Erst in den Zwischenspielen des Himmlische-Freuden-Finales mit seinen albtraumhaften Ausschlägen und Schlachtvisionen kommt es zur größten Schärfe, die vorher klug ausgespart wurde. Simon Rattle setzte vor einigen Jahren bei seiner Vierten mit den Philharmonikern auf demonstrative Schärfe von Beginn an. Hier aber steht am Beginn des ersten Satzes enorme Durchhörbarkeit und geradezu mozarthafte Leichtigkeit, der aber spürbar nicht zu trauen ist. Denn harmlos ist hier ja nichts, schon die Adjektive in den Satztiteln springen einen verdächtig an: bedächtig, gemächlich, ruhevoll, sehr behaglich. Wer da nicht Lunte riecht, dem ist nicht zu helfen. Und trotzdem kommt der unvermittelte Knall des von Mahler sogenannten Kleinen Appells als echter Schocker.
Jurowski aber quetscht und quietscht all das Schiefe nicht heraus, sondern kommt hinten- und untenrum, genau wie Mahler. Das perfekt strukturierte Klangbild des Orchesters ist wunderschön, ohne aber irgendwas zu glätten. Und so tritt auch die Bizarrerie des zweiten Satzes (vor allem mit der höhergestimmten Zweitgeige von Konzertmeister Rainer Wolters) wie von allein hervor, ohne dass sie nach dem Motto Deutlich für Doofe ausgestellt werden müsste. Und im dritten Satz strahlt die klare Wärme der farbenreichen RSB-Streicher eine, man möchte fast sagen: menschliche Güte aus, die doch vom unvermeidlichen Einbruch des Schrecklichen immer schon weiß. Kurzum, da will der Konzertgänger seinen Lothar-Matthäus-Dritte-Person-Stil mal fahrenlassen und konstatieren: Ich glaube, das war die beste Mahlervierte, die ich je im Konzert gehört habe.