Hüpfnotisch

Philip Glass‘ EINSTEIN ON THE BEACH

Als „Gehirnwäsche“ bezeichnete meine gleichermaßen konzertsüchtige wie meinungsfreudige Bekannte K. einmal den sogenannten Minimalismus. Philip Glass‘ Einstein on the Beach von 1976 war jedenfalls schon „immersiv“, bevor sich mittels dieses Zauberworts jeder Jungklangkünstler jede Strapazierung von Publikumsgeduld und -grenzen erlaubte. Jetzt gab es eine Fassung dieser handlungsfreien Oper von Susanne Kennedy und Markus Selg im Epizentrum der künstlerischen Immersion, nämlich dem Haus der Berliner Festspiele, das architektonisch sowas ist wie die kleine Schwester der Deutschen Oper, aber schöner gelegen.

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Übermorgendlich: „Die Stadt ohne Juden“ mit Musik von Olga Neuwirth

Bei diesem beklemmenden, befremdenden Filmdokument werden die Zeitfragen, welche das Festival MaerzMusik sich derart wortreich-allzu wortreich ins Thinking konzipiert hat, mal fürchterlich sinnfällig: Die Stadt ohne Juden, ein österreichischer Stummfilm von 1924 nach einem 1922 erschienenen Roman von übermorgen von Hugo Bettauer. Jahrzehnte verschollen gewesen, erst Anfang der 1990er Jahre in einem niederländischen Archiv und dann 2015 auf einem Pariser Flohmarkt wiedergefunden, mit Hilfe von 700 Privatpersonen per Crowdfunding vom Filmarchiv Austria restauriert, während in Europa die Flüchtlingskrise gärte und Politiker in Österreich und den USA Wahlen gegen Flüchtlinge gewannen. Die österreichische Komponistin Olga Neuwirth hat eine ambitionierte, sinnliche, kluge und dennoch teils problematische Musik dazu geschrieben, die jetzt auch in Berlin aufgeführt wurde, im Haus der Berliner Festspiele.

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Zeitblubbernd: Eröffnung MaerzMusik mit Rzewski und Rădulescu

Nach der antiken Klepsydra ist eins der beiden Werke im Eröffnungskonzert der MaerzMusik benannt: einer der Sanduhr ähnlichen, nur eben feuchteren Wasseruhr. Das Plätschern und Blubbern von ablaufendem Wasser meint der Konzertgänger zu vernehmen, wenn er so durchs diesjährige Seminarprogramm des Festivals für klangbezogene Kunstformen (jede Menge Vorträge, Panels, Reading group etc.) und durch den Reader on Time Issues (Agamben, Diederichsen usf.) blättert. Einiges mag sich als aufschlussreich konkret herausstellen, etwa die „medienarchäologischen Zeitreisen“ der Tele-Visions. Dezente Schwerpunkte widmen sich z.B. den Komponistinnen Ashley Fure, Jennifer Walshe, Olga Neuwirth. Und die 30stündige Konzert-Exuberation The Long Now am nächsten Wochenende ist wieder Anker und Zielpunkt des Festivals.

Die Werke des ersten Abends im Haus der Berliner Festspiele sind wie klares Wasser – in einem dennoch strapazierenden Konzert, in dem der Durchlauf der Wasseruhr gelegentlich verstopft scheint.

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Erzliebend: Lang und Meese ödipussen Wagners „Parsifal“ auf den Mond

Keine Peilung, ob dieser Jonathan Meese nun ein Erzkünstler ist oder ein Erzschamloser: sozusagen die Hochkulturvariante der Unverschämtheit-siegt-Strategie, die in der Mittel- und Tiefkultur Myriaden von talentfreien Gestalten in die Prominenz führt (berühmt fürs Berühmtsein) oder einen einzelnen Erzmoronen auch mal ins Weiße Haus. Wahrscheinlich beides: Erzkünstler und Erzschamloser. Das verbindet ihn aber doch mit Richard Wagner, dessen Parsifal Meese nach seiner schnöden Herausbugsierung aus Bayreuth erst in Wien und jetzt im Haus der Berliner Festspiele auf den Mond schießt. Bernhard Lang komponiert das Bühnenweihfestspiel um, auf, drunter und drüber.

Und das alles: aus Totalstliebe zu Richard Wagner. Weiterlesen

Hörstörung (16): Ein Herr diniert beim Mondparsifal

Unkompliziert, pflegte meine Tante Edelgard (Allah habe sie selig) süffisant zu sagen, wenn jemand sich flegelhaft benahm, etwa bei Tisch telefonierte. Was hätte sie wohl zu jenem korpulenten Herrn mit rotem Hemd und breiten Hosenträgern gesagt, der, im letzten Moment vor Beginn von Meese-Lang-Wagners Mondparsifal in den Saal hetzend und sich in seinen Sitz plumpsen lassend, in Windeseile eine dampfende Börekstange (mit Spinat und Käse) auspackte und seiner charmanten Begleiterin kredenzte, sodann sich selbst eine zweite dampfende Börekstange (mit Spinat und Käse) kredenzte und bei Beginn der Ouvertüre herzenslustig weiter daran herumschnabulierte? Eben. Was soll man da anderes sagen als: Unkompliziert.

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16.3.2017 – Entschwurbelnd: Eröffnung MaerzMusik mit Catherine Christer Hennix

Vergessen alles Geschwurbel, als die Musik beginnt. Genauer gesagt: als man merkt, dass sie längst begonnen hat. Denn zwei Arten von Geschwurbel stehen Wache am Tor zur MaerzMusik, dem ehemaligen Festival für neue Musik, das sich seit drei Jahren Festival für Zeitfragen nennt. Durch dieses schröckliche Tor muss am Donnerstag auch das Eröffnungskonzert im Weddinger silent green Kulturquartier, wo Catherine Christer Hennix‘ Minimalismus-Mysterium The Electric Harpsichord (1976, Neufassung 2017) im Zeichen des Nur erklingt.

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17.9.2016 – Verfilzt: Ensemble Resonanz und Tabea Zimmermann spielen Saunders, Poppe, Schubert

giovanni_folo_agostini_tofanelli_-_a_ninfa_ecoDas Musikfest Berlin bietet nicht nur großorchestrale Feuerwerke, sondern auch kammermusikalische Sternstunden. Eine fand am Samstag statt: Das Ensemble Resonanz (beheimatet in St. Pauli und bald, oho, erstes Residenzensemble im Kammermusiksaal der Elbphilharmonie, quasi als Resonanzresidenz) präsentierte ein Programm von zeitlicher wie ästhetischer Überlänge, in dem Franz Schubert, Enno Poppe und Rebecca Saunders einander resonierten und echoten. Und zwar in der klammerförmigen Anordnung Schubert/ Poppe/ Saunders/ Saunders/ Poppe/ Schubert, summa summarum etwas über 180 Minuten, keine zuviel. Weiterlesen

15.9.2016 – Veränderlich: John Adams bei den Berliner Philharmonikern

Für das Bekenntnis, dass mir der Klang von Zwölftonmusik überhaupt nicht gefällt, wird heutzutage zum Glück niemand mehr vor den Darmstädter Wohlfahrtsausschuss zitiert. So kann sich der amerikanische Komponist John Adams (der das 2008 in seiner Autobiografie schrieb) ohne Gefahr für Leib und Leben ins Alte Europa begeben, um hier ein Jahr als Artist in Residence der Berliner Philharmoniker zu verbringen. 2012 war er bereits mit dem BBC Symphony Orchestra beim Musikfest zu Gast, um seine Oper Nixon in China konzertant aufzuführen.

Adams eröffnet sein erstes Konzert in der Philharmonie mit der dreiteiligen Harmonielehre (1985), deren Titel sich auf Arnold Schönbergs Buch von 1911 bezieht (hier eine lustige zeitgenössische Lobbuckelei des Schönbergianers Heinrich Jalowetz). Wunderbar, dieses berühmte Stück von Adams einmal live zu hören: nicht weniger als ein Hauptwerk des 20. Jahrhunderts, wenn man Alex Ross‘ Buch The Rest Is Noise folgt, Weiterlesen

14.9.2016 – Sorgfältig ekstatisch: Bayerisches Staatsorchester, Kirill Petrenko, Frank Peter Zimmermann spielen Ligeti, Bartók, Strauss

anthony_van_dyck_-_family_portraitSelbst eingefleischte Richard-Strauss-Muffel wie der Konzertgänger können dieser Sinfonia Domestica nicht widerstehen, die das Konzert des Bayerischen Staatsorchesters beim Musikfest Berlin in der Philharmonie beschließt. Die Kluft zwischen dem privaten Sujet und den musikalischen Mitteln des Werkes (womit nicht die Größe des Orchesters gemeint ist, sondern die pompöse Klangsprache) ist und bleibt zwar bizarr, ja lächerlich. Sinfonische Dichtung Ein Eheleben. Der Konzertgänger kann nie umhin, sich bei den instrumentalen Potenzierungen des dritten Themas ein 60 Meter großes Frankensteinbaby „Bubi“ vorzustellen.

Aber das Bayerische Staatsorchester zeichnet sich unter Kirill Petrenko durch eine so hinreißende Klangkultur aus, dass alles egal wird. Weiterlesen

11.9.2016 – Fraktal: Junge Deutsche Philharmonie, Nott, Kuusisto spielen Varèse, Ligeti, Beethoven

toffifee

Philharmonie (Detail)

Die Tochter des Konzertgängers kommt am Sonntagvormittag nicht nur deshalb mit in die Philharmonie, weil deren goldene Fassadenplatten sie an Toffifee erinnern, sondern auch weil der Geiger Pekka Kuusisto und die Streicher der Jungen Deutschen Philharmonie sich in György Ligetis Violinkonzert (1990) alles erlauben dürfen und müssen, was die Geigenlehrerin ihrer Schülerin auszutreiben versucht: Weiterlesen

9.9.2016 – Arkanisch: Berliner Philharmoniker mit Andris Nelsons spielen Debussy, Varèse, Berlioz

Scheinbar wohlig, weich, warm ist Edgar Varèse hier gebettet zwischen Debussy und Berlioz, trotzdem sind die Arcana (1927, rev. 1960) in diesem gelungenen Konzert alles andere als Alibi-Moderne. varese1-kleinMancher im Publikum stöhnt auf bei dieser bumpernden, schrillen, mitreißenden Attacke aufs Gehör. Dabei sollte auch der Varèse-Muffel froh sein, dass die Berliner Philharmoniker nicht Dieter Schnebels Ratschlag folgen und verlangen, diese Musik ohne Kleider zu vernehmen. (Ein Nackt-Konzert wäre vielleicht mal eine Idee fürs Radialsystem.)

In der Tat sind die Arcana eine unmittelbare leibliche Erfahrung, zugleich äußerst kurzweilig wegen der simpel wirkenden Kontrasttechnik von gewaltigem Anschwellen und abrupter Stille. Das wirkt keineswegs zerrissen, stattdessen entsteht ein Flow, der an das eingangs gehörte Prélude à lʼaprès-midi dʼun faune von Claude Debussy erinnert, aber alchemistisch verhexenküchelt: Weiterlesen

7.9.2016 – Sphärisch: Rued Langgaard und 1. Akt Walküre mit der Deutschen Oper beim Musikfest

harnonicesmundiNur ca. 2,37 % der Besucher sind wegen Rued Immanuel Langgaards Sphärenmusik in die Philharmonie gekommen, darunter der Konzertgänger; aber der 1. Aufzug von Richard Wagners Walküre ist auch ganz hübsch. Wenngleich Tomi Mäkelä im sphärisch mäandernden Programmheft schreibt:

DIE WALKÜRE ist im Vergleich zu Langgaards „Sphärenmusik“ leichte Kost.

Word! Aber bei einer Luxusbesetzung mit Peter Seiffert, Anja Harteros und Georg Zeppenfeld darf man zumindest von Feinkost sprechen, Delikatesse, Comestibles, hochergötzlicher Ohrenschmaus.

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6.9.2016 – Unbehaglich: Münchner Philharmoniker und Valery Gergiev spielen Ustwolskaja und Schostakowitsch

Zwei Wege ins Innerste, einer der äußersten Stille (Nonos Lontananza) und einer der äußersten Härte (Rihms Tutuguri), prägten das Eröffnungswochenende des Musikfests Berlin. Im Gastspiel der Münchner Philharmoniker unter Valery Gergiev nun treffen beide, Stille und Härte, in einem Konzert aufeinander: in Galina Ustwolskajas 3. und Schostakowitschs 4. Sinfonie.

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Galina Ustwolskaja (1919-2006)

Lange hat das allzu spärlich erschienene Publikum Gelegenheit, die ungewöhnliche Besetzung von Galina Ustwolskajas Sinfonie Nr. 3 „Isése Messija, Spasi nas!“ für Sprecher und Orchester zu studieren: an Streichern nur Kontrabässe, als Instrumente der Tiefe außerdem Posaune und drei Tuben; für die Höhen je fünf Trompeten und Oboen; dazu ein Klavier und drei Schlagzeuger (2 Große, 1 Tenor-Trommel). Denn der Maestro und der Rezitator lassen lange auf sich warten, auch als es aus Block K schallt: Hallo, wir sind schon da! und ein Teil des Publikums sich des rhythmischen Klatschens nicht entblödet. Es wird unbehaglich, Gerüchte über Gergievs Allüren und Publikumsverachtung machen die Runde, jemand blökt: Geld zurück!

Aus gut informierten Kreisen ist aber nach dem Konzert zu erfahren Weiterlesen

3.9.2016 – Immersiv: Rihms „Tutuguri“ mit dem BR-Symphonieorchester

Nach dem bezaubernden kammermusikalischen Vorabend mit Isabelle Faust eröffnet das Musikfest Berlin offiziell und gelivestreamt mit einem solchen Klopper von Konzert, dass der Konzertgänger sich schon in der Pause wieder urlaubsreif fühlt – vier Tage nach seiner Rückkehr aus dem montanen Exil.

Auch wenn Wolfgang Rihms Tutuguri (1980-82) einen Angriff aufs Trommelfell (so Rihm im Interview) darstellt, ist es bei aller aggressiven Gigantomanie doch ein höchst pragmatisches und disponentenfreundliches Werk. Weiterlesen

2.9.2016 – Raumzeitwandernd: GrauSchumacher Piano Duo und Isabelle Faust eröffnen das Musikfest

Salzburg hat eine Ouverture spirituelle, das Musikfest Berlin eine Art Ouverture conceptionnelle: Vor dem ersten dicken Sinfoniekonzert gibt es zwei Kammerkonzerte, eins über den Raum und eins über die Zeit. Bevor Isabelle Faust Luigi Nonos La lontananza aufführt, spielt das GrauSchumacher Piano Duo: Le temps, mode d’emploi (2014) von Philippe Manoury.

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