Ultraschall-Festival 1. und 2. Tag

Konzerte des DSO, des RSB und des SWR-Experimentalstudios

Mit zwei vielseitigen, teils prachtvollen Orchesterkonzerten sowie einem interessanten elektronischen Spätabendtermin eröffnet das diesjährige Ultraschall-Festival für neue Musik, endlich wieder in halbwegs normalen postpandemischen Umständen. Man geht einfach so ins Charlottenburger Haus des Rundfunks. Auf dem Programm am Mittwoch und Donnerstag stehen beim Deutschen Symphonie-Orchester (kurz DSO) und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) sage und schreibe acht verschiedene Komponistinnen; Männer sind mitgemeint. Dabei stehen die beiden Werke, die mich am wenigsten interessieren, an den gegensätzlichen Enden der Skala heutigen Komponierens – hier Autoreferenzialität der Musikgeschichte, dort explizites Engagement hinaus in die Welt.

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Erzliebend: Lang und Meese ödipussen Wagners „Parsifal“ auf den Mond

Keine Peilung, ob dieser Jonathan Meese nun ein Erzkünstler ist oder ein Erzschamloser: sozusagen die Hochkulturvariante der Unverschämtheit-siegt-Strategie, die in der Mittel- und Tiefkultur Myriaden von talentfreien Gestalten in die Prominenz führt (berühmt fürs Berühmtsein) oder einen einzelnen Erzmoronen auch mal ins Weiße Haus. Wahrscheinlich beides: Erzkünstler und Erzschamloser. Das verbindet ihn aber doch mit Richard Wagner, dessen Parsifal Meese nach seiner schnöden Herausbugsierung aus Bayreuth erst in Wien und jetzt im Haus der Berliner Festspiele auf den Mond schießt. Bernhard Lang komponiert das Bühnenweihfestspiel um, auf, drunter und drüber.

Und das alles: aus Totalstliebe zu Richard Wagner. Weiterlesen

Hörstörung (16): Ein Herr diniert beim Mondparsifal

Unkompliziert, pflegte meine Tante Edelgard (Allah habe sie selig) süffisant zu sagen, wenn jemand sich flegelhaft benahm, etwa bei Tisch telefonierte. Was hätte sie wohl zu jenem korpulenten Herrn mit rotem Hemd und breiten Hosenträgern gesagt, der, im letzten Moment vor Beginn von Meese-Lang-Wagners Mondparsifal in den Saal hetzend und sich in seinen Sitz plumpsen lassend, in Windeseile eine dampfende Börekstange (mit Spinat und Käse) auspackte und seiner charmanten Begleiterin kredenzte, sodann sich selbst eine zweite dampfende Börekstange (mit Spinat und Käse) kredenzte und bei Beginn der Ouvertüre herzenslustig weiter daran herumschnabulierte? Eben. Was soll man da anderes sagen als: Unkompliziert.

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13.3.2013 – Ra(s)tlos: Winterreisen von Elfriede Jelinek und Bernhard Lang bei MaerzMusik

Ein mysteriöser Schwerpunkt im überaus bunten Programm der diesjährigen MaerzMusik ist die Winterreise. Bevor am Dienstag der einzigartige Ian Bostridge im Kammermusiksaal den Liederzyklus singt, gab es am Sonntag im Haus der Berliner Festspiele zwei Variationen von unsicherem Verwandtschaftsgrad zu Schubert.

Elfriede Jelinek ist, wie die Komponistin Olga Neuwirth betont, kein männlicher Nobelpreisträgeranwärter, sondern eine weibliche Literaturnobelpreisträgerin, wird aber trotzdem oder gerade deshalb viel und meist von Männern geschmäht. Aus ihrem Theaterstück Winterreise (2011) liest die Schauspielerin Sophie Rois, die stets als fulminant bezeichnet wird, was hiermit ebenfalls geschieht: Sie schmollt, ruft, raunt, höhnt und jammert, dass es eine Freude ist, quetscht jede mögliche Pointe heraus. Nur leiern tut sie im Grunde nie. So scheint Jelineks rastlose Litanei, in der die Leierfrau ihre eigene Biografie ebenso plündert wie die ZIB-Nachrichten, mal phänomenal assoziierend, mal nervig kalauernd, manchmal fast zu unterhaltsam. Zwischendurch gibt es Winterreise-Lieder, gesungen von Julius Patzak; obwohl aus einem scheppernden Ghettoblaster, löst die Musik kurioserweise im Publikum sofort Hustenreflexe aus. Gute Nacht erklingt zweimal, zu Anfang und Ende, Sophie Rois singt am Schluss ein bisschen mit. Indem aber das Gutenachtlied, das Schubert so verstörend an den Anfang gestellt hat, dorthin zurückkehrt, wo es ja eigentlich hingehören würde, nämlich an den Schluss, wirkt diese Winterreise am Ende irritierend konventioneller als das Original.

Der zweite dubiose Verwandte ist The Cold Trip aus der Serie Monadologie des österreichischen Komponisten Bernhard Lang, über den man im Programmheft erfährt, dass er als Komponist gern in großen Zyklen in die Tiefe des Details denkt und die Simulation musikalischer Automatismen erforscht. Nun ist die großspurige Neue-Musik-Salbaderei ein Ärgernis für sich und sollte keinesfalls gegen einen einzelnen Komponisten gewendet werden. Aber dem Konzertgänger, der raffinierte Texturen zwar nicht intellektuell durchdringt, aber hörend genießt, bleibt Langs dürre Musik mit ihren kargen Wiederholungen und plakativen Abbrüchen verschlossen. Zuerst vom Aleph Gitarrenquartett, dann von Mark Knoop an Klavier und Laptop begleitet performen die Stimmakrobatinnen Sarah Maria Sun und Juliet Fraser eindrucksvoll den ins Englische übersetzten Text Wilhelm Müllers. Je länger, desto deutlicher hörbar werden gewisse Schubert-Module. Aber im Mittelpunkt steht die Hervorhebung der Winterwörter: cold, freeze, shiver, despair, sting zittern, bibbern und stechen die Stimmen, und wenn es crow heißt, krächzt Fraser krähenmäßig. Das ist lustig, aber auch so text(fetzen)nah komponiert, dass im Vergleich dazu das Wort-Ton-Verhältnis bei Richard Strauss geradezu abstrakt wirkt.

Das Publikum scheint aber großteils enthusiasmiert von diesem psychedelischen Palimpsest-Sampling.

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11.3.2016 – Konjunktivisch: Marino Formenti eröffnet die MaerzMusik

Dieses Konzert treibt dem Konzertgänger den Griesgram aus, der tief in ihm steckt: Sich einlassen oder gleich abhauen heißt die Devise, wenn der Pianist Marino Formenti die diesjährige MaerzMusik eröffnet, zum zweiten Mal mit dem Untertitel Festival für Zeitfragen. Dem Kritiker der Berliner Zeitung hat bereits die Lektüre des Programms die Laune verhagelt, Casus knacksus seines Tadels: zu viel Gelaber, zu wenig Musik. Nun hat sich auch dem Konzertgänger schon während seines geisteswissenschaftlichen Studiums das tolle Treiben der Diskurserotiker nie erschlossen, darum meidet er die umfangreiche Thinking Together-Konferenz des Festivals zum Thema Zeit und Digitalisierung (für Diskursmasochisten auch als 12stündiger Livestream) wie der Teufel das Weihwasser.

Aber der sympathische Pianist Marino Formenti, der das Eröffnungskonzert (vulgo Opening: Time to gather) im Haus der Berliner Festspiele gibt, ist alles andere als ein theorieseliger Plapperfroh. Wenn er in seinem italienisch gefärbten Wienerisch zum Publikum spricht, dann mit der Aufforderung, sich mal locker zu machen und bittebitte zwischendurch etwas zu trinken zu holen (aber, wir sind ja in Deutschland, nur Becher in den Saal, keine Gläser). Die Hörer sitzen nicht im Saal, sondern auf der Bühne ums Klavier, auf Sesseln, Sofas, Hockern, Bänken, dem Boden und weit verteilten Matratzen. Digitalisiert ist hier nichts, nur die Zeit dehnt sich: Es gibt kein festgelegtes Programm, zum Start ertönen die unterarmdreschende 6. Sonate von Galina Ustwolskaja und das ätherische Wiegenlied des alten Franz Liszt. Für das weitere Programm nimmt Formenti Wünsche entgegen, er hat die mitgebrachten Noten über mehrere Tische ausgebreitet; und das Publikum ist auch eingeladen, ans Klavier zu kommen und etwas vorzuspielen. Am Anfang zieht es sich, einige Interessierte schwarwenzeln ums Klavier, aber keiner traut sich so recht; man wäre schon dankbar, wenn jemand den Flohwalzer darböte.

Doch wer den inneren Griesgram überwindet und nicht abhaut, sondern abwartet und Tee trinkt (oder Sekt), der wird belohnt. Formenti spielt sehr wandelbar und zum Glück nicht als Hintergrundbeschallung, er bittet das relaxte Publikum während der Stücke um Ruhe. In größeren Abständen erklingen eine Sarabande von J. S. Bach, eine heftige Clusterbrumme von Giacinto Scelsi (im Unterschied zu Ustwolskajas spröde donnernder Hardcore-Spiritualität ein südländisch feuriges Klanggewitter, bei dem allerdings den Hörern auf der Matratze unter dem Flügel das Lachen vergehen dürfte), John Lennon, ein paar Takte Griechischer Wein,  eine Scarlatti-Sonate, eine Geschwind-Gnossienne von Eric Satie, introvertierte Préludes von Gaspard le Roux und dann wieder Cluster, diesmal frei nach Smells like Teen Spirit von Nirvana.

Als Formenti gegen 22 Uhr die Hörer für seine Verhältnisse fast unwirsch auffordert, aufzustehen und herumzugehen, zu trinken, zu flirten, sonst könnt ihr gleich in die Philharmonie gehen, entspannt sich der Konzertgänger zähneknirschend und legt sich auf eine Matratze in der Seitenbühne, was tatsächlich recht angenehm ist. Mittlerweile ist auch das Eis geschmolzen und einige Gäste setzen sich ans Klavier, offenbar ist mancher (Semi-)Profi im Publikum. Ein älterer Syrer namens Mohammed singt a cappella ein wehmütig wirkendes melismatisches arabisches Lied, später wagt sich ein todesmutiger Herr mit brüchiger Stimme an den Leiermann aus der Winterreise. Viel Bach, zwischendurch kann man rumgehen und die Bühnenbeleuchtung inspizieren oder Wein trinken; die Herren von der Qualitätspresse gucken weiterhin sauertöpfisch.

Durchaus unspontan und akkurat vorbereitet ist aber der Höhepunkt des Programms, den Mario Formenti kurz vor 23 Uhr spielt, das 30minütige Stück DW 12 Cellular Automata for solo piano (danke an Dominique Schweizer für den Titel) von Bernhard Lang zwischen Free Jazz, Nocturne und Klaviertechno, in dem irgendwann in einer Clusterkanonade auch die Fanfaren der Hammerklaviersonate auftauchen.

Ein ziemlich konjunktivisches, aber sehr sympathisches Konzert. In den nächsten Tagen gibt es vom Computer komponierte Musik und einen Winterreise-Schwerpunkt (Schubert ist immer zeitgenössisch), außerdem ein nächtliches Schlafkonzert und einen 30-Stunden-Gig.

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