Solide katastrophal: Nagano dirigiert Mahler beim DSO

Ein wenig haben die wohl nicht restlos glücklichen Jahre als Generalmusikdirektor der Staatsopern in München und Hamburg den Ruf von Kent Nagano lädiert. Aber seine regelmäßig wiederkehrenden Gastdirigate in Berlin, wo er von 2000 bis 2006 das Deutsche Symphonie-Orchester (DSO) leitete, empfinde ich ebenso regelmäßig als befriedigend und erfreulich. Nun hat Nagano an zwei Abenden in der Philharmonie beim DSO Gustav Mahlers 6. Sinfonie a-Moll: solide gelungene Saisonbeendigungskatastrophe.

Zu meinen nachdrücklichst erinnerten seiner DSO-Konzerte gehören jene drei, in denen Kent Nagano jeweils eine Bruckner-Sinfonie mit einem zeitgenössischen Werk kombinierte. Mahlers Sechste heute Abend aber steht (wie so oft) für sich; ob sie auch mal ein erhellendes oder kontrastierendes Vorspiel vertrüge? Dass so was nicht immer von Vorteil ist, zeigte vor einigen Wochen ebenfalls beim DSO ein frappierend langweilig aufgeführtes Mozart-Klarinettenkonzert vor Bruckners Sechster. Wie dem auch sei – dass in mancher Hinsicht Mahlers Sechste die größte Bruckner-Nähe aller Mahlersinfonien hat, wurde in der Nagano-Aufführung deutlich, die die klassischen Proportionen polierte, ohne das Exzessive zu verleugnen. Aber es wurde dieses Exzessive eben auch nicht übermäßig, harsch, heftig oder auch ermüdend ausgestellt. Nagano ist nicht der Dirigent, der Sieg durch Lautstärke erzielt. Und niemals peitscht oder quetscht er das Expressive heraus.

In der strittigen Mahler-6-Frage, ob nun der zweite Satz nach dem dritten kommt oder doch der dritte vor dem zweiten oder was, entscheidet Nagano sich für jene Variante, die Mahlers letzter Wille sein soll und die Bruckner absolut definitiv gewählt hatte: klarerweise Andante an zweiter, Scherzo (mit der bizarren Wiederkehr des Marschhaften aus dem ersten Satz) an dritter Stelle. Wie sich im Andante moderato das DSO-Holz zu gläsernen Klängen schichtet, gehört zu den beglückenden Höhepunkten der Aufführung. Der dritte Satz ist dann weniger Kopfsatz-Katastrophen-Reprise als ein tatsächliches Scherzo, wenn auch voller Schauder und grotesker Gebilde. In die Martialitäten des Kopfsatzes ging Nagano zuvor beinah dezent, mit Reserve.

Die fundiert nichtextreme Klangorganisation, die Nagano in den ersten drei Sätzen walten lässt, erlaubt dann eben noch die gigantische Steigerung des Finales. Fort alle Anflüge von Hoffnung zwischen den Katastrophen, am Ende ist da dieser eine Totalkollaps, auf die wir jederzeit erbarmungslos zurauschen, auch wenn wir uns glücklich wähnen. Das Scherzo öffnet die Schleusen zum Großen Schluss, wo wir mehrfach wiederkehrenden ungeheuerlichen Klanggebilden begegnen. Wie müssen die erst auf Mahlers Zeitgenossen gewirkt haben! Schließlich verzweifelte Anläufe zu gewaltsamen Apotheosen, umso heftigeres Zerfallen, Torkeln durch Trümmergebilde. Das Finale der Sechsten sprengt ja nach den fordernden, doch überschaubaren Sätzen 1 bis 3 im Grunde schon durch seine puren Ausmaße die Aufnahmekapazität des Hörers; aber bei Nagano fesselt es auch qua Übersicht.

Manchem Beiwohner mag diese Lesart fast zu gemäßigt sein. Aber fair enough, dass an ebenjenem Samstagabend die auf Moskau zurollenden und dann abrupt stoppenden Wagner-Panzer außermusikalisch die Dimension des so Brutalen wie Bizarren beisteuern. Was die legendären zwei Hammerschläge im Finale angeht (den dritten am Schluss strich der abergläubische Mahler nach der Uraufführung), so kann ich als notorischer Mit-geschlossenen-Augen-Hörer bestätigen, was Habakuk Traber im Programmheft schreibt: „Und bei den berühmten Hammerschlägen übersteigt die optische Wirkung meist die akustische.“ Man könnte bei Mahler das sehlose Hören übrigens durchaus problematisieren: Denn hat er nicht mehr als jeder Komponist vor ihm gewisse visuelle Effekte quasi mitkomponiert? Dennoch, der Durchschlagskraft dieser wieder einmal befriedigenden, erfreulichen Nagano-Aufführung tut das keinen Abbruch.

2022 hörte ich Mahlers Sechste mit dem Concertgebouw unter Shooting Star Klaus Mäkelä, wenig begeistert. Immerhin, Mäkelä kombinierte: mit Kaija Saariaho, die vor kurzem starb. Wie bei Nagano ganz für sich stand die Sechste 2020 bei Kirill Petrenko und 2018 bei Simon Rattle. Ich hätte Schwierigkeiten, eine persönliche Rangliste zu erstellen.

Weitere Konzertberichte: Fundiert bei Schlatz. Irgendwie im Tagesspiegel. Abwägend in der Berliner Zeitung.

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7 Gedanken zu „Solide katastrophal: Nagano dirigiert Mahler beim DSO

  1. Gerade bei einem, ähem, Streamingdienst die schöne Aufnahme des Terra Nova Collective mit Vlad Weverbergh am Bassetthorn entdeckt – kann man gut hören, bis auf die Ausschmückungen im zweiten Satz, die ich zu random finde, wie unsere Kinder sagen würden.

  2. Lieber Herr Selge,

    ich muss energisch widersprechen zum Mozart-Klarinettenkonzert. Ich fand, es war eine beglückende, weil ganz in sich ruhende und also der Musik vertrauende Aufführung. Und als Klarinetten-Dilettant habe ich sehr bewundert, wie Stephan Mörth über alle Register ausgeglichen und beseelt gespielt hat.
    Oder, um es viel einfacher zu sagen: Mit hat es gut gefallen!

    Den Mahler am Samstag fand ich auch besser als Sie, aber Sie fanden ihn ja auch gut 😉

    • Ihr Widerspruch ist natürlich höchst willkommen. An Mörths technischer Qualität und auch der Klangschönheit seines Spiels habe ich keinen Zweifel. Aber mir fehlten in diesem Konzert am 4.6. Schattierungen, mir fehlte Abgrund. Nicht ein einziges Mal dachte ich inmitten all der dahinfließenden Schönheit an den Tod. Hanus schien mir auch kein idealer Mozart-Dirigent. Beim DSO für mich umso mehr ins Gewicht fallend, weil dort ja Roger Norrington in den letzten Jahren mehrfach Mozart dirigierte, auf für mich absolut unvergessliche Art.

      • Da wird unser Dissens liegen. Ich halte Norrington für einen Scharlatan und das waren die einzigen DSO-Konzerte, die ich bewusst gemieden habe. Einmal war ich nach der Pause zu Martinu, aber das war auch nicht doll.
        Ist doch schön, über sowas zu diskutieren. So viel besser als vieles Andere zur Zeit. Und selbst Roger Norrington wünsche ich von Herzen alles Gute, es soll ihm ja wohl gesundheitlich nicht so gut gehen.

        • „Einmal war ich nach der Pause zu Martinu, aber das war auch nicht doll.“ – Das lag dann an Martinů! 😉

          Was Norrington angeht, we agree to disagree. Sein Mozart war für mich zum Niederknien, und seinen Vaughan Williams-Zyklus habe ich wirklich genossen.

          Ja, er hat sich vom Dirigieren zurückgezogen. Ich vermisse ihn sehr. Ihm verdanke ich sogar die einzige Aufführung, in der mir eine Schumann-Sinfonie mal wirklich gefallen hat – und das ausgerechnet mit dem Orchester der Komischen Oper.

          Noch zum Klarinettenkonzert: Haben Sie das mal mit originaler Bassettklarinette gehört? Sabine Meyer führt es z.B. so auf, für mich klingt das zwingend.

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