Vielbödig: DSO und Ticciati spielen Haydn & Ligeti

Ein Konzept! Hach! Programm-Architektur! Nach zwei Biennale-Konzerten der veranstaltenden Berliner Philharmoniker mit viel Schönem, aber wenig Zusammenhang präsentieren Robin Ticciati und „sein“ Deutsches Symphonieorchester die Festival-Hauptfigur György Ligeti in einer ausgeklügelten Dramaturgie. Das ist umso erfreulicher, als Ticciatis programmatische Einfälle zwar oft höchst ambitioniert sind, aber es in der Praxisprobe dann manchmal klappert. Hier jedoch knackt’s: Haydn + Ligeti + Haydn + Ligeti + Ligeti + Haydn. (Nur ein Knall wird dann fehlen.)

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Berliner Philharmoniker mit Daniel Harding spielen Ligeti und Nasses

Lontano wäre die ideale Eröffnung der zweieinhalbwöchigen Biennale, die die Berliner Philharmoniker der Musik der 1950er und 60er Jahre widmen und deren Schwerpunkt György Ligeti ist – längst ein Klassiker wie Beethoven und Brahms, jawohl. Mit dem langen Ton eines unbekannten Instruments beginnt Ligetis Lontano von 1967, beim Hinsehen entpuppt es sich als Zusammenklang von Flöten und Celli. Und dann umhüllt und umkapselt die Musik den Hörer, trägt ihn in mikropolyphone Milchstraßen, ein Echtraumerlebnis und Echttraumerlebnis, wie es nur im SAAL möglich ist. (Hier eine lesenswerte Lontano-Einführung von Martin Hufner.)

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Hörstörung (29)

Eine Jacke nervt beim Quatuor Ebène

„Lust, meine Jacke auszuziehen und sie in hohem Bogen in das Gestrüpp zu werfen“, empfindet der Erzähler in Wilhelm Genazinos Ein Regenschirm für diesen Tag: weil das Wort Gestrüpp „die Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ ausdrücke. Seine Konzertjacke hängt ein Herr im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie (bei einem der vermutlich letzten Konzerte, das vor der Niederkunft des nächsten Lockdowns noch stattfindet, einem Streichquartettabend des formidablen Quatuor Ebène) über die Holzplatte, die im Mittelknick von Block A zwischen linker und rechter Seite steht. Und bevor noch Joseph Haydns Streichquartett D-Dur Hob. III:34 beginnt, fragt er das auf der anderen Seite des Mittelknicks sitzende Paar, ob seine abgeworfene Jacke dort es störe? Nein, sagt er. Schön sei es allerdings nicht, fügt sie mit ernstem Blick hinzu, und da hängt er seine Jacke ab. Um sie nach der Pause dann zusammengefaltet auf den leeren Sitz zu seiner anderen Seite gelegt zu haben: mit dem Zweck, zwei amerikanische Studentinnen daran zu hindern, sich unbefugt auf zwei freie teure Plätze zu setzen, um das formidable Quartett besser zu hören. Worauf ein Konzertgänger in derselben Reihe spontan das tut, was ein musikliebender Mensch tun muss: nämlich einen Platz aufzurücken, damit die beiden Studentinnen sich doch gemeinsam auf die guten Plätze setzen können. Denn es wäre ein Jammer um jeden guten Platz, der leerbliebe bei diesem Konzert, in dem nach Haydn noch Leoš Janáčeks ungeheures 1. Streichquartett „Kreutzersonate“ erklingt, in dem schroffe Kratzklangflächen abrupt auf zarteste Momente purer Schönheit stoßen, eine kammermusikalische Oper nicht weniger aufregend als die gerade an der Komischen Oper neuinszenierte Katja Kabanowa (und wie sympathisch, dass der Seelenkauz Janáček die Erzählung Kreutzersonate des von ihm verehrten misogynen Nieselpriems Tolstoi kurzerhand komplett umdreht, um mit der von Tolstoi verachteten Frauenseele mitzufühlen – fast als musikalisches Äquivalent zu der, Janáček unbekannten, Gegenerzählung Eine Frage der Schuld von Sofia Tolstaja), sowie schließlich Robert Schumanns 2. Streichquartett F-Dur op. 41, 2, eine Herrlichkeit vom ersten Thema des Kopfsatzes an, das einer nicht enden wollenden Arabeske gleicht. Höchstens, dass das formidable Quatuor Ebène manchmal fast zu formidabel klingt. Welch Glück, dass der Hörstörversuch der verirrten Jacke gescheitert ist.

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Hörstörung (28): Simultandolmetschen beim Staatsopern-„Falstaff“

Unbedingt begrüßenswert ist es, wenn Touristen nicht nur Fernsehturm, Mall of Berlin und Madame Tussaud’s besuchen, sondern auch Theater, Konzertsaal oder Oper; dennoch ist „touristisches Publikum“ der Schrecken des hörenwollenden Opernfreunds. Beim derzeit wieder laufenden Verdi-Falstaff an der Staatsoper Unter den Linden (historische Premierenkritik von Schlatz) tuschelts, wisperts und raunts oben im dritten Rang wie im dritten Akt, der im nächtlichen „Spuk“park von Windsor spielt. Das ist nicht, was man hören will; denn mag die flutschige Inszenierung von Mario Martone bei aller Eingängigkeit auch plausibler Settings und etwelcher Gedanken zum Ganzen hart ermangeln, so ist es musikalisch ziemlich rund, Thomas Guggeis dirigiert schneidig, das Ensemble ist gut, allen voran der überragende Michael Volle (in dessen Sir John ich trotzdem nach Bayreuth immer noch den Sachs mithöre). Kontrapunkt des Publikumsgeflüsters ist dann stets das Ermahnen und Zischen der Gestörten. Und einmal entspinnt sich aus dem Rüffel ein kurzes Entr’acte-Gespräch, bei dem man den Grund eines südwestlichen baritonalen Dauermunkelns erfährt, nämlich das (um mit Karlsson vom Dach zu sprechen) unerhört gastfreie Bestreben eines wahren Gentlemans, seiner des gesungenen Italienischen wie des übertitelten Deutschen und Englischen gleichermaßen unkundigen Begleiterin den Fortgang der Falstaff-Handlung simultan zu verdolmetschen.

Alle Folgen der Reihe „Hörstörung“

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Hörstörung (27): Wenn alle weg sind, fehlen sie auch wieder

Nun also zum ersten Mal seit, Sie wissen schon, wieder Berliner Philharmoniker, mit Kirill Petrenko. Schönes Konzert, aber es will sich, obwohl tadellos gespielt, nicht völlig philharmonisch anfühlen. Dabei ist die Philharmonie ja ein ausgesprochen freundlicher Hochsicherheitstrakt, das Lächeln des Personals strahlt durch alle Masken, die Farben des Wegeleitsystems illuminieren schön die Treppen des Scharoun-Hauses; und gibt es auch zero Gastronomie, so sind außer den Handdesinfektionsstationen auch Wasserspender aufgestellt. Nicht verwechseln!

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Hörstörung (26): Abstand total

Gut, so viel Abstand wie jetzt hätte der kurzmütige Konzertgänger sich niemals gewünscht, bei allem Ärger über rücksichtslose Mitbesucher. Aber durch diese größtmögliche Hörstörung müssen wir als verantwortungsvolle Bürger nun durch. Für viele Menschen gehts ja um Leben und Tod. Konzertpause heißt weitgehend Blogpause. Die Konzertgängerkinder wollen ja auch beschult und bespaßt sein und ein wenig Arbeit daheim getan. Und Live-Streamings sind für viele eine feine, tröstende Sache, das ist wunderbar; aber für notorische Echtraum-Erleber wie mich uninteressant.

Hübsch allerdings diese Neufassung von Beethovens Für Elise nach der zeitgemäßen Regel „Mindestens eine Terz Abstand halten!“, erstellt von Arno Lücker:

Und natürlich sei noch darauf hingewiesen, dass viele Buchhandlungen weiterhin geöffnet sind und einige jetzt auch Bücher nach Hause liefern – als Alternative zu den Onlineshops. Rufen Sie also ruhig mal im Buchladen Ihres Vertrauens an und fragen nach! Mein Roman Beethovn („das wohl originellste Buch zum Beethoven-Jahr“, schrieb gerade die Leipziger Volkszeitung) ist mittlerweile in der zweiten Auflage erschienen und überall lieferbar.

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Sehstörung (3): Selbsteinprangerung beim „Fidelio“

Auch einem Konzertgänger, der meint, er hätte schon alles gesehen, kann es passieren, dass er einer Aufführung des Fidelio an der Staatsoper Unter den Linden auf einem der gar nicht soooo üblen Hörplätze im dritten Rang beiwohnt, von denen aus man immerhin die halbe Bühne überblickt (freilich um den Preis, direkt unter dem Dach im Kondenswasser von Tönen und Publikum zu sitzen), und gerade darüber sinniert, wie berühmt Ludwig van Beethoven heute wohl noch wäre, wenn diese langweilige, hier überdies öde inszenierte und knallig-lasch musizierte, dabei freilich – u.a. von Klaus Florian Vogt – recht gut gesungene Oper sein gewichtigstes erhaltenes Werk wäre; um auf einmal eine Zuschauerin im am ungünstigsten gelegenen Hörplatzwinkel des Saals zu bemerken, die, um dem Bühnengeschehen besser folgen zu können, ihren Kopf zwischen Brüstung und Geländer eingefädelt hat: gleich einem Pranger in finsteren Zeiten oder gar jener schrecklichen Entkopfungsmaschine zu französischrevolutionärer Zeit, aus der das merckwürdige, schon in den 1820er Jahren außer Mode gekommene Genre der Rettungsoper ja stammt; woraufhin er begreift, dass er eben noch nicht alles gesehen hatte und hat.

Besprechung der Fidelio-Wiederaufnahme bei Schlatz

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Hörstörung (24): Notwehr-Exzesse im Konzertsaal

Sinfoniekonzert (Symbolbild)

Dass vor wenigen Wochen ein Malmöer Konzert des Leipziger Gewandhausorchesters unter Andris Nelsons in einer Schlägerei endete, lag weder an aufführungstechnischen Unzulänglichkeiten noch an der generell aufwühlenden Wirkung von Gustav Mahlers Fünfter, sondern war die Eskalation eines Konflikts, der von der Hörstörung durch ein sich auswickelndes Kaugummi (oder doch eher ein Hustenbonbon?) ausging. Das Parlando über solche notorischen Hörstörungen ist nicht nur ein beliebtes, manchmal leider an die Stelle der Reflexion über die gehörte Musik tretendes Pausengesprächsthema unter Konzertgängern, sondern seit jeher eine der erfolgreichsten Rubriken in diesem Blog. Aus Gründen. Und Anflüge von Körperverletzung sind da tatsächlich nichts Neues. Auf einen anderen Aspekt machte jedoch anlässlich des Malmöer Exzesses die, oft selbst von Hustern und Raschlern gestörte, Musikkritikerin Julia Ruth Spinola bei Facebook aufmerksam: Weiterlesen

Hörstörung (23): Unbezahlbarer Gast beim unbezahlbaren Sokolov

Seine bereits vor einem Jahr erworbene, für eine Mega-Feger-Weltikone wie Grigory Sokolov gar nicht sooo teure Eintrittskarte hat der Konzertgänger heuer mit schmerzlicher Freude der unbezahlbaren, nach einer endlose Monde währenden kleinstkindbetreuungsbedingten Konzertpause musikdürstenden Schwester der Tochter der Großmutter seiner unbezahlbaren Kinder überlassen …

… die berichtet, es sei hinreißend gewesen.

Details, kritische Analyse? Haydn. Schubert. Und sechs Zugaben, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Nachtrag: Kritiken in der NZZ (Julia Spinola), Kulturradio (Göbel)

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Hörstörung (22): Eltern bewundern ihr Kind

In jenem familiären Parallelleben, das er klammheimlich neben Konzertsaal, Kammermusiksalon und Opernhaus führt, gerät der Konzertgänger öfter in musikschulische Aufführungen, in denen er nicht nur die stets stupenden Darbietungen seiner eigenen Sprösslinge und vieler anderer Kinder und Jugendlicher bewundern darf, sondern auch immer wieder einem Phänomen begegnet, das ihm ebenfalls des, allerdings ungläubigen im Sinne von das ist doch unglaublich, Staunens wert scheint: Weiterlesen

Hörstörung (21): Kein Ohr und kein Hals für Monteverdi mit William Christie

Der Vollständigkeit halber und fürs Archiv und mit Tränen auf den Wangen: William Christie und Les Arts Florissants und Monteverdi waren in der Philharmonie, der Konzertgänger leider nicht. Das ist die schlimmste Hörstörung überhaupt, wenn man sich seit Ewigkeiten auf ein Konzert freut und einen dann so ein Fiebern und Husten überfällt, dass mans einfach nicht verantworten kann. Will ja nicht den Musikern und den Mithörern eins husten wie diese Hustenbolde, über die man sich sonst so ärgert. Weiterlesen

Hörstörung (20): Können und Mögen

Bei den Lunchkonzerten der Berliner Philharmoniker (wo am kommenden Dienstag Franz Schuberts vierhändige f-Moll-Fantasie D 940 erklingen wird, ein Stück, das den Konzertgänger garantiert bis weit übers Dinner hinaus fällen würde) gibt es immer diesen höflichen Hinweis des Veranstalters an die Eltern kleiner Kinder:

Mit Rücksicht auf die ausführenden Künstler und die anderen Konzertgäste bitten wir interessierte Eltern, vor dem Besuch eines Lunchkonzertes abzuwägen, ob ihr Kind ca. 45 Minuten still sitzen kann und möchte. 

Der Konzertgänger möchte indes nach den verheerenden Erlebnissen der letzten Woche diese Bitte an alle richten, die ein klassisches Konzert zu besuchen im Begriffe sind, vom zullenden Kind über das blühende Manns- wie Weibsbild bis zum Greis dicht vor der Lebensscheide: Wäge ab, ob du eine gewisse Zeit still sitzen kannst und möchtest.

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Scheu: Schuberts „Winterreise“ mit Mark Padmore und Kristian Bezuidenhout

Diese Winterreise ist ein scheues Tier, das in eine Treibjagd gerät.

Denn der Tenor Mark Padmore, Artist in Residence der Berliner Philharmoniker, lässt sich bei Franz Schuberts schauerlichen Liedern von einem Hammerklavier begleiten, das der Pianist Kristian Bezuidenhout in ein so zartes wie animalisches Wesen verwandelt. Die Jagdhunde indes haben sich nicht nur in der Seele, sondern auch im Kammermusiksaal verteilt.  Weiterlesen

Hörstörung (19): Ohrenzuhalten bei Mahlers Neunter mit Haitink und den Berliner Philharmonikern

Quelle: Anne Wellmer

Um diesem hemmungslosen Aus- und Raushusten in den Pausen zwischen den Sätzen zu entgehen, dem vorsorglichen Geröchel, dem Schnäuzen und Ausschmeißen, dem raschelnden Bonbonauswickeln, dem Poltern hastigen Nacheinlasses, dem unvermeidlichen Nachstimmen zwischen zweitem und drittem Satz und vor allem dem nichtigen Geplapper — um all dem zu entgehen, muss man sich bloß zwischen den Sätzen mit spitzen Zeigefingern die Ohren zuhalten: Weiterlesen