Zu den geheimen Hintergründen der letzten Chefdirigentenwahl der Berliner Philharmoniker gehört, dass die Frau des Konzertgängers gegen Andris Nelsons frühzeitig ihr Veto eingelegt hat: Sie kann einfach seinen Dirigierstil nicht ansehen. Das viele Rudern, Kreisen, Beugen erinnert sie zu sehr an die enervierende Akrobatik ihrer Kinder beim Abendessen. Aber die Augen schließen geht auch nicht: Einerseits aus instinktiver mütterlicher Sorge, dass der große Junge Andris gleich ein Saftglas oder Papas Weinflasche vom Tisch wischen könnte. Andererseits weil sie mit geschlossenen Augen immer einschläft; selbst bei Bruckner.
Was sehr schade wäre. Und merkwürdig, denn Nelsons ist der Wachhalter schlechthin. Emotionaler Erwecker oder an einen Fußballtrainer erinnernd – solche Beschreibungen, obwohl anscheinend positiv gemeint, hat Nelsons aber auch nicht verdient. Intensiver kann man nicht dirigieren. In der Uraufführung 1877 soll Anton Bruckners 3. Symphonie d-Moll (auch dank Bruckners Dirigier“kunst“) ja so übel getönt haben, dass nicht nur das Publikum, sondern auch einige Wiener Philharmoniker vorzeitig den Konzertsaal verließen. Dabei war ihre Renitenz ja zumindest mitschuldig an dem Desaster. Da konnte es Bruckner auch nicht trösten, dass der unerreichbare, weltberühmte und erhabene Meister der Dicht- und Tonkunst ihm in Anerkennung dieser Symphonie eine Prise Bayreuther Schnupftabak angeboten hatte; und einige Bier, so dass Bruckner am nächsten Tag nicht mehr wusste, welche Symphonie er Wagner widmen durfte, die zweite oder die dritte.
Hätte Bruckner doch Hingabe und Sound der Berliner Philharmoniker erleben dürfen! Gespielt wird, wie üblich, die 3. Fassung der Symphonie von 1889. (Es wäre ein Traum, wenn das Orchester einmal in einer Saison die verschiedenen Versionen einer Brucknersymphonie spielte.) Nelsons setzt auf Ekstase statt roter Fäden, was sehr beeindruckend klingt. Der ununterbrochene Höchstexpressionsmodus kann aber auf Dauer auch ins Leere laufen, die Intensität des Moments geht auf Kosten der großen Bögen; insgesamt eine sehr laute Aufführung. Und wenn Nelsons sogar mit den Fingern die Flötentriller in die Luft zeichnet, fragt man sich, ob das aus einem Instrumentalisten wie Emanuel Pahud wirklich etwas herauskitzeln kann. Schnürt es einem Interpreten nicht die Luft ab? Man ist halt kein Musiker. Als Showdance fürs Publikum kann man Nelsons‘ Dirigat auch nicht abtun, dafür ist das Orchester offenhörlich zu begeistert bei der Sache. Gut sowieso.
Das Publikum fühlt sich erst recht nicht bevormundet, sondern ist enthusiasmiert. Überwältigend ist dieser Bruckner, zweifellos. Aber auch überzeugend?
Parsifal passt besser zu Bruckner als jede andere Musik Wagners: Im Vorspiel zum 1. Akt erinnern die mischklangfreien Register und die weihevollen Generalpausen frappierend an die archaisch-futuristische Symphonik des Linzer Halbgotts bzw. Halbtrottels (Mahler). Nelsons präsentiert das gefühlt langsamste Parsifal-Intro seit Wilhelm Furtwängler. Die Besucher der Bayreuther Festspiele, wo Nelsons im Sommer den neuen Parsifal leiten wird, können sich auf mindestens 30 Gratis-Extra-Minuten einstellen. Im Karfreitagszauber bewährt sich Albrecht Mayers Radfahrerlunge beim brillanten Oboensolo. Instinktsicher antizipierte das Publikum diese exorbitante Leistung bereits vor dem Konzert, als der allein aufs Podium kommende Mayer singulären Applaus erhielt.
Der Konzertgänger kommt sich bei solchen Wagner-Exzerpten aber immer wie ein Schummler vor, der den langen Weg zum musikdramatischen Blütenmeer schnöde abgekürzt hat. Kein Wunder, wenn man da ins Hecheln kommt.
Nachtrag: Herr Schlatz weist zurecht darauf hin, dass Knappertsbusch der größte Parsifal-Trödler war, wie hier zu hören.
Ausführliche Kritik bei Bachtrack.
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