Schattengrell

Andris Nelsons, Håkan Hardenberger und die Berliner Philharmoniker spielen Reinvere, Weinberg, Strawinsky

Nanu, was treibt Nannerl Mozart denn da? Wie ein unruhiger Lohengrin-Traum, mit ziephohen Streichern beginnt das Notturno Maria Anna, wach, im Nebenzimmer des lettischen estnischen Komponisten Jüri Reinvere, mit dem Andris Nelsons und die Berliner Philharmoniker ihr Konzert beginnen: Musik aus dem Schatten, aus dem Maria Anna Mozart laut Wikipedia nie heraustrat, aber schönerweise ohne etwelche Mozartelei, sondern von ganz eigener konzentrierter Schemenhaftigkeit.

Gerade wenn man sich beinah behaglich aufs meditative Mit-Atmen einschwingen will, zieht es das Stück plötzlich sehr ins Dunkle und Tiefe, oder das schöne Blechdutzend überwölbt den strömenden Klang. Dennoch ist das kein kecker Nannerl-Schabernack, sondern bleibt flackerndes, träumerisches Nachtstück, das sich am Ende sanft veratmen wird. Die Kerzenbilder von Georges de la Tour hat Reinvere als eine Inspiration genannt.

Lustige Begegnung, dass die Kollegen vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Vladimir Jurowski gerade ihrerseits ein zeitgenössisches Traumstück aufführten, Nacht in Appen ihrer Gastkomponistin Jelena Firssowa. Darin geht es muchos haptischer zu, die Eicheln klackern dort aufs Hausdach der Gastgeberin Sofia Gubaidulina. Reinveres viertelstündige, sehr atmosphärische Konturenmusik höre ich ebenso gern. Irgendwo im Binnen entsteht gar zarte und doch hochgeladene Spannung, als könnte glatt gleich doch noch ein Sacre ausbrechen. Aber das Nannerl im Sacre, das ginge dann doch zu weit!

Trotzdem, fast fürchtet man, es könnte hereinkommen: im mystischen Beginn des zweiten Teils von Igor Strawinskys Le sacre du printemps, und dann würde es ins unerbittliche Maschinenwerk geraten, das Schattennannerl, die Kerze würd ihm ausgepustet. MAS hatte jemand vors SACRE handgeschrieben: Das entdeckte Strawinsky, als er 1916 wieder in den Besitz seiner korrigierten Uraufführungsversion von 1913 kam. Diesen fast unverwüstlichen Witz ruft Volker Tarnow im aktuellen Philharmoniker-Magazin in Erinnerung, wo er sich an die ersten Berliner Aufführungen herangräbt: 1922 unter Ernst Ansermet, gefolgt von breiter Anerkennung, während es schon queres Entartungs-Gejaule gab, als das Werk 1924 und 1930 von den Berliner Philharmonikern erneut gespielt wurde, unter Wilhelm Furtwängler, der auch die amerikanische Uraufführung leitete, bekanntermaßen, ohne darüber zum Strawinskyaner zu werden.

Vor dem 2021er Sacre aber hört man im Pausenfoyer das erleichterte Seufzen eines Senior-Abonnenten: „Jetzt kommt das Schöne!“ Holla, das ist ja ebenjener Senior-Abonnentensatz, der gern fällt, wenn hier auf (sagen wir mal) Lachenmann oder Ferneyhough ein Mozart oder Mendelssohn folgt. Nun gilt immerhin auch Sacre als „das Schöne“. So ändern sich die Zeiten!

Bei Nelsons ist Le sacre du printemps von präziser, aber auch sehr harter Kraft. Ein Anlass, an das Zuviel an „männlicher Energie“ zu denken, das der ausgestiegene Fagottist Mor Biron bei den Berliner Philharmonikern empfand. Das herrliche Falsettfagott zu Beginn spielt hier (und ganz wunderbar) Daniele Damiano. Danach spult es beeindruckend ab wie ein perfektes Uhrwerk. Während mir im September beim Sacre von François-Xavier Roths Orchester Les Siècles das Organische, fast Geschmeidige gefiel, stellt Nelsons hier das Geräuschhafte, Brutale, auch Reißerische und vielleicht Oberflächliche heraus.

In die Annalen der Philharmonikerhistorie für zukünftige Archivare wird das Konzert eingehen, weil das Orchester hier zum ersten Mal Mieczysław Weinbergs 1967 entstandenes Trompetenkonzert aufführt: ein Werk, das wie so manches in den letzten Jahren erstmals gehörte Weinberg-Stück ins Repertoire eingehen kann, sollte, wird. Es steht im Programm zwischen Reinveres Notturno und dem Sacre. Auch im grellen Licht ist Weinbergs Musik voller Schatten. Der Solist Håkan Hardenberger führt das Orchester ideal durch dieses Stück – auch wenn dieses Führen darin bestehen kann, dass das Klangkollektiv den Trompeter ausnehmend theatralisch herumhetzt oder bedrängt. Eine schreckenslustige Kavallerie ist da im ersten Satz zu hören, die ihr Material aus abgerissenen Fanfaren zusammensetzt. Aus der äußersten Breite des Orchesterklangs im Andante-Mittelsatz singt sich die einsame Flöte (Emmanuel Pahud) heraus, um der fast tröstlichen Trauer der Trompete den Weg zu bereiten. Und das Finale mündet statt eines erwartet sowjetprächtigen Schlussgalopps in einen sinistren Walzer, die Trompete dämpft sich erneut, einzelne Tupfer überall im Orchester … matt … dann ist das eindrucksvolle Werk mit einem letzten Schlag verpufft.

Definitiv zu bescheiden sei sein Freund, sagte Schostakowitsch über Weinberg (1919-1996). Der stammte aus Polen, seine Familie wurde von den Nazis ermordet. Nachdem er sich in die Sowjetunion gerettet hatte und dort Komponist geworden war, wurde er auch dort bedrängt: Sein Schwiegervater fiel dem Stalinismus zum Opfer, Weinberg selbst wurde eine Zeitlang inhaftiert. Im Westen aber galt er (wenn man ihn überhaupt zur Kenntnis nahm) als Linientreuer. Die Wirklichkeit mag komplexer sein, wie im Fall Schostakowitsch. Die ästhetische Nähe zu diesem Freund fällt bei der ersten Annäherung an Weinberg auf, zwangsläufig, aber doch verkürzend. Die Unterschiede sind ebenso wichtig, das Eigene. Immer wieder Zärtlichkeit, Witz und Ironie, nie so hart und bitter wie Schostakowitsch: Das betont Isabel Herzfeld in ihrem lesenswerten Weinberg-Artikel im Philharmoniker-Magazin. Herzfeld spricht, statt Weinberg einen Schostakowitsch-Schüler zu nennen, von „musikalischer Seelenverwandtschaft“ und vom „gegenseitigen Lernen“: Schostakowitsch steckte den 13 Jahre Jüngeren mit seiner Mahler-Begeisterung an, dieser vermittelte ihm Kenntnis jüdischer Folklore.

Weitere Besprechungen: Schlatz streift durch mehrere Konzerte, Mahlke im Tagesspiegel

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