Bescherlich

Frohe Musikbotschaften mit Staatsopern-Lohengrin, Mehta/Mahler und Prokofjews Cinderella beim RSB

„Geschenke, Geschenke / Sind daran, wo ich denke“, wie meine jüngeren Kinder zur Weihnachtszeit gern singen. Einer Bescherung gleich kommt es dem Berliner vor, dass seine Kulturinstitutionen im erneuten Pandemiewinter unseres Missvergnügens überhaupt noch offen sind und über den Jahreswechsel bleiben werden, wenngleich unter strengen Auflagen. Darum verpackt der Konzertbesucher – statt Geschenken – gern sich selbst, mit korrekt getragener Maske, Test & Booster-Impfung. Und beschenkt fühlt er sich etwa (obwohl die Karten nicht gerade spottbillig sind), wenn Zubin Mehta bei den Berliner Philharmonikern Gustav Mahlers 3. Sinfonie dirigiert.

Das Glücksschauer verursachende Paradox dieser Aufführung: die atemberaubende musikalische Spannung, die von Beginn an herrscht in dem aus so gegensätzlichen Bausteinen zusammengesetzten Riesenkopfsatz, in Verbindung mit der allertiefsten Gelassenheit des 85jährigen Zubin Mehta, der im Sitzen und auswendig die Berliner Philharmoniker anleitet. Die spielen, wie man zu spielen hat, wenn man einer lebenden Legende gegenübersetzt, mit der man sich zu einem alles bedeutenden Meisterwerk verabredet hat. Und wenn man der Einrichtung der Welt gemäß nicht weiß, ob und wie oft sich solche Begegnungen noch werden wiederholen lassen – trotz Mehtas ziemlich stark wirkender Konstitution. Mögliche Abschiedsrührung verbindet sich mit der guten Hoffnung, dies möge noch lange kein Abschied sein. (Bei Bernhard Haitinks letztem Dirigat vor zwei Jahren spürte man, dass es das letzte Mal sein würde, die allmähliche Erschöpfung der Kräfte war deutlich; das ist hier nicht der Fall.)

Auf dem Höhepunkt ihrer Kunst steht die Mezzosopranistin Okka von der Damerau, deren Stimme im vierten Satz dieser zu Tränen reizenden Aufführung hinzutritt: oh Mensch. Als phänomenale Ortrud war von der Damerau wenige Tage zuvor an der Staatsoper Unter den Linden zu erleben, eingesprungen für Ekaterina Gubanova. Kein schlechter Tausch. Denn gemeinsam mit Martin Gantner als Telramund, dessen gestochen klare Diktion einen umhaut, ist Dameraus Ortrud die Attraktion dieses Lohengrin. Auch wenn Gantner und Damerau den zweiten Aufzug zum absoluten Höhepunkt der Aufführung machen, ist der ganze Abend hörenswert. Zumal selbst der grenzenlos starke Tenor-Simson Andreas Schager nach bereits zwei Lohengrins sowie mehreren Saint-Saëns-Samsons im Dezember begrüßenswert stimmhaushaltet und wirklich differenziert gestaltet; auch wenn die Gralserzählung am Ende doch weit irdischer klingt als Klaus Florian Vogts unvergleichlicher Himmelsschlager. Das Orchester unter Thomas Guggeis knallt, aber konzis. Die Premiere während des ersten Lockdowns fand unter Matthias Pintscher in stark reduzierter Besetzung statt; davon kann jetzt keine Rede mehr sein, weder numerisch noch hinsichtlich etwaiger „kammermusikalischer“ Ambitionen.

Zu Calixto Bieitos Inszenierung kann ich aus dem sichtbehinderten Seitenrang nicht viel sagen, außer dass einige seiner Videos keineswegs beliebig sind, sondern die Musik vortrefflich tragen. Die Wasser- und Tauchbilder etwa während des Vorspiels verleihen der eigentlich vom Himmel kommenden Musik einen völlig plausiblen, ja betörenden Auftrieb. Was wir ansonsten von rechtsaußen oben erspähen, wirkt wie bei Bieito gewohnt teils elektrisierend, teils enervierend. Stark das „Gottesgericht“, bei dem der Schwanenritter sich bloß im Sessel lümmelt. (Im Interview erzählt Bieito ansonsten lauter sehr interessante Dinge, von denen man nur oft nicht recht begreift, was sie mit Lohengrin zu tun haben.)

Und dann gibt es noch die Aufführungen, bei denen man die Bühnendimension einfach ganz weglässt. Im besten Fall blühen die Bilder dann umso üppiger im Kopf, vor allem bei Mit-geschlossenen-Augen-Hörern. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin gibt traditionell jedes Jahr am 23. Dezember prima Heiligvorabend-Konzerte: so auch heuer. Damit es aber nun auch nicht voreilig allzu gemütlich oder gar betulich wird, lässt Vladimir Jurowski sein Orchester Sergej Prokofjews in den frühen 1940ern entstandene, 1945 uraufgeführte Cinderella ohne jede Kürzung spielen, in unerbittlicher enzyklopädischer Vollständigkeit. Auch wenn man bei den diversen Feen-Variationen oder den mannigfaltigen Ballschritten gelinde die Übersicht verlieren kann, ist das doch ein mehr als zweistündiges Vergnügen. Die Titel der Abschnitte – die man natürlich auch irgendwie im Programmheft mitlesen kann – als Übertitel einzublenden, wäre dennoch ganz hilfreich. (Iván Fischer hat das mal bei Bartóks Holzgeschnitztem Prinz im Konzerthaus gemacht.)

Im Tiergarten vor der Philharmonie herrscht indes heftiges Schneetreiben (der Schnee wird allerdings in derselben Nacht schon fortschmelzen, eine typische Berliner Sinnlosigkeit), ein schnieker Weihnachtsbaum steht auf der Bühne, Omikron scheint omegaweit weg. Bei den tiefen Bässen des Beginns aber denke ich eher an den Schneefall von Moskau 1940, und bei den präzis und satt gespielten späteren Walzern stelle ich mir beinah zwanghaft den Sturz der Metropole ins Zirkus-Chaos in Meister und Margerita vor. Der gewaltige Mitternachts-Höhepunkt von Prokofjews Musik erscheint mir wie Bulgakow pur. Jedenfalls ist das ja alles keine ungetrübte Drei-Haselnüsse-Seligkeit. Aber gerade diese Doppelbödigkeit oder zumindest der immer wieder spürbare Abgrund macht das Ganze ja so spannend. Neben den ohnehin immensen Klangreizen natürlich, etwa den Mischklängen im Gute-Fee-als-Bettlerin-Adagio oder beim Zauberklingeln vor der Tür, als Cinderella vorfährt, in dem zur Kutsche verzauberten Kürbis. Oder wenn die Vorgeiger Erez Ofer und Nadine Contini herrlich soloschrammeln – das müssen die beiden grässlichen Stiefschwestern vom Aschenbrödel bei der trampeligen Tanzstunde sein. Köstlich!

Und wie schön, dass es bei Prokofjew eine Satzbezeichnung „Andante con brio“ gibt! Bei einer hastigen Idagio-Recherche finde ich diese tolle Angabe nur noch beim Mannheimer Schul-Meister Christian Cannabich, einem gewissen Ignazio Spergher (nie gehört) sowie in einer Polonese von Paganini.

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6 Gedanken zu „Bescherlich

    • Ja, Véronique Gens im Boulezsaal hatte ich auch überlegt, aber dann befürchtet, mich am Ende bei Reynaldo Hahn doch zu mopsen, schließlich gab der Wunsch nach Familienprogramm mit Frau und v.a. Tochter den Ausschlag für Prokofjew (abgesehen von meinem bekannten Faible für Jurowski).

  1. Lieber Herr Selge,
    Ich lese immer wieder ab und zu Ihre Besprechungen mit großem Vergnügen.
    Gestatten Sie mir eine Anmerkung zu machen.
    Ich habe das Konzert mit M3 unter Mehta auch auf dem DLF gehört und teile nicht ganz Ihre Begeisterung.
    Ich kenne das Stück sehr gut und habe es jüngst auch für Kammerorchester arrangiert. Das war wahrscheinlich die letzte Sinfonie Mahlers, die ich arrangiert habe.
    Warum gefiel mir diese Interpretation nicht so gut?
    Ich fand Mehtas Tempi zu oft zu langsam. V.a. der ersten Satz war dadurch deutlich zu träge, allzumal er eh der längste von allen Mahler Sinfonien ist.
    Mehta brauchte für M3 statt der durchschnittlichen 90‘ 105‘. Daran merkt man, wie er zu breiten Tempi neigt.
    OK, das kann er machen. Gefallen muss einem das aber nicht. Mir fehlte oft Schwung. Das wird sonst mir zu episch.
    Obwohl ich mit Okka an der Damerau gemeinsam studiert habe war ich sehr alarmiert als ich sie nach längerer Zeit nun mit M3 gehört habe. Ihr Vibrato ist leider unkontrolliert und schnell und somit aufdringlich geworden. Das ist nicht schön. Wenn ein Geiger mit so einem Dauervibrato spielen würde, wäre das unerträglich. Bei dramatischen Mezzi wird das toleriert. Warum? Wenn sie das nicht in Griff bekommt, dann ist die Karriere bald vorbei. Ich sage das nicht aus Missgunst, sondern nur weil ich sie immer sehr geschätzt habe und wir locker auch noch Kontakt haben.
    Das macht mich traurig. Wenn dann alle Kritiker sie nach wie vor unentwegt loben hilft ihr das leider wenig. Einen Hinweis auf die drohende Gefahr wäre da für ihren Weg weniger schmerzhaft als sich in Sicherheit zu wiegen.
    Ich habe oft Gerhild Romberger mit M3 gehört. Das ist eine ganz andere Klasse. Da stimmt alles: Ausdruck und Technik.
    Okka ist ein wunderbarer Mensch und ich wünsche ihr alles Glück der Erde. Sie muss dringend was an ihrer Technik ändern und das Problem in den Griff bekommen.
    Ich würde es ihr wünschen.
    Einen guten Rutsch Ihnen!

    Freundliche Grüße, Klaus Simon

    • Lieber Herr Simon, ich bin sehr dankbar für Ihre fundierten Anmerkungen. Was Mehtas Tempi angeht: Geschmackssache, wie Sie selbst schreiben, aber ich habe es als hochspannend erlebt.
      Was Okka Von Der Dameraus Gesang angeht, gebe ich die Wirkung auf mich als Hörer wieder. Unkontrolliert habe ich ihr Vibrato nicht gehört. Aber ich bin da auch weder Fachjuror noch Technikberater, solche Hinweise müssten m.E. von anderer Seite kommen, etwa Kollegen oder auch Kritikern wie Kesting.
      Mit den besten Wünschen für ein gesundes 2022, Albrecht Selge

    • Habe von der Damerau jetzt in den letzten Monat nicht gehört, aber Vibrato ist auch immer Geschmacksache. Die italienischen Verismo-Heroinen hatte in den 30ern keine Chance an der Met, weil der angelsächsische Geschmack ein kräftiges Vibrato nicht goutiert. Judit Kutasi an der DO hat auch ein stets auffälliges Vibrato und ist doch eine gute Ulrica, Amneris, Eboli, Cieca etc. Gerhild Romberger hat dafür halt nicht den ganz so expressiven Gestus und die Farben sind gedeckter.

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