Krebsspringend: Les Siècles spielen Strawinsky rückwärts

Hoch die Hände, Montags-Ende!

Will man in einem Programm den kompletten Strawinsky repräsentieren, ist man fast zum Krebsgang gezwungen. Zu groß wäre sonst die antiklimaktische Wirkung vom frühen Russenknaller übers mittlere Neoklassikum bis zum (teils zu Unrecht) als karg geltenden späten Reihen-Igor! Wobei das vielleicht auch mal interessant wäre; aber doch riskant. Darum setzt sinn- und sicherheitshalber auch das erzformidable französische Orchester Les Siècles mit seinem Leiter François-Xavier Roth den frühen Superhit an den Schluss und das Alterswerk an den Beginn; so dass immerhin die Mitte Mitte bleibt.

Nun hört man Le sacre du printemps so häufig, dass auch der Nichtstrawinskologe gleich beurteilen kann, ob das Dach der Philharmonie Feuer fängt oder Staub. Bei Les Siècles steht die Bude in vollen Flammen. Glühende Sägen, lodernde Peitschen, kurzum Urkraft. Dabei ist es Höchstdruck mit totaler Präzision und hervorragenden Solisten an allen Instrumenten. Und trotz kompositorischer Montage gerät nix additiv, sondern eins wächst und quillt aus dem anderen. Das ist wirklich archaische Facharbeit sondergleichen, was Roth und sein Orchester abliefern. Ich wüsste nicht, wann ich je einen stärkeren Sacre gehört hätte.

Die Geigerin Isabelle Faust würde auch ein schwaches Stück veredeln, was Strawinskys Concerto en ré von 1931 gewiss nicht ist. Musterstück dessen, was Neoklassizismus genannt wird, auch wenn der Begriff doch irgendwie unergiebig ist. Uraufgeführt wurde dieses Violinkonzert übrigens im Berliner Haus des Rundfunks in der Masurenallee, dem heutigen Sitz des rbb, dessen Sendesaal nicht nur den Besuchern von Kinderkonzerten vertraut ist. Dass Strawinsky dort vor 90 Jahren persönlich dirigierte, ist doch was. Im Großen Saal der Philharmonie verbinden sich das beschwingte, tänzerische Spiel von Isabelle Faust und der ebensolche Orchesterklang aufs Glücklichste. Und machen deutlich, dass das Stück trotz aller vielbeschworenen ironischen „Mechanik“ nichts Apparaturiges ist. Weil Maskenspiel eben keine Sache von Apparaten ist, sondern von Kindern, oder von Menschen, die gern spielen. Auch die kapriziöse Brillanz des Schlusssatzes ist ohne den fernsten Anflug von Glätte und Kälte, sondern ganz Wärme und Witz. Für die hübsche Zugabe, Strawinskys ganz frühe, der Tochter von Rimsky-Korsakow gewidmete Pastorale mit vier Holzbläsern, nestelt Faust den Dämpfer aus der kubistischen Taschentiefe ihres Issey-Miyake-Kleids.

Ein bisschen schwieriger ist das erste Stück des Abends, das Canticum Sacrum ad honorem Sancti Marci nominis, das 1951 im venezianischen Markusdom eben nicht nur uraufgeführt wurde, sondern für ebendiesen Raum komponiert wurde. Vor vier Jahren spielte das Concertgebouworkest ein ebenso für San Marco geschriebenes Stück von Wolfgang Rihm, das hatte auch schon was Freud-, da Raumloses. Hier reißt nun der stets sinnliche Klang des Rundfunkchors einiges raus, der sein eigener Domraum ist. Auch gegen die beiden Solisten und gegen das Orchester gibt es gar keinen Einwand. Aber das Stück droht doch hall-arm auszutrocknen, die Effekte der Mehrchörigkeit. Oder die Wirkung des Kontrasts zwischen den geballten, harschen Aussendungsversen des Markusevangeliums, die der Chor singt, und dem strengen Schreiten der Orgel. Und der zweite Satz, nach Versen aus dem Hohelied, ist hier schon ein bisschen Knäckebrot in Salomonis Garten.

Also schon ganz gut, dass das Canticum nicht wie in diesem Bericht am Schluss, sondern am Anfang des krebsgängigen Abends steht. Die Eigenart des Orchesters Les Siècles kommt im reinen Strawinsky-Programm naturgemäß weniger zur Geltung: nämlich on period instruments der verschiedensten Perioden zu spielen. Vor zwei Jahren spannte sich der Bogen von Rameau über Berlioz bis zu Helmut Lachenmann, das war was Dolles. François-Xavier Roth ist einer der interessantesten und seriösesten Dirigenten überhaupt. Dass sein stets aufregendes Projekt-Orchester (das es in den vergangenen zwei Pandemiejahren noch schwerer hatte als institutionalisierte Orchester, die einigermaßen abgesichert sind) nicht irgendein Tourneeprogramm mitbringt wie andere Gastorchester, sondern sich ganz dem Musikfest-Schwerpunkt Strawinsky widmet, ist ein Ausweis des inhaltlichen Anspruchs. Dass das Konzert mit Faust entzückt und am Ende im Sacre der Dachstuhl brennt, lässt den inneren Konzertgänger-Krebs vor Freude im Quadrat springen.

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4 Gedanken zu „Krebsspringend: Les Siècles spielen Strawinsky rückwärts

  1. Ich habe das Konzert besucht und kann die geistreichen Eindrücke des Rezensenten im Großen und Ganzen bestätigen. Die Aufführung des Sacre, wenn auch nicht in allen Details technisch perfekt, war musikalisch und dramatisch sehr überzeugend und zutiefst beeindruckend– dafür nimmt man die eine oder andere „décalage“ bei den Blechbläsern in Kauf. Das für mein Empfinden etwas „rohe“ Klangbild hat einem Stück sehr gut getan, dem jede Andeutung von Glätte und Routine tödlich ist. Ich habe es nur einmal vielleicht besser gehört — vor langer Zeit bei Boulez und dem LSO in London als der französische Großmeister eine solche Barbarei beim Stück angezapft hat, dass es mir noch im Gedächtnis wie eingebrannt ist. Alle andere Aufführungen sind mir seitdem wie nebensächlich vorgekommen, bis die von Roth am Montag. Roth ist tatsächlich ein phänomenaler Dirigent und einer der interessantesten Musikerpersönlichkeiten der Gegenwart. Das gilt für mich – sogar in höherem Masse – auch für Isabelle Faust, eine stupende Geigerin und Musikerin (z.B. ihre neuere Aufnahme der Bach-Sonaten mit Bezuidenhout (auch hervorragend!) ist m.M.n. massstabstezend, noch besser als ihre Aufnahme der Solosonaten und -partiten). Ich war aber leicht enttäuscht von ihrer Aufführung des Violinkonzerts: In diesem Falle waren mir ein paar Intonationsschwächen und Diskrepanzen mit der Orchester zu viel des Guten und ich hatte den Eindruck, dass sie das Stück zu sehr vom Blatt ablies, als ob sie es noch nicht ganz verinnerlicht hatte. Bei diesem Stück muss das Uhrwerke mit absoluter Präzision funktionieren, damit es seine rätselhaften Zauber entfalten kann. Vielleicht tue ich diese – wie gesagt stupende – Musikerin ein Unrecht. Dafür war das Pastorale als Zugabe bezaubernd: Auf die Idee eine Zugabe mit Dämpfer zu spielen, muss frau kommen. Chapeau! Über das Canticum Sacrum kann ich leider nicht viel sagen, weil es bei mir wenig Eindruck hinterlassen hat. Ich hörte es zum ersten Mal und beim späten Strawinsky muss man schon etwas Vorarbeit leisten, wenn man sich überhaupt orientieren will.

  2. Habe das Konzert heute auf DLF nachgehört, weil ich Montag nicht konnte und auch gespannt auf Interpreten und Interpretation war, und fand jetzt Siècles und Interpretation doch etwas dröge. Mag sein, dass es im Saal aufregender klang.

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