Wie müsste, fragt sich der Konzertgänger, eine Bruckner-Aufführung in der Philharmonie klingen, damit sie nicht in frenetischen Jubel mündet? Um Buhs hervorzurufen oder, vielleicht schlimmer, höfliche Akklamation in der Art akademischen Fingerknöchelklopfens? Man mag sich kaum ausmalen, was da schieflaufen müsste.
Frenetischer Jubel also nach der Aufführung von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 d-Moll durch das Royal Concertgebouw Orchestra unter seinem neuen Chefdirigenten Daniele Gatti beim Musikfest. Aber warum?
Weil das Concertgebouw in albernen Orchesterranglisten jedesmal Spitzenplätze belegt? Die hohe Klangkultur in allen Gruppen, vorweg den samtigen Streichern, ist ja unüberhörbar. Aber die macht noch keine spannende Aufführung.
Gatti scheint einen unbefangenen Zugang zu suchen, was zunächst ganz reizvoll klingt. Er geht das Werk langsam und mit einigen Rubati an, mit viel äußerlichem Glanz, aber ohne Ausdrucksextreme. Interessant, wie er das Scherzo direkt an den Kopfsatz anschließt und so die dreisätzige Sinfonie zweiteilig macht. Aber nicht erst im Adagio breitet sich gepflegte Langeweile aus. Schon der Kopfsatz plätschert spannungsarm dahin, und das Scherzo ist breit, schwer, unscharf. Das mag alles äußerlich brillant klingen, aber die Musik atmet nicht und elektrisiert nicht. Zumindest nicht den Konzertgänger.
Eindruck: Gatti will nichts reingeheimnissen, wodurch er aber alles rausgeheimnist. Hübsche Musik, Bruckners Neunte.
Vielleicht sollte man Bruckner doch den Ü80-Meistern überlassen wie Blomstedt oder Gattis Vorvorgänger Haitink oder (Gott habe ihn selig) Stanisław Skrowaczewski, der jetzt im Himmel mit Bruckner Domino spielt und über den Kontrapunkt diskutiert. Und den Querklingern wie Metzmacher. Aber Bruckner und die U70-Dirigentenstars, Gatti, Rattle, Thielemann, Nelsons, das ist nichts.
Ebenso ratlos macht den Konzertgänger die Bruckner vorangestellte IN-SCHRIFT von Wolfgang Rihm. Rihms Selbsterklärungen bringen ihn regelmäßig an den Rand der Verzweiflung:
[…] Die Grundidee ist lapidar: die einer INSCHRIFT. Dieses geschieht musikalisch IN SCHRIFT, die Klangzeichen wie Schriftzeichen […]
Nun sollte man auch einem Großkomponisten keinen Strick drehen aus solchen Worthülsen, wie sie von Programmheftmachern, Auftragswerksbewilligern und Festivalkonzipierern wohl gewünscht werden. Fight the game, not the player, wie Julia Schramm schreibt.
Aber was hat Gatti geritten hat, dieses für den Markusdom in Venedig geschriebene Stück in Europas Konzertsäle zu bringen? Rihms Ansatz, den kirchenräumlichen Nachhall zu überlisten, ist in der Philharmonie obsolet. Mangels kirchenräumlichen Nachhalls. Die Musik hat viel Zeit nachzuklingen, aber es klingt kaum etwas nach von den permanenten heftigen Dreifach-Sforzati. Der Harfenistin reißt eine Saite, die Flöten repetieren ihre Tonballungen aseptisch vor sich hin, ein Klang wie destilliertes Wasser.
Es gibt keinen wahren Raumklang im falschen Klangraum. Man kann sich durchaus vorstellen, dass das Stück in einem halligen Sakralraum praeter propter geheimnisvoll klänge. Hier ist es so falsch, wie umgekehrt eine Beethoven-Sinfonie in einer Kirche fehl am Platz wäre.
Das erfreulichste Ereignis steht also am Anfang des Abends: Das Concertgebouw spielt gemeinsam mit dem Bundesjugendorchester die Euryanthe-Ouvertüre von Carl Maria von Weber. Je ein Konzertgebäudler und ein BJO-Musiker an einem Pult; wo drei Bläser sitzen, ist das Verhältnis 1:2, nur bei den Posaunen 2:1. Steuert Deutschland also auf einen Posaunistenmangel zu? Noch so eine Frage, die im TV-Duell zur Bundestagswahl ignoriert wurde.
Wie das Thema Europa. Was für ein tolles Projekt des Concertgebouw Orchestra also: unter dem Motto RCO Meets Europe in allen 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gemeinsam mit Jugendorchestern zu musizieren. Von der Professionalität und der Klangkultur des Concertgebouw werden die jungen Musiker sehr profitieren.
Weitere Kritiken: Tagesspiegel sehr angetan
Herzlichen Dank. EXAKT so habe ich das Konzert erlebt. Hab mich schon gefragt, ob ich bei dem Wahnsinns Applaus der einzige bin und ob es an mir liegt. Pure Langeweile, ich bin nicht reingekommen. Ich hab noch den Bruckner 4 der Wiener und 2 x den Bruckner 8 von Rattle dieses Jahr im Ohr. Obwohl ich kein Freund von Rattles transparenter Rangehnsweise bei Bruckner bin, habe ich gestern im Block B meist nur Klangbrei rausgehört.
Rihm, fande ich schlichtweg wirklich schrecklich – habe danach eine ältere Frau im Bus gesprochen, die fand es klasse. OK, Geschmäcker sind wohl verschieden, warum man allerdings zwei soooo verschiedene Stilrichtungen in ein Konzert kombinieren muss, geht mir nicht ein..
Gattis Umgang mit und der Applaus für das Jugendorchester waren wirklich schön anzusehen.
Total gegensätzliche Stilrichtungen können sehr produktiv sein, finde ich. Nagano kombinierte vor einigen Jahren beim DSO mehrmals Bruckner mit Zeitgenossen (Widmann, Rihm, Bernd Alois Zimmermann, glaube ich), das fand ich super.
Hier wird der Ansatz wohl gewesen sein: komponierte Sakralarchitektur (Rihm Markusdom, Bruckner-Sinfonik als „Kathedrale“ / Klangarchitektur usw). Man achte z.B. auf die Generalpausen.
Aber funktioniert hat es nicht so richtig, da sind wir uns einig.