Turbulenzromantisch

Iván Fischer im Konzerthaus, Petrenko und Oramo bei den Berliner Philharmonikern: Entdeckungsreisen von Sinigaglia bis Langgaard

Drei hochinteressante Programme, reich an Unbekanntem: Iván Fischer ist zwar formal bloß der Ex, aber irgendwie doch der Chefdirigent der Herzen am Konzerthaus, jeder seiner Besuche ein Hochlicht. Boss Kirill Petrenko gab bei den Berliner Philharmonikern letzte Woche das vielleicht wichtigste Konzert der Saison. Und dieser Tage dirigierte Sakari Oramo ebendort ganz Seltsames: ein unverschämtes Werk, das alle hundert Jahre gespielt wird.

Foto: Steven Mathey CC BY-SA 4.0
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Krebsspringend: Les Siècles spielen Strawinsky rückwärts

Hoch die Hände, Montags-Ende!

Will man in einem Programm den kompletten Strawinsky repräsentieren, ist man fast zum Krebsgang gezwungen. Zu groß wäre sonst die antiklimaktische Wirkung vom frühen Russenknaller übers mittlere Neoklassikum bis zum (teils zu Unrecht) als karg geltenden späten Reihen-Igor! Wobei das vielleicht auch mal interessant wäre; aber doch riskant. Darum setzt sinn- und sicherheitshalber auch das erzformidable französische Orchester Les Siècles mit seinem Leiter François-Xavier Roth den frühen Superhit an den Schluss und das Alterswerk an den Beginn; so dass immerhin die Mitte Mitte bleibt.

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Meisterinlich: Isabelle Faust und Akamus spielen Bachs

Dass Maestro Grigory Sokolov aus Corona-Vorsicht sein Konzert in der Berliner Philharmonie auf den Juni verschoben hat, dispensiert den geneigten Konzertgänger vom Zwang, sich an diesem Märzmontag in zwei Hälften aufzuspalten, um gleichzeitig Maestra Isabelle Faust im Kammermusiksaal zu hören. Auf deren Tournee mit der Akademie für Alte Musik fielen zwar bereits die beiden letzten Termine in Italien aus. In Deutschland aber darf man sich noch versammeln. (Nachtrag: Anderthalb Stunden nach Veröffentlichung des Beitrags hat sich das geändert.) Im ausverkauften Kammermusiksaal klaffen sichtbare Publikumslücken. Wir husten nicht, und sogar auf den Herrentoiletten werden sich neuerdings die Hände gewaschen.

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Musikfest 2019: Peter Eötvös mit dem Ensemble Musikfabrik und den Berliner Philharmonikern

Ein Tag für und mit Peter Eötvös beim Musikfest Berlin: ein einnehmendes musikalisches Beisammensein. Eötvös ist kein eitler Selbstdarsteller, sondern wirkt sachlich, bescheiden, freundlich. Das ist durchaus schätzenswert in Zeiten so vieler grabschender und cholerischer Männer im Klassikbetrieb. Am Sonntag leitet Eötvös (während Frank Castorf mit Verdis La forza del destino das Deutsche-Oper-Publikum triggert) zuerst das Ensemble Musikfabrik im Kammermusiksaal und eine Stunde später die Berliner Philharmoniker im Großen Saal. Keine üble Leistung mit 75! Und es geht dabei auch noch bis nach Japan und ins maurische Mittelalter.

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Musikfest 2018: Isabelle Faust & Friends verklären, Benjamin fängt nicht so recht

Gibt es irgendein Stück, das in nachgeschobener Orchesterfassung schöner ist als im Kammer-Original?

Arnold Schönbergs Verklärte Nacht jedenfalls nicht. Selbst wenn die ursprüngliche Sextettfassung nicht in solcher Luxusbesetzung aufgeführt würde wie im Kammermusiksaal beim Musikfest Berlin. Dass Isabelle Faust sich hier als prima inter pares gerierte, steht nur auf dem Programmzettel (Isabelle Faust & Friends), tatsächlich ist sie pars inter primas et primos. Prima Verklärung, die den Hörer fängt. Diesen Fängern folgt man gern, da ertrinkt keine Nuance.

Der unvergleichliche Wert der Streichsextettfassung zeigt sich schon in den ersten, wie aus dem Nichts sich herausdämpfenden Bratschentönen von Danusha Waskiewicz. Weiterlesen

Zwischenapplauswert: Eduardo Strausser und Isabelle Faust beim DSO

Mal ein Lob dem ungebildeten Zwischenapplaus inmitten eines mehrsätzigen Werks: Sowieso die geringste aller denkbaren Hörstörungen, kann er auch eine befreiende und aufmunternde Wirkung haben. Zum Beispiel bei so einem Extrem-Einspringing, wie es der junge brasilianische Dirigent Eduardo Strausser beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin am Freitag hinlegt. Chefdirigent Robin Ticciati ist nämlich unpässlich geworden, offenbar äußerst kurzfristig: erst nach der Generalprobe, wie man hört, wieder der Rücken.

Johann Sebastian Bachs 4. Orchestersuite D-Dur BWV 1069 könnte das Orchester wohl auch dirigentenlos spielen, Konzertmeister Wei Lu würde das schaukeln, so wohlpräpariert ist das. Weiterlesen

Nichtsnah, himmelwärts: Isabelle Faust und Kristian Bezuidenhout beim Musikfest

Zur Geigerin Isabelle Faust geht der Konzertgänger stets mit den höchsten Erwartungen. Aber dann werden sie doch jedesmal übertroffen.

Was für eine kunstvolle Programm-Architektur bei Faust und dem Cembalisten Kristian Bezuidenhout. Und das einen Tag, nachdem Barenboim und die Staatskapelle ihre Saison und nebenbei das Musikfest Berlin mit einem Programm eröffneten, wie man es sich schwerer (was das Werk selbst angeht) und zugleich unambitionierter (als Saison- und Festivaleröffnung) nicht vorstellen kann: nämlich Bruckner ohne alles (Tagesspiegel-Kritik).

Nun im Kammermusiksaal Bach plus Frühbarock, fast drei Stunden lang. Welche Zusammenhänge und Kontraste sich da hörend erschließen! Weiterlesen

24.9.2016 – Steinerweichend: Konzerthausorchester, de Billy, Isabelle Faust spielen Dutilleux, Bartók, Ravel

Dutilleux-Parallelaktion in Berlin: dreimal Métaboles in der Philharmonie, dreimal Le Double im Konzerthaus, jeweils von Donnerstag bis Samstag.

transverse-line-by-wassily-kandinskyDie Le Double genannte 2. Sinfonie (1959) von Henri Dutilleux, mit der das Konzerthausorchester unter Bertrand de Billy den Abend eröffnet, ist nicht nur hörenswert, sondern auch sehenswert: Ein Mini-Orchester von 12 Solisten inklusive Pauken, Celesta, Cembalo bildet einen inneren Ring ums Dirigentenpodest, das „normale“ Orchester den äußeren Ring. Weiterlesen

2.9.2016 – Raumzeitwandernd: GrauSchumacher Piano Duo und Isabelle Faust eröffnen das Musikfest

Salzburg hat eine Ouverture spirituelle, das Musikfest Berlin eine Art Ouverture conceptionnelle: Vor dem ersten dicken Sinfoniekonzert gibt es zwei Kammerkonzerte, eins über den Raum und eins über die Zeit. Bevor Isabelle Faust Luigi Nonos La lontananza aufführt, spielt das GrauSchumacher Piano Duo: Le temps, mode d’emploi (2014) von Philippe Manoury.

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7.6.2016 – Lebensrettend: DSO, Norrington, Faust spielen Haydn, Mozart, Vaughan Williams

HaydnportraitZwischen wartenden Harfen und allerlei Perkussionsgerödel, das großer Dinge harrt, beginnt Joseph Haydns Symphonie Nr. 87 A-Dur Hob I:87 wie ein Überraschungsangriff. Die lang gedehnten Pausen im Kopfsatz genießen die Musiker des Deutschen Symphonie-Orchesters mit sichtbarer diebischer Freude. Hörbar ist diese Freude sowieso, erst recht in den Soli der Flöte (Kornelia Brandkamp) im Adagio und der Oboe (Thomas Hecker) im Trio des Menuetts.

Der freudigste Dieb von allen, Sir Roger Norrington, dirigiert nur, wo es nötig ist, oft und gern hört er einfach staunend seinen famosen Musikern zu. Weiterlesen

Einfach disparat: Das Mahler Chamber Orchestra spielt Carl Nielsen und Alban Berg

Sehr disparat, sagt ein bleicher Hutträger mit der gequetschten Stimme des Kulturschaffenden, nachdem Carl Nielsens 6. Symphonie Sinfonia semplice mit einem prononcierten Schlussbrummen des Fagotts zu Ende gegangen ist. So gut hätte der Konzertgänger es nicht ausdrücken können, um so mehr hat er sich über das bunte Vielerlei gefreut: zarte Glöckchenklänge, hymnische Passagen, Klarinettentänzchen, Posaunenglissandi, Anton-Webern-Pling-Pling, todesahnungsvolles Streicherlamento, Drehorgelklänge. Der 2. Satz Humoreske klingt anfangs fast wie ein grundschulisches Orff-Instrumentarium, das dann allerdings mächtig gewaltig in Schwung kommt.

Simpel ist die Sinfonia semplice bestimmt nicht, sondern ein lustvoll unverkopftes Flickwerk, in dem völlig gegensätzliche Passagen verkuppelt werden. Geradezu kurios, dass dies ein letztes Werk ist, wenn man an die letzten Werke anderer bedeutender Symphoniker denkt; es klingt wie ein Anfang, im positiven Sinn. Mitunter wirkt es, als würde Nielsen im lustigen Wechsel andere Komponisten imitieren, nicht nur Mahlerschunkeln, Webernpiepsen, Sibeliusschwelgen, sondern sogar Komponisten der Zukunft, bis hin zu Lutosławski (Apogäum im 1. Satz, geblasen, nicht gestrichen; Tonrepetitionen im Finale).

Die, wie man als Hutträger sagen würde, kammermusikalische Faktur der Sinfonia semplice wird betont durch die Bearbeitung des dänischen Komponisten Hans Abrahamsen, der eine reduzierte Fassung für 18 Musiker erstellt hat. Es klingt, als müsste es so sein: Jedes Instrument tritt individuell hervor, Triangel und Glockenspiel gleichberechtigt mit der ersten Geige, jeder liefert seinen Beitrag zum Klangwunder. (Was in der „Voll“-Version, wo  naturgemäß der Streicherklang stärker dominiert, nicht ganz so ist, wie man z.B. in den ein- und ausdrucksvollen Aufnahmen Herbert Blomstedts mit dem San Francisco Symphony Orchestra hören kann.) Die Abrahamsenversion macht außerdem die Qualität jedes einzelnen Musikers des Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von Thomas Søndergård eindrucksvoll hörbar. Featured imageEs passt zu diesem schrulligen Komponisten, den Carl-Nielsen-Schwerpunkt des diesjährigen Musikfests so originell zu eröffnen; wobei es schön wäre, die Sechste dann auch einmal in Originalbesetzung im Konzertsaal zu hören. In den nächsten Tagen folgen noch die Symphonien 3 bis 5, die eher dem Begriff des neurotischen Enthusiasmus entsprechen, mit dem Leonard Bernstein Nielsens Musik beschrieben hat, sowie erfreulicherweise die 4 frühen Streichquartette. Außerdem gibt es im Foyer der Philharmonie bis zum 9. Oktober eine Ausstellung über Carl Nielsen. Mehr als die ersten beiden Symphonien fehlt im Programm jedoch das Liedschaffen, das Nielsen, wie man liest, in Dänemark so populär macht; wenn nicht als Liederabend, warum nicht an einem gemeinsamen Singabend? Auch wenn es nicht so gut klänge wie hier:

[Nachtrag: Die Nordischen Botschaften veranstalten bis zum Dezember ein NACHSPIEL mit Liedern und Kammermusik von Nielsen; und das bei freiem Eintritt.]

Die Symphonie in Spezialensemble-Version passt allerdings bestens zu Alban Bergs Kammerkonzert für Klavier und Geige mit 13 Bläsern, die wie die Sinfonia semplice 1925 entstand. Dass es hier strenger zugeht als bei Nielsen, sieht man schon an der Aufstellung, die Bläser sitzen in Reih und Glied wie Erstklässler in Nordkorea, als kollektiver Klangkörper, fast konfrontativ zu Alexander Melnikov am Klavier und Isabelle Faust an der Geige.

Aber die Bläser, allen voran das Horn (Sebastian Posch), müssen ihre Individualität keineswegs an der Garderobe abgeben, und das Stück macht durchaus Spaß (sic), auch wenn die Spaßbremse Theodor W. Adorno erklärt hat, das Lesen der Partitur des Kammerkonzerts mache ihm mehr Freude als das Hören. (Es gibt ja auch Leute, die lieber im Kochbuch lesen als zu essen.) Zwar lassen sich die zu Beginn erklingenden Motive von SCHönBErG, WEBErn und BErG im weiteren Verlauf vom Konzertgängergehör nicht immer erfassen, aber die Musik ist so schilllernd, dass das nichts macht. Das Zusammentreffen von Klavier und Geige ist ein atemberaubender Höhepunkt; der allerdings recht früh kommt, zu kurz ist das Kammerkonzert nicht. Aber es hat einen der tollsten Schlüsse der Musikgeschichte: ein endlos verklingender Monster-Akkord des Klaviers, über dem die Motive des Satzes mit immer längeren Pausen verwehen, bis zum letzten Pizzicato.

Interessant, dass der Naturtöner Nielsen hier irritierender wirkte als der Zwölftöner Berg: Auch wenn Berg mit dem Kammerkonzert nach Wozzeck neue Wege einschlug, meint man den Sound zu kennen (ohne die Struktur zu begreifen); Nielsens Sound fasziniert und verwirrt; zumindest wenn man kein Däne ist.

Als Zugabe spielten Faust und Melnikov eins der Vier Stücke für Geige und Klavier von Anton Webern, ein Bonus an der Grenze zur Unhörbarkeit. So sollte es sein, in einer idealen Welt werden Webern-Zugaben gespielt!

Mit Weberns letztem Ping im Ohr und beseelt vom unendlichen Klangreichtum Bergs und Nielsens radelt der Konzertgänger durch den Tiergarten heimwärts. Das Quietschen seines Fahrrades klingt, als zirpten noch die Grillen; aber die kalte Luft zeigt, dass Herbst ist.

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Carl Nielsen beim Musikfest

Mahler Chamber Orchestra