Das Musikfest auf der Zielgeraden: unter anderem mit einem Klavierdonnerstagabend von Pierre-Laurent Aimard (bei dem man sich ein wenig fragt, wozu) und einem Sonntagskonzert des französischen Orchesters Les Siècles mit seinem Dirigenten François-Xavier Roth: die zwingende und unbedingt notwendige Antwort auf eine Frage, von der man nie wusste, dass man sie hat.
Aimard ist ja sowas wie der Hauspianist des Musikfests, drei Konzerte gibt er hier in zwanzig Tagen. Aber wie schon Beethovens Hammerklaviersonate ist auch Franz Schuberts späte G-Dur-Sonate D 894 bei Aimard eine Enttäuschung, allzu beiläufig gespielt. Wozu? Welche Spannung dagegen in Helmut Lachenmanns GOT LOST für hohen Sopran und Orchester, komponiert 2007. Das ist irgendwie dekonstruktiv herumkomponiert um ein Nietzsche-Zitat, einen Aushang im Fahrstuhl des Wissenschaftskollegs Grunewald (Forschungsdesiderat: der Einfluss dieser Villa in der Koenigsallee auf die Gegenwartsmusik) und ein Gedicht von Fernando Pessoa. Viel bleibt bei Letzterem nicht vom schönen Klang des Portugiesischen, dafür weidlich vertraut scheinendes Zungeschnalzen, Wangeploppen und rrrrollendes Rrrrr wie ridiculas – so Pessoas Kehrvers. Die Sopranistin Yuko Kakuta ist toll, die Komposition gekonnt, man hört sie gern und fragt sich doch erneut wozu. Hurz. Portugiesisch wär auch schön. Dieser dritte Abend mit Aimard weckt, bei aller Bewunderung, den Wunsch, das Musikfest möge seine Pianisten-Einladungen künftig etwas stärker diversifizieren.
Kein Gedanke an Hurz und Wozu hingegen in Helmut Lachenmanns Mouvement (- vor der Erstarrung), das in der Mitte des Programms von Les Siècles in der Philharmonie steht. Vielleicht geht es ja im Spätwerk des (zu Recht allseits geehrten und bejubelten) Helmut Lachenmann einfach nicht mehr so zwingend zu wie in den Werken der 1970er und 80er. Mouvement ( – vor der Erstarrung), komponiert 1982 bis 84, ist keineswegs die phlegmatische Klangbeschau, die zumindest der eingeklammerte Teil des Titels befürchten lassen könnte. Zwar gibt es auch hier viel Schaben, Scharren, Ploppen auf Trompetenmundstücken, Reibereien an Geigenschnecken und Rubbelei an Notenpulten. Aber das Ohr denkt in einem fort: Aha, und es kommt zu Entladungen von Energie, die nicht weniger explosiv scheinen als Beethovens Fünfte.
Der Clou des Abends ist aber das Orchester Les Siècles, das der Dirigent François-Xavier Roth 2003 gegründet hat. Historisch informiert beschränkt sich hier nicht auf Musik vor 1800: So wie man Rameau auf Instrumenten von 1750 spielt, so Berlioz auf solchen von 1850 und Lachenmann von 1980 und stimmt zwischen 415 und 442 Hertz herum. Der organisatorische, finanzielle und künstlerische Aufwand muss erheblich sein, aber das Ergebnis ist großartig: nicht weil das alles so klug und gebildet ist, sondern weil es von Anfang bis Ende gleichermaßen authentisches wie beseeltes Musizieren ist.
Da merkt der Konzertgänger: Auf dieses Konzept hat er sein Hörleben lang gewartet, ohne es zu wissen.
Und so treten die Geigen in der Auswahl aus Jean-Philippe Rameaus Les Indes Galantes-Suite erstmal ohne Kinn- und Schulterstützen und ohne Stühle vors Publikum. Und doch klingen sie, selbst im ersten sich rasant beschleunigenden Tambourin, hochelegant (ohne eine Spur von currentzisschem Gerumpel). In den berühmten Les Sauvages wird ein zweieinhalb Meter hoher Schellenspeer mitgeschüttelt, an der Seite rote Puscheln und obendrauf ein Halbmond, auch optisch ein Erlebnis. Allein das Zusehen enthusiasmiert einen da, als wär man ein sonnenköniglicher Hofschranz!
Und wenn man wie der Konzertgänger wähnte, die Harold en Italie-Sinfonie von Hector Berlioz wär ein ziemlich doofes Stück (wenn man sich einmal zu Tode langweilen will, muss man sich nur die Aufnahme mit Yehudi Menuhin auf Youtube anhören) — dann wird man hier eines Besseren belehrt! Den sehr seltsamen Bratschen-Part, den der angebliche Auftraggeber Paganini angeblich empörend läppisch gefunden habe, macht Tabea Zimmermann vollkommen schlüssig. Nicht nur, weil ihre wallenden Mantelschöße so schön zum düsteren Orchesterwallen passen, als stünde da kein Geringerer als Harold-Hector en personne maudite. Wichtiger noch ist natürlich ihr überwältigend schöner Ton, der im ersten Satz Innigkeit bis knapp vors Nichts einschließt ( – vor die Erstarrung). Und wenn das Pilgermarsch-Thema des zweiten Satzes sich zunächst wiederholt, als wärs ein Rameau-Rigaudon, dann reflektiert Zimmermann das in sirrenden Bratschen-Wellen, die teils fast wie eine Maultrommel klingen, teils tatsächlich wieder an lachenmannsche oder sonstige Klangtüfteleien erinnern.
Und wie vermochte dieser prophetische Schrullikus Berlioz doch Orchesterinstrumente zu mischen! Der Abruzzen-Gebirgler, der im dritten Satz ein abendliches Ständlein bringt, müsste mit solchen Klangwirkungen leichtes Spiel bei seiner Geliebten haben. Dieser arme Bratschen-Harold aber, wie sieht er zu und brütet düster und reflektiert und sehnt sich und singt vergebens nach! Völlig verrückt auch heute noch der Abgang der Solistin im Finale (dafür legt dann die Orchestermaschine samt berliozscher Ophikleide los, der Ur-Tuba) – und ihre Wiederkehr als Geist hinter dem Orchester, für ein paar letzte Töne.
Verrückt? Roths Les Siècles überzeugen uns, dass das visionär ist. Utopie, sagt Roth in einer kurzen Ansprache – das verbinde Lachenmann und Berlioz. Als Zugabe spielt das Orchester dann noch den Ungarischen Marsch aus Berlioz‘ La damnation de Faust.
Ein wundervoller Abend, wirklich ein Höhepunkt des Musikfests!
Interessante Beobachtung, dass die 70er/80er-Jahre-Stücke bei Lachenmann triftiger klingen. Zumindest mit dem Mädchen mit den Schwefelhölzern hat Lachenmann (UA 1997) aber etwas vermutlich Bleibendes geschaffen.
Ja, da haben Sie Recht. „Das Mädchen an den Schwefelhölzern“ an der Deutschen Oper vor einigen Jahren (ich glaube, HL selbst mochte die Inszenierung nicht) war meine erste intensivere Begegnung mit Lachenmann. Würde ich gerne wieder erleben.