Hörstörung (24): Notwehr-Exzesse im Konzertsaal

Sinfoniekonzert (Symbolbild)

Dass vor wenigen Wochen ein Malmöer Konzert des Leipziger Gewandhausorchesters unter Andris Nelsons in einer Schlägerei endete, lag weder an aufführungstechnischen Unzulänglichkeiten noch an der generell aufwühlenden Wirkung von Gustav Mahlers Fünfter, sondern war die Eskalation eines Konflikts, der von der Hörstörung durch ein sich auswickelndes Kaugummi (oder doch eher ein Hustenbonbon?) ausging. Das Parlando über solche notorischen Hörstörungen ist nicht nur ein beliebtes, manchmal leider an die Stelle der Reflexion über die gehörte Musik tretendes Pausengesprächsthema unter Konzertgängern, sondern seit jeher eine der erfolgreichsten Rubriken in diesem Blog. Aus Gründen. Und Anflüge von Körperverletzung sind da tatsächlich nichts Neues. Auf einen anderen Aspekt machte jedoch anlässlich des Malmöer Exzesses die, oft selbst von Hustern und Raschlern gestörte, Musikkritikerin Julia Ruth Spinola bei Facebook aufmerksam:

[…] ich nehme seit ein paar Jahren auch eine zunehmende Übergriffigkeit im Publikum wahr, die ich völlig intolerabel finde. Mich hat schon ein Mensch, der drei Plätze neben mir saß, während einer Vorstellung plötzlich am rechten Oberarm gepackt und so gerüttelt, dass mir mein Stift aus der Hand gefallen ist. Ein Hintermann hat mir grob in die offenen Haare gegriffen, und verlangt, dass ich mir einen Zopf machen soll. Ein Sitznachbar im Rang hat mich angefasst und meine Sitzposition verändert, weil er dann bessere Sichtfreiheit habe. Da stehe ICH, ehrlich gesagt, innerlich kurz vor der Gewalttat, bin aber zugleich starr vor Schock. Man teilt nun einmal mit vielen Menschen einen Raum und ein oft intimes Rezeptionserlebnis im Opern- oder Konzertsaal.

„Welche Störung mich auch ficht: Ich steche nicht.“ (I. Kant, Kritik der hörenden Vernunft)

Dass der Traum des hörenden Solipsismus nun mal dem Wesen des Konzertsaals widerspricht, ist wahr. Und sind in den letzten Jahren tatsächlich Hemmschwellen gesunken, Mitmenschen tätlich anzugehen, wenn man sich gestört fühlt?

Man kann sich in den Ärger über wirkliche oder eingebildete Störer bedenklich hineinsteigern. Auf jeden Fall also sollte man, ehe man gefühlte oder berechtigte Notwehr zum Exzess gedeihen lässt, Alfred Brendels ehernes Gesetz Ich huste nicht, auch wenn das Herz mir bricht durch ein weiteres Gesetz ergänzen: Auch wenn mein Nachbar müfflig riecht, röchelnd siecht, wenn er knistert oder flüstert, wenn er filmt, wenn er qualmt, selbst wenn er lauthals spricht oder sich erbricht: ich schlage nicht!

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