Aktivstruppverdichtend: JACK Quartet im Kammermusiksaal

Lost and found im dichten Aktivitätsgestrüpp

Kontrastprogramm in der Philharmonie: Während in der Großen Halle des Musikvolkes Herr Lang und Frau Mutter zu Ehren von Tausendzweihundert Jahre Deutsche Grammophon festkonzertieren, setzt es im Hinterhaus eine bunte Mischung Neues, Modernes, Zeitgenössisches. Am Eingang zu jenem Querhörgebäude steht sicherheitshalber eine freundliche Mitarbeiterin, die jeden Herantröpfelnden besorgt fragt, ob er wirklich zum JACK Quartet wolle.

Keine Ahnung, antwortet ein älterer Herr im feinen Zwirn, muss ich meine Frau fragen.

Und der Konzertgänger stellt sich den ganzen Abend einen Mutter-Lang-Lang-Freund vor, der versehentlich im Kammermusiksaal landet. Nicht aus Schadenfreude. Denn es wäre ja eher Nutzenfreude, wenn ein Zufallsgast sich mit offenem Ohr im dichten Aktivitätsgestrüpp dieser Musik verfinge.

Jenes dichte Aktivitätsgestrüpp sollten die Ausführenden physisch verinnerlichen, wie die 1985 geborene Kanadierin Zosha di Castri in einem sympathisch wirren Sprachbild ihr 1. Streichquartett von 2016 kommentiert. Das dauert 9 Minuten und ist ziemlich packend. In hoher Dichte knallen klangliche Kurz-Kurz-Ereignisse aufeinander, es ratscht und wispert aufs Dollste. Mit Energie wie ein Allegro con brio sondergleichen schleudert das JACK Quartet das Ding zielgenau in den Raum. Der ist trotz des kompromisslosen Programms gar nicht so leer. Ein paar Leute wollen doch wissen, ob diese vier jungen Amerikaner die neuen Ardittis sind. Deren Schüler sind sie jedenfalls, daneben haben sie auch beim Kronos Quartett und bei Musikern des Ensemble intercontemporain studiert, die hohen Namen der Gegenwartsmusik halt.

Alle vier spielen vom Tablet. Die Einhelligkeit in technischer und emotionaler Hinsicht ist enorm. Yeah, that’s physisch verinnerlichtes dichtes Aktivitätsgestrüpp.

Und der Programmablauf ist klug. Auf di Castri folgen mit Morton Feldmans frühen Structures (1951) Klänge soft as possible, wie es in der Spielanweisung heißt. Den Mutter-Lang-Lang-Freund könnte da freilich unwillkürlich ein grausiger Hustendrang befallen, einfach aus Angst, wie arg es wär, reinzuhusten in eine Welt, in der ein ff im Weglassen des vierten p’s besteht.

Dass die Musiker sich in Elliott Carters 3. Streichquartett von 1971/72 je zu zweit an die äußersten Ränder des Podiums platzieren, so dass sich zwei Duos fern gegenübersitzen, ist eigentlich überflüssig. Denn der Kontrastklang der beiden Pärchen wird auch so überdeutlich: nervös zuckende Hektik hier, ruhige Klangfläche da. Interessant wirds, wenn die Rollen sich angleichen oder vertauschen. Manchmal schweigt aber auch Duo II und schaut sich schweigend an, wie Duo I herumtobt; etwa wie ein abgeklärter Vierjähriger über einen kollernden Zweijährigen staunt. Und ein bisschen hört man sich so auch dieses überkonstruiert wirkende, mit gut 20 Minuten längste Stück des Abends an, das trotz wohl bravourösen Spiels nicht recht abheben mag.

Liza Lims The Weaver’s Knot von 2014 ist dann ein konzis fiedelschrubbiger Sechsminüter, den man ganz gern hört – trotz solch schauerlicher Selbst-Exegese der australischen Komponistin: Das musikalische Werk bietet ein Bild des Streichquartetts als Ensemble dynamischer Klangfäden in einem sich entfaltenden Prozess des Verbindens und Loslösens. Dann doch lieber Max Bruch, denkt sich der Mutter-Lang-Lang-Freund, wenn er das liest.

Der Schluss aber ist ein einsamer Gipfel. Iannis Xenakis‘ Tetras (1983) ist, man muss es so sagen, ein geiler Klassiker. Hyperkunstvolle Brachialgewalt, irgendwas zwischen Angriff der Killerbienen und Materialprüfern beim Komasaufen. Wie Xenakis mit seinem mathematischen Firlefanz Musik von derart archaischer Wucht schaffen konnte, keine Ahnung. Jedenfalls hat er. Zu einem einzigen gigantischen „Super-Instrument“ würden die vier Quartettviertel in diesem Meisterwerk, schreibt Harald Hodeige in seiner Werksynopse ganz wahr. Aber mit welcher Perfektion die vier Jacks hier zu einem perfekten Super-Körper verschmelzen, das krönt dieses Ereignis.

Das Konzert ist ein bisschen kurzkurz. Es ginge sich gut aus, noch ein oder das andere Stück zu wiederholen, auch wenn die Eintrittspreise nur etwa ein Viertel vom Viertel des Lang-Lang-Mutter-Festkonzerts betragen. Das Xenakis-Ereignis ist unwiederholbar. Also würde der Konzertgänger am liebsten di Castris reizvolles Eröffnungsstück nochmal hören; um das dichte Aktivitätsgestrüpp noch physischer zu verinnerlichen.

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