Musikfest 2018: Concertgebouw berührt, Boston zäunt

Zaungast, where art thou?

Was hat Boston, das das Concertgebouw nicht hat? Denn während die Philharmonie beim Boston Symphony Orchestra am Donnerstag gut gefüllt ist (und das trotz erheblich höherer Preise), war der Saal beim Concertgebouw-Orchester am Dienstag erschreckend leer. Bei einem weniger renommierten Orchester wie dem aus Rotterdam konnte man das befürchten, aber bei dem aus Amsterdam, das in (albernen) Orchester-Rankings regelmäßig zu den besten der Welt zählt? Ist der Berliner übersättigt oder einfach borniert? Wo er doch, wie Karlsson vom Dach, zu seinen Besuchern gerne sagt: Du kannst aber auch ein bißchen bekommen, denn ich bin ja so unerhört gastfrei.

Watch your hands, conductor!

Freilich war das Musikfest-Gastspiel des Concertgebouw im letzten Jahr eine Enttäuschung. Es mag eine unzuverlässige Vermischung der moralischen Sphären sein, aber der Konzertgänger ist auch in musikalischer Hinsicht nicht unfroh über den Abgang von Daniele Gatti. Denn ebenso verwerflich wie das unerlaubte Berühren von Musikerinnen ist ihm das Nichtberühren von Ohr und Herz des Hörers.

Da ist der eingesprungene Manfred Honeck doch ein anderes Kaliber. Die Kombination von Webern und Berg mit Bruckner ist freilich noch Gatti zu verdanken, und die ist dankenswert.

Der abgedunkelte Streicherklang des Koninklijk Concertgebouworkest macht Anton Weberns  Fünf Sätze für Streichquartett op. 5 (komponiert 1909, luzide aufgeblasen für Streichorchester 1929) zu einer aufregenden Angelegenheit. Die legendär hustenlösenden Effekte von Weberns Musik sind leider an diesem Abend stärker als bei der geballten Dosis Webern, die das Ensemble Modern am Vortag bot. Und einen so lauten Atmer neben sich zu haben wie der Konzertgänger, ist bei Weberns Verschwindibusklängen doch arg. Zudem zeigt sich, dass Satz IV Sehr langsam exakt so lang dauert wie das raschelnde Auswickeln eines Hustenbonbons.

Doch für das Leuchten solchen Unsterns kann das Orchester nun wirklich nix. Bei Alban Bergs 5 Orchesterliedern op. 4 nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg, dem alten Kaffeehausliteraten und Kinderschänder, lässt das Husten nach. Das kann an Bergs betörenden Klangfarben ebenso liegen wie an der hinreißenden Sopranistin Anett Fritsch. Welch Wagemut, wenn sie am Ende von Lied 3 einen ungeheuren Schmerz über die Grenzen des Alls hinaus! – nicht sinnt, sondern schreit, bewusst schrill. Und was für eine bebende, ja glühende Form von Resignation in Lied 4 Nichts ist gekommen, nichts wird kommen. In Anton Bruckners 3. Sinfonie d-Moll, hier in der 3. Fassung von 1889, ist schließlich ein ganz anderes Concertgebouw Orkest zu hören als letztes Jahr in der Neunten: keine Spur von der damaligen Tranigkeit, sondern  drangvoller Wille zu Emotionalität, Religiosität, auch Tanz. Selbst um den Preis einer gelegentlichen Verschwommenheit. Es wirkt, als hätte jemand das Orchester aus seiner letztjährigen Einzäunung befreit.

Weitere Kritiken: Tagesspiegel, Stageandscreen Zum Konzert des Concertgebouw

Das Boston Symphony Orchestra darf es sich leisten, bei seinem Gastspiel die diversen Themenstränge des Musikfests souverän zu ignorieren. Andris Nelsons steht auf seinem lustigen Bostoner Dirigentenpult, das einen Holzzaun mit sieben Latten hat, und macht einfach Mahler drei.

Und zu Beginn des Kopfsatzes der Sinfonie d-Moll für großes Orchester, Alt-Solo, Knabenchor und Frauenchor (1893-96, rev. 1906) meint man ein Tier unter Hochspannung zu erleben, das unter heißem Puls hinter seinem Zaun hin und herscharwenzelt. Alles ist Spannung. Nelsons aber, das ist der Zaun, die straffe Führung. Die Bläserei scheint dominant gegenüber dem Gestreiche. Selbst das Harfenrauschen verschwindet unter totaler Kontrolle. Vermisst man nicht das gelegentliche Loslassen, die Momente von Dehnung und Stillstand, von Chaos, die auch in der Musik den tanzenden Stern gebären?

Die Bedenken zerstreuen sich jedoch so ziemlich im weiteren Verlauf. Nelsons‘ Neigung zum Überdirigieren wirkt nicht mehr so arg wie in früheren Konzerten, selbst wenn er mal, während er mit der rechten Hand den Takt gibt, mit dem Zeigefinger der Linken der kleinen Trommel den Schlag vorgibt (als hätte der Bostoner Schlagwerker kein Rhythmusgefühl). Bei dem Arbeitspensum kein Wunder, dass Nelsons nach dem ersten Satz hinter dem Boston-Zaun hervortritt und eine halbe Flasche Wasser trinkt.

Komm! ins Offene, Freund!

Aber es wirkt doch alles freier als schon erlebt, auch bei den Philharmonikern. Und die Musik leuchtet schließlich sternig, auch wenn sie nicht unbedingt tanzt, Nelsons scheint nicht auf der Suche nach einem spezifischen Mahler-Idiom. Allein die phänomenale Qualität aller Orchestergruppen aber ist ein Erlebnis. Das Solo der Posaune im Kopfsatz ist so betörend wie das Holz im Menuett. Pech, dass ausgerechnet das Posthorn-Solo schwächelt; woran weniger der Solist schuld sein mag als die akustisch unvorteilhafte Platzierung in der Höhe statt in der Ferne. (Nachtrag: Siehe dazu auch den Leserkommentar unten.)

Das Hereinspazieren von Susan Graham vor dem 4. Satz ist etwas prosaisch, aber ihr dunkles Oh Mensch umso poetischer. Die Kombination mit der ersten Geige ist traumhaft. Und von bewunderungswürdiger Klarheit der Chor im 5. Satz, der seit Beginn des Abends auf der Bühne sitzt, nicht nur die Damen des GewandhausChores, sondern auch der hochdisziplinierte GewandhausKinderchor – letzterer einstudiert von Frank-Steffen Elster, ersterer von Gregor Meyer. (Warum schreiben die sich aber in LeipZig mit so blöden GroßBuchStaben im Wort?) Und schließlich das große Innehalten, der weite Atem im langsamen Finalsatz, ein Traum von Streicherpianissimo und eine Schlusssteigerung, die Nelsons grandios gelingt, ohne draufzubuttern.

Am Ende bleibt ein sehr heller Eindruck, Licht tiefer noch als Herzelust.

Notizen ans selbst: Ruhrpott. Bernd Alois Zimmermanns vortags gehörte Photoptosis von 1968 war ein Auftragswerk der Stadtsparkasse Gelsenkirchen, Mahlers Dritte wurde 1902 in Krefeld uraufgeführt.

Weitere Kritiken: detailgenau bei stageandscreen

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6 Gedanken zu „Musikfest 2018: Concertgebouw berührt, Boston zäunt

  1. Ich saß in Block G links und hatte volle Sicht auf Nelsons: Der Mann hat das Orchester echt im Griff und gibt jede Note vor, hatte ich den Eindruck. Allerdings wusste er wirklich, was er tat. Für mich der Höhepunkt des Musikfestes (abgesehen von der Rotterdams Bruckner 4), denn lange nicht habe ich Mahler 3 so … gestaltet … gehört. Mahler hatte mir was zu sagen und Nelsons auch. Wenn man beides in einem Konzert hört, geht’s eigentlich nicht besser. Und der Posaunist hätte den Blumenstrauß verdient! Ein Freund sagte nach dem Konzert zu mir: Ich glaube, ich habe heute Mahler 3 das erste Mal verstanden. Jedenfalls: ein beglückender Abend. Und das mitgeführte Dirigentenpult ist ein schönes Detail, das ich jedesmal mit Vergnügen sehe (das letzte mal bei Mahler 6 vor einigen Jahren)

  2. Man muss den armen Posthornisten in Schutz nehmen, denn offenbar ist er Opfer einer Sparmaßnahme geworden. Wird sonst ein zusätzlicher Trompeter engagiert, musste hier der Solo-Trompeter, wohlgemerkt bereits eine knappe Stunde Blaserei in den Lippen habend, ran. Hätte ein dirigierender Trompeter (bzw viceversa) besser einschätzen können. Der hatte aber vielleicht zu viel damit zu tun, sein fancy Podest nicht zu vergessen – apropos, hast du den Glenn-Gould-Gedenkstuhl am letzten Pult der ersten Geigen gesehen? Sehr putzig!

    Hab ich mir das nur eingebildet, oder hat sich der Saal beim Concertgebouw-Konzert nicht in der Pause sogar noch etwas gefüllt? Das wäre dann ja ein recht eindeutiges programmatisches Argument für die Leere.

  3. Na ja,
    das mit den Besucherströmen ist schon ein Phänomen. Wie ich gesehen habe, war das Runnicles Konzert, das all die Jahre immer sehr voll war, auch nicht so besucht.
    Liegt es vielleicht doch an den Progammen? Zuviel „modernes“ jeden Tag??
    Gestern Abend war erstaunlicherweise die DO bei Romeo und Julia sehr sehr voll. auch die 3 Folgevorstellungen..

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