Sternfallend

Der RIAS Kammerchor singt Musik aus Jahrtausenden und die Uraufführung von Jüri Reinveres „Die Vertreibung des Ismael“

„Ist Gott mit den Sternen?“, fragt der kleine Ismael in der nächtlichen Wüste, in die er mit seiner Mutter Hagar vertrieben wurde (vertrieben, wie es auch heute Millionen Menschen werden), und: „Können die Sterne auch runterfallen? Sieht das dann so aus wie Regen?“ Der Glaube droht sich im Niederschlag aufzulösen, Gottessturz. Aber die Mutter antwortet dem Kind nicht mehr, sie schweigt. Und Engel sind anscheinend auch nicht zu erwarten. Es ist der beklemmende Schluss von Jüri Reinveres Die Vertreibung des Ismael, einem Vokalwerk nach der Erzählung aus Genesis, das der RIAS Kammerchor unter Justin Doyle eindrucksvoll im Kammermusiksaal der Philharmonie aufführt. Und bei diesen ins Leere fallenden letzten Fragen des unglücklichen Kindes (das in der koranischen Überlieferung einer der großen Propheten und Erbauer der Kaaba sein wird) widerhallt im Ohr Musik aus dem 13. Jahrhundert, die der Chor zuvor sang: Santa Marìa, Strela do día. „Tagesstern“: So heißt die Muttergottes in dem galicisch-portugiesischen Gedicht aus einer Sammlung des kastilischen Königs Alfonso X el Sabio. Es gehört zum gewichtigen ersten Konzertteil, der weit mehr als eine Hinleitung auf die Uraufführung ist.

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Amormartialisch: Monteverdi mit Jordi Savall & Le Concert de Nations

Die Barocktage der Staatsoper auf der Zielgeraden: Nach dem starken L’Orfeo, der noch stärkeren Poppea sowie dem weniger starken Hippolyte widmen sich einige intimere Konzerte nochmals den Schwerpunkte Monteverdi und Rameau. Während Christophe Rousset, solo und mit Ensemble, am Freitag und Sonntagnachmittag zweimal französischen Hochbarock im Apollosaal aufführt (Bericht folgt), gilts bei Jordi Savall und Le Concert des Nations im Pierre-Boulez-Saal zwei Stunden lang Krieg und Liebe: Madrigali guerrieri et amorosi aus dem VIII. Madrigalbuch von Claudio Monteverdi. Weiterlesen

Lustmonströs: Monteverdis „L’Incoronazione di Poppea“ an der Staatsoper

Drei Großbühnenwerke hats, nebst jeder Menge Kammer- und Instrumentaljuwelen, als Hauptereignisse bei den Barocktagen der Staatsoper. Aber sashawaltz-choreografierter Orfeo hin, event-overkillte Rameau-Premiere her: Claudio Monteverdis L’Incoronazione di Poppea in der lustvoll konzentrierten, wohltuend professionellen Regie von Eva-Maria Höckmayr ist die mit Abstand gelungenste der drei Produktionen. Eine Arbeit, an der alles, aber wirklich alles passt. Das macht sie sogar weit über Barock und Linden hinaus zu einer der attraktivsten Angelegenheiten, die man derzeit auf Berliner Opernbühnen erleben kann.

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Hölltorig: „L’Orfeo“ an der Staatsoper

Aus der Noth eine Jugend machen, wie es beim Baröckdichter Andreas Grüffelius heißt! Während das Kammeroperfest der Staatsoper (trotz interessantem Programm) immer was unverhohlt Nothnageliges hatte, lässt man sich heuer bei der Vertretung der durch China tourenden Staatskapelle nicht lumpen: Fast drei Wochen lang sind Barocktage an der Staatsoper Unter den Linden. Les Musiciens de Louvre kommen und die Akademie für Alte Musik, Simon Rattle, Jordi Savall und Alexandre Tharaud, Christophe Rousset und Dorothee Oberlinger und viele mehr. Zum Start aber wird der Lindenopa erstmal altmusikalisch verjüngt zur Freiburger Barockoper, denn das Consort des gleichnamigen Orchesters spielt bei der choreografierten Oper L’Orfeo des bekannten Künstlerpaars Sasha Waltz/Claudio Monteverdi. Weiterlesen

Hörstörung (21): Kein Ohr und kein Hals für Monteverdi mit William Christie

Der Vollständigkeit halber und fürs Archiv und mit Tränen auf den Wangen: William Christie und Les Arts Florissants und Monteverdi waren in der Philharmonie, der Konzertgänger leider nicht. Das ist die schlimmste Hörstörung überhaupt, wenn man sich seit Ewigkeiten auf ein Konzert freut und einen dann so ein Fiebern und Husten überfällt, dass mans einfach nicht verantworten kann. Will ja nicht den Musikern und den Mithörern eins husten wie diese Hustenbolde, über die man sich sonst so ärgert. Weiterlesen

Kreisquadratisch, überzeugwältigend: RIAS Kammerchor, Capella de la Torre, Justin Doyle mit 2x Monteverdi

Abschluss, vielleicht sogar heimlicher Höhepunkt des Claudio Monteverdi-Bogens beim diesjährigen Musikfest: Nach den drei Opern unter John Eliot Gardiner (mehr dazu und noch mehr) setzt es Geistliches im Doppelpack im Antrittskonzert des neuen Chefdirigenten Justin Doyle beim RIAS Kammerchor. Vor der unsterblichen Marienvesper gibts nämlich endlich mal den selten aufgeführten Hauptteil von Monteverdis gescheitertem Bewerbungsschreiben beim Papst zu hören, die Missa „In illo tempore“.

Die rangierte im Druck von 1610 vor der berühmten Marienvesper, die sich auf dem Titelbild nur im Kleingedruckten findet (ac Vespere pluribus decantandae). Während die Vesper ein Sammelsurium der verschiedensten modernen Stile ist, sollte die Missa Monteverdis Kompetenz im streng polyphonen Altväterstil beweisen. Weiterlesen

Zäh packend: Monteverdis „Ulisse“ und „Poppea“ mit John Eliot Gardiner

Disparate Vollendung beim Musikfest Berlin: Nach dem Startschuss mit L’Orfeo führt John Eliot Gardiner mit dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists in der Philharmonie die beiden anderen erhaltenen Opern von Claudio Monteverdi auf, die 35 Jahre nach dem Urknall am Fürstenhof von Mantua fürs neue Opernhaus in Venedig entstanden. Und der Konzertgänger fragt sich: Woran liegt es, dass ihm – bei allem Respekt vor der imposanten musikalischen Leistung – Il ritorno d’Ulisse in patria (1641) gelegentlich etwas zäh wurde, während er L’incoronazione di Poppea (1643) als Krönung der Trias erlebte? Weiterlesen

Orpheen, anders: Ilya Gringolts und Sunhae Im beim Musikfest

Lohnende Abstecher während der dreiabendigen Monteverdi-Hochgebirgstour mit Gardiner: eine violinistische und eine gesangliche Gipfelbesteigung im Kammermusiksaal. Die Akademie für Alte Musik tritt mit der umwerfenden Sopranistin Sunhae Im auf, der russische Geiger Ilya Gringolts ganz allein mit seiner Guarneri „del Gesù“.  Weiterlesen

Urklänge, chorphisch: Monteverdis „L’Orfeo“ mit John Eliot Gardiner

Belcanto? Belrecitando! Aufbruch zu einer Reise in die Urgründe der Oper mit Sir John Eliot Gardiner und seinen Musikern, die zu Claudio Monteverdis 450. Geburtstag mit dessen drei erhaltenen Opern durch die Weltgeschichte tingeln, beginnend mit L’Orfeo. Sollte das den Beteiligten schon zum Hals heraushängen, lassen sie sich auf ihrer einzigen Station in Deutschland, beim Musikfest in der Philharmonie, nichts anmerken.

Keine Ermüdungserscheinungen? Weiterlesen

Odysseus auf dem Fahrrad: Eröffnungswochenende der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci

Theo_van_Rysselberghe_-_Springbrunnen_im_Park_Sanssouci_in_Potsdam,_1903,_Neue_Pinakothek_Muenchen-1Potsdam lohnt immer einen Ausflug, aber manchmal besonders. Zum Beispiel zu den Musikfestspielen, die am Wochenende eröffnet wurden: u.a. mit einem kontroversen südafrikanischen Puppen-Monteverdi-Ulisses und einer herrlichen Fahrradtour um 7 Seen durch 24 Konzerte.

IL RITORNO D’ULISSE NELL’OSPEDALE

Nicht aus der weiten mythischen Welt kehrt der Listenreiche, Vielgewandte zu seiner Penelope heim, sondern aus den hoffnungslosen medizinischen Irrfahrten im eigenen Körper: Das scheint der (oder ein) Ansatz zu sein, mit dem der listenreiche, vielgewandte William Kentridge der Oper Il ritorno d’Ulisse in patria von Claudio Monteverdi zu Leibe rückt.

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Fein: Freiburger BarockConsort & Vox Luminis spielen Monteverdis „Marienvesper“

Artemisia_Gentileschi_-_Madonna_con_Bambino_(1609-1610)Die Kleinen bringen das Größte: Der Freiburger BarockConsort, die feine Kammer-Combo des Freiburger Barockorchesters, führt Claudio Monteverdis Vespro della Beata Vergine (Marienvesper) auf — das prächtigste, nuancierteste musikalische Mosaik, das jemals komponiert worden war. Mit diesem Superlativ bezieht John Eliot Gardiner sich zwar aufs Entstehungsjahr 1610, aber wer die Marienvesper heute hört, wird kaum zögern, diesem Satz auch die paar Jahre bis jetzt gutzuschreiben.

Die Aufführung im Kammermusiksaal leitet aus dem 13köpfigen Chor, der belgischen Vox Luminis, heraus der Bass Lionel Meunier. An seinem 36. Geburtstag und einen Tag vor dem 450. Geburtstag von Claudio Monteverdi. Weiterlesen

5.11.2016 – Kindhomerisch: „Odysseus“ im Radialsystem

head_odysseus_mar_sperlongaEine trojanische Flüchtlingswelle erreicht auf der Mittelmeerroute Ithaka, woraufhin Odysseus in See sticht, um eine Insel für die unerwünschten Flüchtlinge zu finden: so die Ausgangssituation in der Oper für Familien und Kinder, die die Taschenoper Lübeck und die lautten compagney Berlin im Radialsystem aufführen. Eine etwas holprige Aktualisierung, zumal das Schicksal der Flüchtlinge in Margrit Dürrs Libretto dann weiter keine Rolle spielt und die Läuterung des xenophoben Odysseus ziemlich vage gerät. Aber den nonchalanten Umgang mit antiken Vorlagen kann man sich als echt barock ja gefallen lassen. Weiterlesen

12.7.2016 – Delizioso: Philippe Jaroussky singt dem Konzerthaus Adieu

Che città, che città, che costumi, che gente sfacciata ed insolente! Was für eine Stadt, was für Sitten, was für dreiste und pampige Leute! Dieses hübsche Rezitativ von Francesco Cavalli gehört zum Programm, mit dem der Countertenor Philippe Jaroussky sich nach einem Jahr als Artist in Residence des Konzerthauses von Berlin verabschiedet. Nachdem er vor fünf Wochen den vorgesehenen Saisonhöhepunkt bronchitishalber absagen musste (seine Vertreterin machte das Konzert dennoch zu einer Sternstunde), hat er sicht- und hörbar erholt eine Schatzkiste voll italienischer, vor allem venezianischer Musik mitgebracht: ein abwechslungsreiches und durchdachtes, großteils attacca ineinander übergehendes Baroquepourrie, von dessen Komponisten (secondo la fama) dieser vergiftet wurde und jener einen Kastraten erdolchte.

ArtaserseBegleitet, und mehr als das, wird Jaroussky vom französischen Ensemble Artaserse, das nach einem altpersischen Opernstar benannt ist und so spielt, wie Jaroussky singt: wunderbar klangschön, ausgewogen und geschmeidig, weniger affektschroff als andere Originalklinger.

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14.5.2016 – Schall und Rauch: „Sono un fumo“ im Radialsystem

370px-Cesare_Gennari_-_Una_SibillaMan sehnt sich nach dem ersten Ton wie nach einer sehnsüchtig erwarteten Liebe: Die Geigerin Anaïs Chen setzt den Barockbogen an, aber nicht auf, bewegt ihn dicht über den Darmsaiten durch die Luft, biegt, dreht und windet sich – die Musik ist zum Streichen nah, aber sie kommt nicht, ein veritabler Stringtease. Das ist mal die Inszenierung eines Einsatzes! Ähnlich am Ende, wenn der Countertenor Flavio Ferri-Benedetti wieder und wieder anschnauft, ehe das bravouröse Basso-Continuo-Ensemble Il Profondo endlich einsetzt.

Dazwischen zeitigt die Szene, die die deutsch-französische Musiktheatercompagnie La Cage im Radialsystem  gestaltet, auch gewisse Längen. SONO UN FUMO ist ein wunderbarer Titel für frühbarocke Wahnsinnsarien und Instrumentalmusik, aber der bürokratische Zusatz Slapstickartige Performance mit Musik und Objekten (charmant wie die geflügelte Jahresendfigur) weist schon auf eine gewisse Umständlichkeit des inszenatorischen Ansatzes von Aliénor Dauchez hin. Der Untertitel ist mehr als ein sprachlicher Kollateralschaden des ewigen Exposé- und Förderungsantragschreibens: Die eher aphoristische Pyrotechnik (vom Sohn des Konzertgängers wie die Hirschwurst im Radialsystem sehr goutiert) ist zwar recht hübsch, aber sich wiederholende schale Scherze wie staksender Storchengang oder debiles Grinsen wirken mau, zumal angesichts der unvermeidlichen großspurigen Bataille- und Foucault-Zitate im Programmheft. Dass tänzerische Bewegungen hier ziemlich eckig fließen, fällt unter dem Dach von Sasha Waltz natürlich auf. Vor allem aber bleiben die Beziehungen zwischen den verliebt sein sollenden Musikern konturlos, und die über die Bühne verteilten Objekte entwickeln kaum Eigenleben, sondern werden der Reihe nach heruntergespult. Slapstick ist leicht behauptet, aber schwer vollbracht.

Cesare_Gennari_OrfeoEinige starke Momente finden sich aber doch im zerfaserten Ganzen: Wenn etwa die am Himmel hängende Geige langsam herabkreist und Anaïs Chen von einer hohen Leiter vergeblich nach ihr greift, ist das ebenso eindringlich wie das Schicksal der anderen Geigerin Eva Saladin, die sich, während sie Giovanni Meallis Sonata quinta, La Clemente (Innsbruck 1660) spielt, von Chen mit Cellophan umwickelt wird, als wehrlose Beute des Spinners Amor.

Überhaupt ist der Abend musikalisch viel überzeugender: Lauter Schätze aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, von anonymen Verrücktheitsarien und Monteverdis Voglio di vita uscir über Arien von Bartolomeo Barbarino, Bernedetto Ferrari und der Männerfantasien rotieren lassenden Venezianerin Bernardo_Strozzi_001Barbara Strozzi (L’Eraclite amoroso) bis zu den Violinsonaten von Philipp Friedrich Böddecker und Mealli. Die neu komponierten Zwischenmusiken von Caspar Johann Walter auf zweifellos historisch wohlinformiert gegeneinander „verstimmten“ Instrumenten hinterlassen dagegen beim ersten Hören eher zwiespältige Eindrücke, die Klangergebnisse klingen zwar teils faszinierend fremdartig, manchmal aber auch beliebig, die mikrotonalen Funken sprühen nicht jederzeit. Sie haben es auch nicht immer leicht als Hintergrundmusik sich ziehender Szenen.

Wie fundiert hier musikalisch gearbeitet wurde, zeigt nicht nur ein Blick in die konkrete, gleichwohl sympathisch knappe historische Erläuterung des Ensemble-Leiters und Cembalisten Johannes Keller. Es ist vor allem zu hören: Flavio Ferri-Benedetti ist ein agiler, ausgewogener Countertenor mit wunderbarem Piano, in einzelnen Momenten aber auch sehr geradlinig expressiv; auch darstellerisch stark, in seiner kurzen Hose wirkt er auf der Bühne herzzerreißend allein. Das Ensemble Il Profondo hinterlässt insgesamt einen sehr guten Eindruck: In jeder Hinsicht, musikalisch wie darstellerisch, herausragend ist die zitternde, zagende, sich verzehrende dunkelhaarige Geigerin Anaïs Chen, umwerfend in der grandiosen Böddecker-Sonate. Auch die blonde Geigerin Eva Saladin überzeugt durchweg. Die Gambistin Amélie Chemin und der Lautenspieler Josías Rodríguez Gándara (sehr lustig als Theorbenprotz) runden die starke Leistung des Ensembles ab. Sein Leiter Johannes Keller beweist nicht nur auf dem Cembalo flinke Finger, sondern auch indem er den gesungenen Text (und die deutsche Übersetzung!) zum Mitlesen in den Laptop tippt.

Insgesamt ein sehr sympathischer Abend, musikalisch hervorragend, szenisch ausbaufähig und -wert.

Noch am 15. und 16.5. im Radialsystem, danach in Basel.

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6. Juli 2015 – Favolahaft: Claudio Monteverdis ‚Orfeo‘ in der Staatsoper

Featured imageMonodie hin, Florentiner Camerata her: Am Anfang der Operngeschichte steht ein Meisterwerk. Die Faszination allein, mit Claudio Monteverdis 1607 in Mantua uraufgeführter favola in musica die angeblich erste Oper der Musikgeschichte zu hören, würde ein Publikum im Jahr 2015 nicht zweieinhalb Stunden lang in den Bann schlagen, wie es der Orfeo in der Staatsoper tut. Zumal man viele Allegorie- und Affekt-Ebenen nicht so leicht versteht.

Trotzdem kommt die unmittelbare Wirkung ganz aus dem Werk selbst, denn es ist eine Aufführung ohne Schnickschnack; wenn auch unverkennbar eine Arbeit von Sasha Waltz, nicht inszeniert, sondern choreographiert. Das Freiburger BarockConsort sitzt und steht an den Seiten der Bühne, links eher die Instrumente des Lebens, rechts die des Todes. Die Musiker sind barfuß wie die Sänger und Tänzer, nur die Flötistin trägt ein Bein im Gips. Am Ende vermischen sie sich tanzend mit den Darstellern, ganz folgerichtig, da hier alles ineinanderfließt: Auch die Sänger tanzen, sehr beeindruckend (wie schon in Waltz‘ Dido und Aeneas-Choreographie), zu schweigen von der athletischen Leistung: Pluto, Herr der Unterwelt, trägt beim Singen seine Gattin Proserpina auf der Schulter, Orfeo stemmt maskulin quirilierend und quinkelierend seine Euridice.

Überhaupt Orfeo: Georg Nigls Interpretation des musikalischen Superhelden ist überwältigend. Obwohl es sich um ein ganz anderes Gesangsfach handelt, erinnert nicht nur Nigls Schmalzlocke den Konzertgänger an Christian Gerhaher, sondern auch die enorme Bandbreite zwischen voluminösem Zentrum und filigranster Höhe bei unglaublicher Textverständlichkeit. Aber er ist natürlich viel exaltierter, seine Bühnenpräsenz ist das Gegenteil eines Liedsängers. Kein Wunder, dass er mit seinen melismatischen Gesangskünsten auch den Totenfährmann Charon überwindet: Orfeo son io! Wobei Charon einem modernen Opernbesucher ähnelt, er findet das alles sehr schön und schläft darüber ein.

Abseits dieser strategisch eingesetzten Vokalakrobatik, die Orfeo das Tor in die Unterwelt öffnet und schließlich Proserpina erweicht, herrscht bei Monteverdi eine nüchterne, aber ungeheuer nuancenreiche Rezitativkunst, die einen magischen Sog entwickelt. Dazu trägt auch das alte Instrumentarium bei, das auf der Todesseite bizarre Assoziationen hervorruft, der Zink etwa oder die Holzorgel, die stellenweise sogar an eine E-Gitarre mit Distortion-Fuzz-Overdrive-Rauschen erinnert.

Die Unterwelt, in der die alten Posaunen tönen, hat bei Waltz alle klassischen Hades-Ingredienzien, herumirrende Geister, Nebelschwaden, Wasser, wenn auch nur 2 Zentimeter tief. Reisigbündel grünen im Wasser, werden zu Trauerweidenzweigen, mit denen der gescheiterte Orfeo in den thrakischen Wäldern ausgepeitscht wird. Ansonsten springen die Tänzer viel herum, das ist stets hübsch anzusehen, auch wenn es aus Sicht des Konzertgängers (dem aber Tanzbildung fehlt) der Erzählung nicht viel hinzufügt, höchstens verdoppelt. Was aber wiederum egal ist, weil es bei Monteverdi ohnehin diverse kommentierende Instanzen und Allegorien gibt. Wobei, wie gesagt, sich hier viele Ebenen dem heutigen Hörer nicht so leicht erschließen.

Eine ganz andere Art von Verdopplung im ungeheuer konzentrierten Finale: Der ganze Saal hält den Atem an, als Apoll vom Rang aus Orfeo zu den unsterblichen Sternen ruft; gemeinsam singend, gemeinsam aufsteigend verlassen Vater und Sohn irdische und unterirdische Gefilde, ein betörendes Finale, das erste der Operngeschichte, die Männer noch ganz unter sich.

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