Monodie hin, Florentiner Camerata her: Am Anfang der Operngeschichte steht ein Meisterwerk. Die Faszination allein, mit Claudio Monteverdis 1607 in Mantua uraufgeführter favola in musica die angeblich erste Oper der Musikgeschichte zu hören, würde ein Publikum im Jahr 2015 nicht zweieinhalb Stunden lang in den Bann schlagen, wie es der Orfeo in der Staatsoper tut. Zumal man viele Allegorie- und Affekt-Ebenen nicht so leicht versteht.
Trotzdem kommt die unmittelbare Wirkung ganz aus dem Werk selbst, denn es ist eine Aufführung ohne Schnickschnack; wenn auch unverkennbar eine Arbeit von Sasha Waltz, nicht inszeniert, sondern choreographiert. Das Freiburger BarockConsort sitzt und steht an den Seiten der Bühne, links eher die Instrumente des Lebens, rechts die des Todes. Die Musiker sind barfuß wie die Sänger und Tänzer, nur die Flötistin trägt ein Bein im Gips. Am Ende vermischen sie sich tanzend mit den Darstellern, ganz folgerichtig, da hier alles ineinanderfließt: Auch die Sänger tanzen, sehr beeindruckend (wie schon in Waltz‘ Dido und Aeneas-Choreographie), zu schweigen von der athletischen Leistung: Pluto, Herr der Unterwelt, trägt beim Singen seine Gattin Proserpina auf der Schulter, Orfeo stemmt maskulin quirilierend und quinkelierend seine Euridice.
Überhaupt Orfeo: Georg Nigls Interpretation des musikalischen Superhelden ist überwältigend. Obwohl es sich um ein ganz anderes Gesangsfach handelt, erinnert nicht nur Nigls Schmalzlocke den Konzertgänger an Christian Gerhaher, sondern auch die enorme Bandbreite zwischen voluminösem Zentrum und filigranster Höhe bei unglaublicher Textverständlichkeit. Aber er ist natürlich viel exaltierter, seine Bühnenpräsenz ist das Gegenteil eines Liedsängers. Kein Wunder, dass er mit seinen melismatischen Gesangskünsten auch den Totenfährmann Charon überwindet: Orfeo son io! Wobei Charon einem modernen Opernbesucher ähnelt, er findet das alles sehr schön und schläft darüber ein.
Abseits dieser strategisch eingesetzten Vokalakrobatik, die Orfeo das Tor in die Unterwelt öffnet und schließlich Proserpina erweicht, herrscht bei Monteverdi eine nüchterne, aber ungeheuer nuancenreiche Rezitativkunst, die einen magischen Sog entwickelt. Dazu trägt auch das alte Instrumentarium bei, das auf der Todesseite bizarre Assoziationen hervorruft, der Zink etwa oder die Holzorgel, die stellenweise sogar an eine E-Gitarre mit Distortion-Fuzz-Overdrive-Rauschen erinnert.
Die Unterwelt, in der die alten Posaunen tönen, hat bei Waltz alle klassischen Hades-Ingredienzien, herumirrende Geister, Nebelschwaden, Wasser, wenn auch nur 2 Zentimeter tief. Reisigbündel grünen im Wasser, werden zu Trauerweidenzweigen, mit denen der gescheiterte Orfeo in den thrakischen Wäldern ausgepeitscht wird. Ansonsten springen die Tänzer viel herum, das ist stets hübsch anzusehen, auch wenn es aus Sicht des Konzertgängers (dem aber Tanzbildung fehlt) der Erzählung nicht viel hinzufügt, höchstens verdoppelt. Was aber wiederum egal ist, weil es bei Monteverdi ohnehin diverse kommentierende Instanzen und Allegorien gibt. Wobei, wie gesagt, sich hier viele Ebenen dem heutigen Hörer nicht so leicht erschließen.
Eine ganz andere Art von Verdopplung im ungeheuer konzentrierten Finale: Der ganze Saal hält den Atem an, als Apoll vom Rang aus Orfeo zu den unsterblichen Sternen ruft; gemeinsam singend, gemeinsam aufsteigend verlassen Vater und Sohn irdische und unterirdische Gefilde, ein betörendes Finale, das erste der Operngeschichte, die Männer noch ganz unter sich.
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