Orpheen, anders: Ilya Gringolts und Sunhae Im beim Musikfest

Lohnende Abstecher während der dreiabendigen Monteverdi-Hochgebirgstour mit Gardiner: eine violinistische und eine gesangliche Gipfelbesteigung im Kammermusiksaal. Die Akademie für Alte Musik tritt mit der umwerfenden Sopranistin Sunhae Im auf, der russische Geiger Ilya Gringolts ganz allein mit seiner Guarneri „del Gesù“. 

Ilya Gringolts spielt Nicolò Paganinis hochvirtuose Capricci für Violine solo (1820). Aber nicht zwei oder drei oder fünf, sondern alle vierundzwanzig. Dabei begegnet einem immer wieder diese und jene bekannte Zugabe. Aber als Gesamtpaket entwickeln die Kapricen einen ganz eigenen Sog. Dabei ist keine Spur von Teufelsgeiger an Gringolts (Kinski und Garrett haben der Figur ohnehin endgültig den Garaus gemacht). Eher gleicht er einem kleinen Mönch oder Schriftgelehrten.

Wenn ein Musiker muttergottesseelenallein auf dem Podium des halbverdunkelten Kammermusiksaals spielt, entsteht fast von selbst eine gewisse spirituelle Aura. Doch die wahre Transzendenz ereignet sich, indem Gringolts an fünf Stellen die 1976 entstandenen Capricci von Salvatore Sciarrino einschiebt, die Paganinis Bravourstücke in Flageolettregionen und Seufzersphären schattenhaft nachahmen und weiterspinnen. Verschwommen und doch klar erkennbar, in Traumdeutlichkeit. Sciarrino nimmt äußerliche Abläufe auf, aber führt die Bravourstücke klanglich weiter und weiter an die Ränder die Musik, wo es reißt und ritscht, saust, zupft, klopft, ploppt. Und wo der Klang, immer wieder, in die Stille strebt. Und die Stille in Klang.

Das funktioniert auch deshalb so gut, weil Paganinis romantische Extremgeigerei selbst in diese äußersten Randbereiche zu streben scheint. Sie erinnern nicht nur an Chopins Etüden, sondern manchmal auch an schumannsche Charakterstücke, und es gibt dämmernde Übergangsbereiche, in denen man die Orientierung verliert. Dabei sind die Stücke enorm abwechslungsreich; immer wenn man eben denkt, 24 könnten doch etwas viel sein, erscheint eine herzzerreißend schöne Tonfolge oder ein aufreizender Effekt.

Technisch ungeheuerlich ist das sowieso alles. Man staunt, wie Gringolts‘ Bogenhand über die halbe Körpergröße rauf und runter saust und doch so ein wunderschöner Strich entsteht. Viel Gesang steckt drin, den Gringolts warm und klar herausholt, man hört auch den Itzhak-Perlman-Schüler. Und man denkt sich den eindrucksvollen Gringolts (schließlich gab es am Abend zuvor Monteverdi) als einen Orpheus, der auf ästhetischem Grenzgang ins Dunkel singt. / Zum Konzert

Und noch einen Orpheus anderer Art gibts zu erleben: Auszüge aus Antonio Sartorios Dramma per musica L’Orfeo von 1672 im Rahmen eines Benefizkonzerts, das die Akademie für Alte Musik zugunsten des World Future Councils veranstaltet — einer Organisation, die „weltweit nach zukunftsgerechten Gesetzen und Politikansätzen recherchiert und ihre konkrete Umsetzung unterstützt“. Lobbyisten der noch nicht Geborenen. Die früh- und mittelbarocken Perlen unter dem Titel Amore Perduto sind ein seltsames Nischenprogramm für eine Benefizveranstaltung, die üblicherweise eher mit Populären und Prominentem protzen würde. Es spricht fürs Renommée der Akademie, dass der Kammermusiksaal dennoch sehr ordentlich gefüllt ist.

Und für die Raritäten ists eh ein Benefiz. Die italienische Musik des 17. Jahrhunderts ist ein interessanter Kontrapunkt zu Gardiners Monteverdi-Spektakel, zumal Sartorios venezianischer Orfeo, der 66 Jahre nach Monteverdis Ur-Orfeo aufgeführt wurde. Erstaunlicherweise hat hier nicht Orfeo, sondern die tote Euridice das ergreifendste Lamento (Orfeo tu dormi? / Se desti pietà). Und da sie in der Unterwelt auch ihre herrlichen Koloraturen nicht verloren hat, kann Orfeo nicht anders als ihr zu folgen: Rendetemi Euridice!

Sunhae Im ist eine äußerst vielseitige, von hintersinnigem Witz funkelnde Sopranistin, deren Textklarheit (und nicht nur die) in Gardiners Ensemble ihresgleichen sucht. Und die Aufführung zeigt auch, wie einfach „halbszenische“ Elemente sein können: Angesichts der recht konfusen Kostüme in Gardiners (grandiosen) Aufführungen hüpft das Herz vor Freude, wenn Sunhae Im, sobald sie von der Rolle der Euridice in die des Orfeo wechselt, mit einem Handgriff ihr bauschiges Abendkleid öffnet, unter dem eine Hose zum Vorschein kommt.

Auch in den anderen Vokalwerken des Abends bezaubert Sunhae Im: Neben Monteverdis epochemachendem Ur-Lamento der Arianna gibt es eine schöne Jammer-Kantate von Alessandro Stradella, der 1682 im besten Mannesalter ermordet wurde. Nicht nur Sunhae Ims himmlisch hohes Schlusspianissimo ist beeindruckend (pianger sempre), sondern auch das instrumentale inferno-Rauschen, das die kleine Continuo-Gruppe aus Cello, Gitarre und Cembalo erzeugt. Und die keusche Nymphe in der Oper Calisto (1651) des Monteverdi-Schülers Francesco Cavalli verkörpert Sunhae Im mit so frivolem Witz und kunstvoller Stimmakrobatik, dass man sich kaum satthören mag.

Psst, die Nymphe nicht beim Keuschsein stören.

Für den Laien sehr lehrreich ist das Programm überdies. Zwei musikalische Revolutionen brachte das 17. Jahrhundert, lernen wir im wieder sehr lesenswerten Einführungstext von Silke Leopold (abgesehen von der irrigen Behauptung, es habe damals jemanden geschockt, dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe sei). Neben der Erfindung des akkordbegleiteten Sologesangs war das die Emanzipation des Instrumentalmusik. Und so spielen die sieben vorzüglichen Musiker der Akademie unter Leitung des Geigers Bernhard Forck auch originelle Instrumentalstücke von Stradella, Marco Uccellini und Johann Rosenmüller.

Nur einmal vermisst man menschliche Stimmen: In Salamone Rossis Gesängen des Salomon (Mantua 1623). Die sind zwar in der fünfstimmigen Streicherfassung wunderbar anzuhören. Aber wenn man liest, dass es sich hier um die Instrumentalfassung fünfstimmiger hebräischer Gesänge im Monteverdi-Stil handelt, wird man hörbegierig nach dem vokalen Original der Hashirim asher lish’lomo. Vielleicht mal was für den RIAS Kammerchor? / Zum Konzert

Zwei hochinteressante Programme, die einen ermutigen, öfter mal zum (scheinbar) Abseitigen zu rennen als dem Überrannten nachzuschleichen. Immer und überall, aber gerade beim Musikfest, das noch bis zum 18. September dauert.

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