Che città, che città, che costumi, che gente sfacciata ed insolente! Was für eine Stadt, was für Sitten, was für dreiste und pampige Leute! Dieses hübsche Rezitativ von Francesco Cavalli gehört zum Programm, mit dem der Countertenor Philippe Jaroussky sich nach einem Jahr als Artist in Residence des Konzerthauses von Berlin verabschiedet. Nachdem er vor fünf Wochen den vorgesehenen Saisonhöhepunkt bronchitishalber absagen musste (seine Vertreterin machte das Konzert dennoch zu einer Sternstunde), hat er sicht- und hörbar erholt eine Schatzkiste voll italienischer, vor allem venezianischer Musik mitgebracht: ein abwechslungsreiches und durchdachtes, großteils attacca ineinander übergehendes Baroquepourrie, von dessen Komponisten (secondo la fama) dieser vergiftet wurde und jener einen Kastraten erdolchte.
Begleitet, und mehr als das, wird Jaroussky vom französischen Ensemble Artaserse, das nach einem altpersischen Opernstar benannt ist und so spielt, wie Jaroussky singt: wunderbar klangschön, ausgewogen und geschmeidig, weniger affektschroff als andere Originalklinger.
Der Konzertgänger kennt nicht nur Feiertage wie Weihnachten und Ostern, sondern auch jährlich wiederkehrende Festtermine wie das epiphanische Klavierrezital von Grigory Sokolov oder die rituelle Barockopern-Auferstehung, die René Jacobs mit der Akademie für Alte Musik in der Staatsoper feiert. Dieses Jahr hat Jacobs den verzwickten Aeneas-Reigen Amor vien dal Destino ausgegraben, den der Komponist, Diplomat und Bischof Agostino Steffani1709 zum Düsseldorfer Karneval komponierte.
Eine historisch vergleichende Gegenüberstellung mag den auch für den interessierten Laien hörbaren musikästhetischen Wandel des Düsseldorfer Karnevals verdeutlichen:
Fasching in Düsseldorf anno 2011:
Fasching in Düsseldorf anno 1709:
Schon dem Lamento der Venus (Robin Johannsen, überragend) entströmt mehr Schönheit als so manchem langen spätromantischen Abend in der Philharmonie. Der Zuhörer, der im Lauf der ca. 240minütigen Oper nicht das eine oder andere Viertelstündchen verschlummert, muss zwar erst geboren werden. Denn das Libretto ist ziellos wie der Wind, den die Latinerprinzessin Lavinia (Katarina Bradić) besingt. Oder die Schilfrohre und Liebespfeile, die der stumme Amor (Konstantin Bühler, passenderweise vom Düsseldorfer Schauspielhaus) pflanzt und verschießt.
Doch der ziellose Wind steht koloraturgünstig! Wann auch immer man aufwacht, wird das Ohr von erlesener Schönheit geküsst: Acht Sänger übertreffen sich selbst, neben den erwähnten Sopranistinnen Bradić und Johannsen Jeremy Ovenden mit kernigem, festen Tenor als Enea (Aeneas), die kunstvoll leidende und rasende Olivia Vermeulen in Hosenrolle als angeschmierter König der Rutuler, Marcos Fink als König Latino sowie die umwerfend komischen Mark Milhofer (in einer Rockrolle als Amme) und Gyula Orendt. Last but not least die skurrile Erscheinung eines zarten, fast ätherischen Countertenor-Zeus (Rupert Enticknap). Ein traumhaft ausgeglichenes Sängerensemble.
Die Akademie für Alte Musik ist so prächtig aufgelegt, dass man bereit wäre, sich ein ganzes Konzert allein der Continuogruppe anzuhören. B.C. pur. Vielleicht nicht vier Stunden, aber ein bis zwei gern. Aber da sind ja auch der Rest des Orchesters und die Solisten, die in buntem Wechsel Steffanis überreich inspirierte Arien begleiten, Violine (Bernhard Forck),Cello (Jan Freiheit), Oboe (Xenia Löffler), Laute (Shizuko Noiri) und viele mehr – auch vier Chalumeaux, Großmütter der Klarinetten. (Und René Jacobs‘ stundenlanges sachliches Armkreisen und schnörkelloses Einsatzgeben ist eine Wohltat, wenn einem noch der philharmonische Ausdruckstanz von Andris Nelsons auf dem Gemüt liegt.)
Komisch und wunderschön das alles, aber nicht harmlos. Die dunkle Seite der Liebe offenbart sich zumal in der zweiten Hälfte der Aufführung, eindrucksvoll ins Bild gesetzt durch die Regie von Ingo Kerkhof: Wenn etwa ein verzweifelt Liebender brutal über Amor herfällt, diesen Tyrann und Kretin, steht einem die Perücke zu Berge. Das Schilf, anfangs nur in einzelnen Halmen in den Boden gespießt, bedeckt nun dicht die ganze hintere Bühne, dahinter ist Nacht, merkwürdig statuarische Menschen erscheinen darin und verschwinden: eine unheilvolle Melange aus Jenufa-Feldern und Peter Greenaways Kontrakt des Zeichners, der nicht nur die steilen Perücken und Kostüme (Stephan von Wedel) inspiriert hat.
Am besten gleich nochmal hin (4. und 7. Mai), um auch das zu hören, was man verschlummert hat. Und das andere nochmal.
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