Odysseus auf dem Fahrrad: Eröffnungswochenende der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci

Theo_van_Rysselberghe_-_Springbrunnen_im_Park_Sanssouci_in_Potsdam,_1903,_Neue_Pinakothek_Muenchen-1Potsdam lohnt immer einen Ausflug, aber manchmal besonders. Zum Beispiel zu den Musikfestspielen, die am Wochenende eröffnet wurden: u.a. mit einem kontroversen südafrikanischen Puppen-Monteverdi-Ulisses und einer herrlichen Fahrradtour um 7 Seen durch 24 Konzerte.

IL RITORNO D’ULISSE NELL’OSPEDALE

Nicht aus der weiten mythischen Welt kehrt der Listenreiche, Vielgewandte zu seiner Penelope heim, sondern aus den hoffnungslosen medizinischen Irrfahrten im eigenen Körper: Das scheint der (oder ein) Ansatz zu sein, mit dem der listenreiche, vielgewandte William Kentridge der Oper Il ritorno d’Ulisse in patria von Claudio Monteverdi zu Leibe rückt.

Sieben Musiker sitzen im erhöhten Halbrund auf der Bühne des Nikolaisaals, der atmosphärisch wie akustisch auf warme Weise kompakt ist. Davor, dazwischen und auch mal dahinter agieren Puppen auf Zweidrittelmenschengröße, die von je einem Puppenspieler der Handspring Puppet Company und einem Sänger beseelt werden. Was nicht immer zwingend wirkt, manchmal sogar wie Schnickschnack scheint, aber insgesamt doch gut funktioniert. Immerhin haben wir es hier ja mit Mythos, Oper und Welt zu tun: Mythos, in dem der Mensch Puppe des Schicksals und der Götter ist. Oper, in der der Mensch Puppe seiner Affekte und seiner Stimme ist. Welt, in der der Mensch Puppe seiner Leber- und EKG-Werte ist. Kentridge schreibt:

Die Welt, die sich unserer Kontrolle entzieht und zu deren Schutz Opfer dargebracht werden müssen, ist nun in uns drin. Die Furcht vor den Blitzen des Jupiter ist seit der Erfindung des Blitzableiters geringer geworden, doch fürchten wir noch immer den inneren Blitz, den Herzinfarkt oder andere verhängnisvolle, innere Störungen […]

28824447093b2d0403a909686391ad68Liest sich hochplausibel, schaut sich auf der Bühne wechselplausibel an. Im Zentrum der Bühne die Ulisse-Puppe im Krankenbett, um die herum sich alles ereignet. Ergreifend, wenn am Ende der heimgekehrte Ulisse und seine liebe Penelope innig ihr Si, si hauchen, während der Puppe im Krankenbett das Leichentuch über den Kopf gezogen wird.

Dennoch schaut man auf Dauer lieber die (darstellerisch sehr starken) Sänger statt der Puppen an. Und hört ihnen noch lieber zu, sowieso: Das sind sieben charakteristische Stimmen, ganz individuelle Temperamente, wunderbar. Unter den drei Frauen ragt die bewegende Romina Basso als Penelope heraus, unter den Männern der intensive, das emotionale Mark erschütternde Jeffrey Thompson als Ulisse und der bis zur Waghalsigkeit exaltierte Telemaco von Jean-François Novelli.

Das Ricercar Consort mit 4 Gamben und 3 Zupfinstrumenten (Harfe, Theorbe, Gitarre) begleitet aufs Feinste, in einer maßgeschneiderten Instrumentierung des Ensemble-Chefs Philippe Pierlot. Sehr sinnig unterstützen die Instrumente die Gesangslinien, tragen diese, heben sie hervor, antworten ihnen. Die Aufführung ist stark (von 180 auf 100 Minuten), aber einleuchtend gekürzt.

Was doch etwas verpufft, sind Kentridges vielgerühmte Videoanimationen, die im Hintergrund laufen. Solche Sachen:

Graphisch alles enorm und mehr als das, zweifellos. Aber als Opernbehintergrundbilderung auch oft redundant. Fließendes Wasser, wenn Penelope vom Weg der Tautropfen in den Ozean singt, solche Sachen. Eindrucksvoll jedoch, wenn sich medizinische Nah- und Innenaufnahmen in mediterrane Landschaften verwandeln.  — Noch einmal am Montag

OBERTÖNE IM GROTTENSAAL, BMX-BALLETT IM EVENT-CENTER

In märkische Landschaften verwandelt sich die Musik, und umgekehrt, beim sonntäglichen Fahrradkonzert, wo man über 15 bis 33 Kilometer (je nach gewählter Tour) von Aufführung zu Aufführung radelt: Musik in prächtigen Palais und alten Ziegeleien, auf Campingplätzen und abgeranzten Bahnhöfen und, vor allem, in wunderbaren Dorfkirchen.

Ein heißes Ding, nicht nur wegen der hochsommerlichen Temperaturen: Der Andrang ist riesig.

Viele Menschen bedeuten viele Anlässe zum Ärgern. Man könnte sich also echauffieren. Über Mitarbeiter, die einen vor dem Neuen Palais im Park Sanssouci zwanzig Minuten in der prallen Sonne schmoren lassen, um einem vor der Tür mitzuteilen, dass niemand mehr in den Grottensaal passt (was sich nach einem Blick auf die Warteschlange auch gleich hätte mitteilen lassen). Über Zuhörer in überfüllten Dorfkirchen, die während der Konzerte Wasserflaschen zischen lassen, plaudern, fotografieren, in Landkarten blättern oder so laut niesen, dass die Kirchenfenster klirren. Oder über dicke Männer, die auf Motorbooten die herrlichen Brandenburger Seen verlärmen.

Federico_Zandomeneghi_Cycling_1896Besser aber: Pfeift man auf den Grottensaal und folgt der hervorragend ausgeschilderten Strecke, aus dem Park Sanssouci hinaus, zwischen wogenden Feldern und blühenden Wiesen Richtung Golm. Betrachtet ein verpasstes Konzert als geschenkte Zeit, in der man an einer motorbootfreien Stelle schwimmen kann. Schaut sich die Radler an, von der wadenmuskelgestählten Seniorin bis zum bekifften Studenten, der mit Birkenstocksandalen Rennrad fährt. Freut sich über all die freundlichen, engagierten Helfer am Wegesrand und an den Buffets, wo es nicht nur Bratwürste und Kuchen, sondern auch Erdbeerbowle und vegan belegte Brötchen gibt.

Und genießt die Musik! Da gibt es edlen barocken Gambenklang in der schönen Backsteinkirche von Golm. Philippe Pierlot und Rainer Zipperling, die am Vorabend noch Monteverdis Ulisse mitaufführten, spielen sich à la française durch die vier Elemente, von feurigen Klängen Marin Marais‘ bis zu einer Düsseldorfer Rheinnymphen-Chaconne. In der Kirche von Glindow entlockt der Pianist Philipp Marguerre, trotz brütender Hitze im Frack, der Glasharmonika mit viel Fingerspitzen- und Handflächengefühl außerirdische Klänge von Mozart bis Fred Schnaubelt. Und wie man den Orpheus der Glasharmonika, Carl Leopold Röllig (1745-1804), nicht kennen konnte, fragt man sich danach. Wäre übrigens der passende Soundtrack für Thomas Hettches Pfaueninsel.

Da gibt es Oberton-Gesänge, bei denen zwei Stimmen aus einer Kehle kommen (Natascha Nikeprelevic), mikrotonale Steinmusik vor Ringöfen einer Ziegelmanufaktur und frühbarocke Harfenmusik in der Schinkelkirche Petzow. Besonderer Höhepunkt für den Sohn des Konzertgängers: die halsbrecherische Fahrrad-Vertanzung von fingerbrecherischen Streichquartett-Klängen durch den BMX-Champ Viki Gómez. Verblüffend, wie großartig Kinder Ballett finden, wenn der Tänzer ein BMX-Rad unter den Zehenspitzen hat. Dass das hervorragende Berlin Chamber Players Quartet nicht wie angekündigt Ravel spielt (sondern Piazzolla?), ist dem Sohnemann schnuppe. Zurecht. Ein fettes Spektakel im sympathisch trostlosen Event-Center Pirschheide, das einmal der Hauptbahnhof von Potsdam gewesen sein soll. Ein Kontrapunkt zu Sanssouci von ganz eigenem Reiz!

Die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci laufen noch bis zum 25. Juni. Ein Spielort stimmungsvoller als der andere. Manches ausverkauft, aber für einige Veranstaltungen gibt es noch Karten.

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5 Gedanken zu „Odysseus auf dem Fahrrad: Eröffnungswochenende der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci

  1. Ich fand die Kürzungen im Ulisse höchst unglücklich! Da wurden nur die tragischen, tristen Stellen aufgeführt und alles Leichte und Lustige ausgespart. Das tut dem Werk unrecht.

    • Das stimmt wohl, der Vielfraß und manches andere fehlte schon. War sehr auf den Hospitalismus fokussiert und manches sehr sehr gerafft. Aber in Hinsicht auf den Puppen-Ansatz (wie immer den man nun fand) waren die starken Kürzungen m.E. doch sinnvoll. Drei Stunden Puppen ginge halt nicht. Ob mans dann noch Monteverdi nennen darf, ist eine andere Frage.

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