Hölltorig: „L’Orfeo“ an der Staatsoper

Aus der Noth eine Jugend machen, wie es beim Baröckdichter Andreas Grüffelius heißt! Während das Kammeroperfest der Staatsoper (trotz interessantem Programm) immer was unverhohlt Nothnageliges hatte, lässt man sich heuer bei der Vertretung der durch China tourenden Staatskapelle nicht lumpen: Fast drei Wochen lang sind Barocktage an der Staatsoper Unter den Linden. Les Musiciens de Louvre kommen und die Akademie für Alte Musik, Simon Rattle, Jordi Savall und Alexandre Tharaud, Christophe Rousset und Dorothee Oberlinger und viele mehr. Zum Start aber wird der Lindenopa erstmal altmusikalisch verjüngt zur Freiburger Barockoper, denn das Consort des gleichnamigen Orchesters spielt bei der choreografierten Oper L’Orfeo des bekannten Künstlerpaars Sasha Waltz/Claudio Monteverdi. Weiterlesen

Fein: Freiburger BarockConsort & Vox Luminis spielen Monteverdis „Marienvesper“

Artemisia_Gentileschi_-_Madonna_con_Bambino_(1609-1610)Die Kleinen bringen das Größte: Der Freiburger BarockConsort, die feine Kammer-Combo des Freiburger Barockorchesters, führt Claudio Monteverdis Vespro della Beata Vergine (Marienvesper) auf — das prächtigste, nuancierteste musikalische Mosaik, das jemals komponiert worden war. Mit diesem Superlativ bezieht John Eliot Gardiner sich zwar aufs Entstehungsjahr 1610, aber wer die Marienvesper heute hört, wird kaum zögern, diesem Satz auch die paar Jahre bis jetzt gutzuschreiben.

Die Aufführung im Kammermusiksaal leitet aus dem 13köpfigen Chor, der belgischen Vox Luminis, heraus der Bass Lionel Meunier. An seinem 36. Geburtstag und einen Tag vor dem 450. Geburtstag von Claudio Monteverdi. Weiterlesen

12.1.2016 – Dem Musikhades entführt: Freiburger BarockConsort umsingt Orpheus

Orpheus in der Winterwelt: Während die kalte Jahreszeit in Berlin ihre tausend Fratzen zeigt, von gruseligem Weihnachtsföhn über Schneemassen, die nach einem einzigen Rodelnachmittag zu Matsch werden, bis zu giftigem Kryptonit-Regen, holt das Freiburger BarockConsort tausend vergessene Stücke aus dem Hades der Musikgeschichte. Der ist zwar wahrscheinlich ein aufregender Ort, erst recht seitdem Lemmy Kilmister, Pierre Boulez und David Bowie sich dorthin begeben haben. Aber wir Diesseitigen dürfen uns über das Programm Al modo d’Orfeo freuen, das das kleine Ensemble aus den Reihen des Freiburger Barockorchesters im Kammermusiksaal der Philharmonie präsentiert: Orpheuskompositionen jenseits von Monteverdi und Gluck. Obwohl es sich um echte Raritäten und Ausgrabungen handelt, findet kein musikhistorisches Seminar statt, sondern ein staubfreies Konzert, das, in den Worten von Johann Joseph Fux, auch Zuhörern, die keine Musik verstehen – und deren ist ja der größte Teil -, eine Befriedigung verschafft.

Drei Orpheus-Kantaten stehen drei Instrumentalkompositionen gegenüber, in denen Holz sich orphisch belebt: Das a-Moll-Concerto für Blockflöte, Streicher und Basso-Continuo-Gruppe von Domenico Natale Sarro (1679-1744) ist beschwingte, wenn auch nicht allzu memorable Musik. Konzertanter als dieses Konzert ist die d-Moll-Sonate von Francesco Mancini (1672-1737), Sarros Amtsvorgänger als Königlicher Kapellmeister in Neapel: mit klaren Kontrasten, wesentlich grooviger, mit orphischem Largo und viel Gelegenheit für die Flötistin Isabel Lehmann, ihre Virtuosität zu beweisen. Gravitätisch bis steif, jedoch äußerst kraftvoll ist die F-Dur-Suite des oben zitierten Österreichers Fux (1660-1744), in deren wunderbarer Aire die Bratsche (Werner Saller) zum Orpheus wird. Durch die folgenden Tanzsätze, vom Menuet bis zur Guique (sic), führt die Geigerin Petra Müllejans als prima inter pares.

Unendlich viele Orpheuskompositionen scheint es in der Musikgeschichte zu geben, von der ersten erhaltenen Oper überhaupt (Jacopo Peri) bis zu Nick Caves The Lyre of Orpheus (2004). Aber zweifellos hatte das Thema in Renaissance und Barock Hochkonjunktur, wie längst nicht nur Monteverdis Orfeo zeigt, den die Freiburger im Sommer in der Staatsoper aufführten. Es war so beliebt, dass es neben den großen Opern jede Menge Home Operas gab, Kammeropern und Salonkantaten – wenn auch mitunter für kaiserliche Gemächer: Seine Kammeroper Orfeo ed Euridice komponierte der Wiener Hofkapellmeister und Kontrapunktguru Johann Joseph Fux zum 30. Geburtstag Kaiser Karls des VI. im Jahr 1715. Das FBC präsentiert die intensive Ouvertüre und drei Arien von Euridice, der Unterweltkönigin Proserpina und dem erlösenden Amor. Proserpinas Arie über un freddo gelo, eine große Kälte, beißt sich mit ihrer fast tranceartigen Begleitung, in der ein Viertonmuster sich ständig wiederholt, lieblichst ins Ohr: Schöner kann Eintönigkeit nicht klingen.

Die atemberaubend gute Sopranistin Dorothee Mields, mit dem BarockConsort perfekt eingespielt, singt das alles nicht nur mit höchster Anmut, sondern verkörpert alle Rollen mit äußerster emotionaler Energie. Das gilt auch für Alessandro Scarlattis Kantate L’Orfeo (1703). Scarlatti komponierte Seria-Opern in Serie (so wie sein Sohn Domenico Cembalosonaten), aber die Frage, ob die Ausgrabung der kleinen Form lohnt, erübrigt sich spätestens bei der Arie Sordo il tronco, e grave il sasso, die nur von den Streichern begleitet wird, ein schwebender Klang, bei dem die Zeit stillsteht: Selbst den tauben Baumstamm und den schweren Stein rührt der Zauber dieses Gesangs.

Der musikalische Höhepunkt eines reichen Abends steht am Schluss: Giovanni Battista Pergolesi (1710-36) gehört mit Mozart und Schubert zu den katastrophal zu früh Gestorbenen der Musikgeschichte. Hätte er länger gelebt, hätte Gluck keine Reformoper zu erfinden brauchen: Daran zweifelt man nicht, wenn man Pergolesis Kantate L’Orfeo hört. Es ist unmittelbar berührend, wie Pergolesi in der Arie Euridice, e dove sei? durch höchste Kunstfertigkeit den Eindruck größter Einfachheit erzielt. In der Arie O Euridice, n’andrò festoso! trifft Jubel, der zum Himmel schießt, völlig unvermittelt auf heftige Verzweiflung, in der die Instrumente sich wie Schlangen (oder Mänaden) um die Stimme des Sängers winden.

So beginnt für den Freund Alter Musik, ob verständig oder nicht, eine Befriedigung verheißende Woche. Freitag spielt die Akademie für Alte Musik in der Gethsemanekirche Bachs h-Moll-Messe, Samstag gibt sich der Shooting-Star-Hallodri Teodor Currentzis mit MusicAeterna ein Stelldichein im Radialsystem.

Das Freiburger Barockorchester kehrt am 8. Februar und am 11. April nach Berlin zurück, zuerst mit Bach & Co, dann mit einem der lustigen Motto-Konzerte, mit denen das FBO regelmäßig den Vogel abschießt: Spaß und Sport. Mit Haydn, Jommelli und Mozart.

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6. Juli 2015 – Favolahaft: Claudio Monteverdis ‚Orfeo‘ in der Staatsoper

Featured imageMonodie hin, Florentiner Camerata her: Am Anfang der Operngeschichte steht ein Meisterwerk. Die Faszination allein, mit Claudio Monteverdis 1607 in Mantua uraufgeführter favola in musica die angeblich erste Oper der Musikgeschichte zu hören, würde ein Publikum im Jahr 2015 nicht zweieinhalb Stunden lang in den Bann schlagen, wie es der Orfeo in der Staatsoper tut. Zumal man viele Allegorie- und Affekt-Ebenen nicht so leicht versteht.

Trotzdem kommt die unmittelbare Wirkung ganz aus dem Werk selbst, denn es ist eine Aufführung ohne Schnickschnack; wenn auch unverkennbar eine Arbeit von Sasha Waltz, nicht inszeniert, sondern choreographiert. Das Freiburger BarockConsort sitzt und steht an den Seiten der Bühne, links eher die Instrumente des Lebens, rechts die des Todes. Die Musiker sind barfuß wie die Sänger und Tänzer, nur die Flötistin trägt ein Bein im Gips. Am Ende vermischen sie sich tanzend mit den Darstellern, ganz folgerichtig, da hier alles ineinanderfließt: Auch die Sänger tanzen, sehr beeindruckend (wie schon in Waltz‘ Dido und Aeneas-Choreographie), zu schweigen von der athletischen Leistung: Pluto, Herr der Unterwelt, trägt beim Singen seine Gattin Proserpina auf der Schulter, Orfeo stemmt maskulin quirilierend und quinkelierend seine Euridice.

Überhaupt Orfeo: Georg Nigls Interpretation des musikalischen Superhelden ist überwältigend. Obwohl es sich um ein ganz anderes Gesangsfach handelt, erinnert nicht nur Nigls Schmalzlocke den Konzertgänger an Christian Gerhaher, sondern auch die enorme Bandbreite zwischen voluminösem Zentrum und filigranster Höhe bei unglaublicher Textverständlichkeit. Aber er ist natürlich viel exaltierter, seine Bühnenpräsenz ist das Gegenteil eines Liedsängers. Kein Wunder, dass er mit seinen melismatischen Gesangskünsten auch den Totenfährmann Charon überwindet: Orfeo son io! Wobei Charon einem modernen Opernbesucher ähnelt, er findet das alles sehr schön und schläft darüber ein.

Abseits dieser strategisch eingesetzten Vokalakrobatik, die Orfeo das Tor in die Unterwelt öffnet und schließlich Proserpina erweicht, herrscht bei Monteverdi eine nüchterne, aber ungeheuer nuancenreiche Rezitativkunst, die einen magischen Sog entwickelt. Dazu trägt auch das alte Instrumentarium bei, das auf der Todesseite bizarre Assoziationen hervorruft, der Zink etwa oder die Holzorgel, die stellenweise sogar an eine E-Gitarre mit Distortion-Fuzz-Overdrive-Rauschen erinnert.

Die Unterwelt, in der die alten Posaunen tönen, hat bei Waltz alle klassischen Hades-Ingredienzien, herumirrende Geister, Nebelschwaden, Wasser, wenn auch nur 2 Zentimeter tief. Reisigbündel grünen im Wasser, werden zu Trauerweidenzweigen, mit denen der gescheiterte Orfeo in den thrakischen Wäldern ausgepeitscht wird. Ansonsten springen die Tänzer viel herum, das ist stets hübsch anzusehen, auch wenn es aus Sicht des Konzertgängers (dem aber Tanzbildung fehlt) der Erzählung nicht viel hinzufügt, höchstens verdoppelt. Was aber wiederum egal ist, weil es bei Monteverdi ohnehin diverse kommentierende Instanzen und Allegorien gibt. Wobei, wie gesagt, sich hier viele Ebenen dem heutigen Hörer nicht so leicht erschließen.

Eine ganz andere Art von Verdopplung im ungeheuer konzentrierten Finale: Der ganze Saal hält den Atem an, als Apoll vom Rang aus Orfeo zu den unsterblichen Sternen ruft; gemeinsam singend, gemeinsam aufsteigend verlassen Vater und Sohn irdische und unterirdische Gefilde, ein betörendes Finale, das erste der Operngeschichte, die Männer noch ganz unter sich.

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4. Juli 2015 – Melancholisch: ‚When I Am Laid in Earth‘ in der Staatsoper

Wer bleibt freiwillig im Strandbad, wenn man in der Staatsoper Musik von Sciarrino und Purcell hören kann? Und zwar unter dem einladend morbiden Titel When I am laid in earth! In einer idealen Welt müsste es lange Schlangen geben statt eines gähnend leeren Saals – dabei ist ein zweiter Konzerttermin (offiziell aus dispositionellen Gründen) kurzerhand gestrichen worden. Aber nichts Bildungsschnöseliges gegen Strandbadbesucher, man könnte bei 38°C auch Schlimmeres tun, etwa zu Helene Fischer ins Olympiastadion gehen oder zum AfD-Parteitag nach Essen fahren.

So trifft sich zum Stelldichein von Barock und Gegenwart ein harter Kern von Musikfreunden, die Härtesten sogar im Jackett (ein Kulturradio-Redakteur). Die Musiker der Staatskapelle (fürs Neue, links) und des Freiburger BarockConsort inkl. Hille Perl (fürs Alte, rechts) erscheinen alle langärmlig, nur der coole Langhalslautenist Lee Santana zeigt Elle.

Featured imageDas vielversprechende Konzept des Abends, englische Musik des 16. und 17. Jahrhunderts im Wechsel mit Gegenwartskompositionen, die auf diese Ahnen Bezug nehmen, geht zum Teil auf. Den Liedern und Arien von Henry Purcell, allen voran natürlich Didos Todes-Arie When I Am Laid in Earth, von Dorothee Mields ganz wunderbar gesungen, möchte man ewig zuhören; und noch ewiger den Suiten von William Lawes und Matthew Locke. Herrlich ist der Schreittanz The Image of Melancholy von Anthony Holborne (1545-1602): Da denkt der Konzertgänger, er hätte gern im 16. Jahrhundert mit seiner posenhaften Melancholie gelebt. Hätte er in den endlosen Stunden seiner Pubertät diese berückende Musik gehört! Dann wäre alles besser gewesen! (Hier ein Youtube-Link.)

Einen ähnlichen Sog entwickeln die neuen Stücke nicht. Einerseits, weil einige Alte-Musik-Freunde die Novitäten als Gelegenheit zum kräftigen Abhusten erachten; andererseits weil die neuen Stücke so miniaturhaft sind, dass sie teilweise vorüberhuschen, ohne nachhaltige Wirkung zu entfalten – obwohl sie in ihrem noblen und leisen Klang gut zu den alten Engländern passen. In nomine nominis ist für Salvatore Sciarrinos Verhältnisse geradezu wuchtig, aber der einzigartige Sciarrino-Sound entfaltet sich über längere Distanzen viel eindrücklicher. requiescat in pace von Claus-Steffen Mahnkopf ist ein sehr leises Stück voll stumpfer Glockenschläge mit einem sehr lauten, fast anmaßenden Untertitel (In memorian victimarum christianitatis). Erst Klaus Hubers Ricercare il nome mit seinen langen, schreitenden, tastenden und suchenden Tönen besteht gegenüber den Altmeistern.

Nur einmal treffen sich Barock und Gegenwart direkt: In Gérard Pessons behutsamer Überschreibung von Thomas Tallis. Mit dieser instrumentation colorée rückt diese alte Musik in faszinierend nahe Ferne.

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