Sternfallend

Der RIAS Kammerchor singt Musik aus Jahrtausenden und die Uraufführung von Jüri Reinveres „Die Vertreibung des Ismael“

„Ist Gott mit den Sternen?“, fragt der kleine Ismael in der nächtlichen Wüste, in die er mit seiner Mutter Hagar vertrieben wurde (vertrieben, wie es auch heute Millionen Menschen werden), und: „Können die Sterne auch runterfallen? Sieht das dann so aus wie Regen?“ Der Glaube droht sich im Niederschlag aufzulösen, Gottessturz. Aber die Mutter antwortet dem Kind nicht mehr, sie schweigt. Und Engel sind anscheinend auch nicht zu erwarten. Es ist der beklemmende Schluss von Jüri Reinveres Die Vertreibung des Ismael, einem Vokalwerk nach der Erzählung aus Genesis, das der RIAS Kammerchor unter Justin Doyle eindrucksvoll im Kammermusiksaal der Philharmonie aufführt. Und bei diesen ins Leere fallenden letzten Fragen des unglücklichen Kindes (das in der koranischen Überlieferung einer der großen Propheten und Erbauer der Kaaba sein wird) widerhallt im Ohr Musik aus dem 13. Jahrhundert, die der Chor zuvor sang: Santa Marìa, Strela do día. „Tagesstern“: So heißt die Muttergottes in dem galicisch-portugiesischen Gedicht aus einer Sammlung des kastilischen Königs Alfonso X el Sabio. Es gehört zum gewichtigen ersten Konzertteil, der weit mehr als eine Hinleitung auf die Uraufführung ist.

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Prachtjammrig: RIAS Kammerchor klagt und klagt

Früher war mehr Lamento? Von wegen, wie dieses Konzert beweist. Die Tour d’Unbekanntes Zeug von Strawinsky des diesjährigen Musikfests läuft aufs Ziel zu, und es ist alles hochinteressant, auch wenn vieles vom Spätwerk bei mir eher Heidenrespekt als wahre Liebe hervorruft. Aber die Kopplung mit polyphonem Renaissance-Jammer ist etwas, was Strawinskys Threni nochmal verexquisitet.

Erhebendes Kopfhängenlassen, wenn der Prophet dir Unglück verheißt
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Wiederwurzelnd: RIAS Kammerchor singt 600 Jahre

Auf in die Mundhöhle des Corona-Löwen: erstes Chorkonzert seit Februar! Es beginnt um 21 Uhr im Hochsicherheitstrakt Philharmonie, spät genug, um nachmittags noch mit dem Söhnchen ein vielleicht letztes Mal für dieses Jahr ins Strandbad zu gehen. In Berlin arbeiten wir ja nicht. Außer den Künstlern!

Auf der Suche nach der verlorenen Wurzel
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Trosthoffend: Berliner Neujahrskonzert in der Philharmonie

In Wien ist bekanntlich alles feiner als in Berlin, vom Dialekt bis zu den Radwegen; allein die Neujahrskonzerte sind, seien wir ehrlich, hierzustadt besser. Dank der seit Jahren bewährten Alliance von RIAS Kammerchor und Akademie für Alte Musik!

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Boombastbibrig: „Salzburger Messe“ im Berliner Dom

NO …

Spirituelle Bambule vom Feinsten! Alle Witze über Justin (Vorname des Dirigenten Doyle) und Biber (Name des Komponisten) sind schon vorab gerissen und jede Lästerung gelästert über den klobigen Berliner Dom, diese Riesen-SUV-Hohenzollern-Bratwurst unter den Kirchen. Jedesmal kommt im Konzertgänger auf der Spreeinsel das Gefühl auf, dass hier vor 12 Jahren das falsche Monstrum abgerissen wurde, und der heimliche Wunsch, der sich ausbreitende Spree-Biber möge mal das Holzgepfähl unter dem Dom anknabbern. Null geistliche Empfindung auch beim Eintreten, dafür stets der Blick auf die vier protestantischen Ersatz-Evangelisten Luther, Melanchthon, Calvin und Zwingli, deren Statuen vorn an der Wand protzen. Was hätte der eifernde Musikverächter Zwingli wohl zu so einem Konzert zu seinen Füßen gesagt?

Doch dass Heinrich Ignaz Franz Bibers Missa Salisburgensis ein packendes Werk ist, machen der RIAS Kammerchor und die Akademie für Alte Musik auch in der schwabbligen Akustik des Berliner Doms deutlich.

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Kregelkompetent: Berliner Philharmoniker und Ton Koopman mit Bachs h-Moll-Messe

Champagnerschwaden statt Haschischrauch! Das stilgerechte Aufführen von alter Musik, über deren wilde Undergroundzeiten Ton Koopman lustig erzählen kann, ist längst philharmonabel geworden. Irgendwie nostalgisch also, dass vor der Berliner-Philharmoniker-Aufführung von Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe BWV 232 ein pechschwarz gekleideter, schlohweißhaariger Herr sich auf der philharmonischen Toilette etwas Undefinierbares aus einem perlenbesetzten Hippiedöschen in die Nase zieht. Diese Soziologieprofessoren i.R. kennen da nix.

Koopmans so mitreißende wie ulkige Ganzkörper-Fuchteltechnik hat was von Ministry of Silly Conducting. Es wird geraunt, einige Sänger und Musiker mache das ganz wuschig. Aber die musikalische Gesamtsituation in der Philharmonie ist ausgesprochen kregel und die Aufführung hinreichend unfuchtelig-präzise. Weiterlesen

Kreisquadratisch, überzeugwältigend: RIAS Kammerchor, Capella de la Torre, Justin Doyle mit 2x Monteverdi

Abschluss, vielleicht sogar heimlicher Höhepunkt des Claudio Monteverdi-Bogens beim diesjährigen Musikfest: Nach den drei Opern unter John Eliot Gardiner (mehr dazu und noch mehr) setzt es Geistliches im Doppelpack im Antrittskonzert des neuen Chefdirigenten Justin Doyle beim RIAS Kammerchor. Vor der unsterblichen Marienvesper gibts nämlich endlich mal den selten aufgeführten Hauptteil von Monteverdis gescheitertem Bewerbungsschreiben beim Papst zu hören, die Missa „In illo tempore“.

Die rangierte im Druck von 1610 vor der berühmten Marienvesper, die sich auf dem Titelbild nur im Kleingedruckten findet (ac Vespere pluribus decantandae). Während die Vesper ein Sammelsurium der verschiedensten modernen Stile ist, sollte die Missa Monteverdis Kompetenz im streng polyphonen Altväterstil beweisen. Weiterlesen

Schutzengelhaft: Vladimir Jurowski beim RSB mit Arvo Pärt und Mozarts Requiem

Zukunftsdurstiges Maestro-Halali: Zwei Tage nach dem Chefdirigenten in spe der Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko gibt sich im Konzerthaus Vladimir Jurowski die Ehre, der das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) in die Nach-Marek-Janowski-Ära führen wird. Beide unter anderem mit Mozart, was nach Peter Uehling im Zeitalter des historischen Musizierens für ein klassisches Symphonieorchester von erheblicher Risikobereitschaft zeuge. Während Petrenko die Haffner-Sinfonie zerlegte und dramatisch durchglühte, drückt Jurowski seinen Bläsern tollkühn alte Instrumente in die Hände:

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1.1.2017 – How strange: Händels „Theodora“ mit RIAS Kammerchor, Akamus, Justin Doyle

Nach dem Jahr 2016 zögert man, leichtfertig zu schreiben: Das Neujahrskonzert des RIAS Kammerchors und der Akademie für Alte Musik habe den Krach der vorangegangenen Nacht aufs Schönste sich verflüchtigen lassen. Denn zum Krach der vergangenen Nacht gehört Istanbul, gehören auch die Echos aus Aleppo, vom Breitscheidplatz, aus Nizza, Brüssel, Orlando…

theodosia_of_tyreTraurigerweise passt es also ganz gut, dass in der Philharmonie am 1. Januar 2017 kein feenleichtes Werk wie im vergangenen Jahr auf dem Programm steht, sondern gewichtige, tragische Musik: Georg Friedrich Händels Oratorium Theodora HWV 68 (1750). Es geht um das Leid der antiochischen Christen, die der römische Statthalter in Syrien zur Verehrung Jupiters und des Kaisers Diokletian zwingen will – und man denkt unweigerlich an die heute verfolgten und vertriebenen Christen im Orient, an die gepeinigten Syrer und auch  an die arglosen Feiernden im Reina, die Homosexuellen im Pulse, die Glühweintrinker auf dem Breitscheidplatz. Und die vielen Flüchtlinge, deren Hoffnung auf ein besseres Leben bei uns oft auf Hass und Häme stößt.

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