Nach dem Jahr 2016 zögert man, leichtfertig zu schreiben: Das Neujahrskonzert des RIAS Kammerchors und der Akademie für Alte Musik habe den Krach der vorangegangenen Nacht aufs Schönste sich verflüchtigen lassen. Denn zum Krach der vergangenen Nacht gehört Istanbul, gehören auch die Echos aus Aleppo, vom Breitscheidplatz, aus Nizza, Brüssel, Orlando…
Traurigerweise passt es also ganz gut, dass in der Philharmonie am 1. Januar 2017 kein feenleichtes Werk wie im vergangenen Jahr auf dem Programm steht, sondern gewichtige, tragische Musik: Georg Friedrich Händels Oratorium Theodora HWV 68 (1750). Es geht um das Leid der antiochischen Christen, die der römische Statthalter in Syrien zur Verehrung Jupiters und des Kaisers Diokletian zwingen will – und man denkt unweigerlich an die heute verfolgten und vertriebenen Christen im Orient, an die gepeinigten Syrer und auch an die arglosen Feiernden im Reina, die Homosexuellen im Pulse, die Glühweintrinker auf dem Breitscheidplatz. Und die vielen Flüchtlinge, deren Hoffnung auf ein besseres Leben bei uns oft auf Hass und Häme stößt.
Ein furchtbar universelles Werk ist dieses späte Oratorium von Händel also, das 1750 grandios floppte. Dafür gab es zum einen äußerliche Gründe: u.a. Stadtflucht der guten Londoner Gesellschaft aufgrund eines Erdbebens, die Wahl eines nicht-biblischen Stoffes, Verquickung von Religions- und Liebesdrama (im 19. Jahrhundert wäre das doch ein Knaller gewesen), das Thema Prostitution in einem Oratorium. Man muss auch einräumen, dass das Libretto arg frömmelt und es einigen textlichen Leerlauf gibt, etwa eine komplette Tenor-Air über den schlichten Vers: From virtue springs each gen’rous deed, / that claims our grateful pray’r. Zum anderen aber, so spekuliert Roman Hinke in seinem sehr informativen Einführungstext, könnte es auch an der Musik gelegen haben, die persönlich und differenziert ist, kammermusikalisch empfindsam: zu leise, zu maßvoll, zu nachdenklich, zu asketisch, zu sehr in sich gekehrt, zu altersweise.
Vielleicht haben es die Londoner aber doch schlicht und einfach gehalten wie die siebenjährige Tochter des Konzertgängers, die liebend gern in die Oper geht und danach sagt: Ach so, auf die Musik habe ich nicht geachtet …
Jedenfalls aber klingt Theodora frappierend anders als das, was man von Händel erwartet, selbst wenn er nicht so dauerbreit abgeschritten wird wie anno dunnemal: auf kunstvollste Weise natürlich, einfach, unverstellt geht diese Musik direkter ans Herz als der Messias und jede Händel-Oper. Von Tumult und Grazie (Karl-Heinz Ott) keine Spur, dafür Aufruhr und Keuschheit, emotional wie musikalisch. Und ein Füllhorn herrlicher Melodien, feinsinniger Instrumentation, imposanten Chorsatzes.
Dass diese erlesene Musik so unverkatert klingt, wie man es am Neujahrstag kaum zu fassen vermag, dafür sind die Interpreten nicht hoch genug zu loben: Die perfekt ausbalancierten Streicher der Akademie für Alte Musik, dezent ergänzt durch Pauken und Blechbäser im 1. Teil und zwei Flöten im 2. und 3. Teil, die mit wenigen, frugalen Tönen eine enorme Gefühlswucht bewirken. An der Theorbe übrigens Lee Santana, der coole Altrocker unter den Lautenisten.
Vor allem aber atmet die Akademie so intensiv mit den Sängern und dem Chor, wie man es selten erleben darf. Der gastgebende RIAS Kammerchor scheint anfangs, indem er die gesichtslosen Mengen der Römer (grausam heiter) und der Christen (tiefschürfend polyphon) verkörpert, eine weniger tragende Rolle als im Neujahrskonzert 2016 zu haben. Aber gibt es etwas Schöneres von Händel als das Lamento He saw the lovely youth, Death’s early prey und die folgende gewaltige Auferstehung Rise, youth! he said, die Händel für sein bestes Chorstück hielt und deren ungeheuer kunstvoller Bau bei der Zugabe noch deutlicher wird?
Ja, gibt es: den Chor der Heiden How strange their ends, der mit einer erschütternden großen Septime beginnt, die sich dann mehrfach wiederholt und in der die Erschütterung aller Gewissheiten und einer ganzen Welt liegt: How strange… Der RIAS Kammerchor klingt wie klares Wasser und schillert zugleich in hundert Farben und tausend Schatten, dass es einem keusche Glücksschauer über den Rücken jagt.
Eine einzige Freude sind auch die fünf Solisten. Ihre Artikulation ist so ungeheuer deutlich, dass man den Text (entsprechende Englischkenntnisse vorausgesetzt) quasi hörend lesen kann.
Die walisische Sopranistin Fflur Wyn als Theodora klingt verlockend und keusch zugleich. Schon in ihrer ersten Arie Fond flatt’ring world, adieu verbreitet sie finale Weltabschiedsstimmung. Stets lässt sie das Brodeln unter der unerschütterlichen Ruhe ihrer Stimme spüren, die in ihrer Natürlichkeit betörend diesseitig klingt. Aber immer swiftly through the skies.Von der leuchtenden Sonne bis zum stillen Grab führt ihr Weg in der ergreifenden Air With darkness deep. Jenseitig dagegen, wie der Countertenor Tim Mead als Didymus in Kind Heaven gleichsam aus einer besseren Welt intoniert und in Sweet rose and lily sich auf dem Wort smile in himmlische Höhen erhebt.
Das Lob der Keuschheit, welches Theodora singt, erreicht dann eine nicht unkomische Spannung in den intensiven, sehnsuchtsvollen Umschlingungen und Durchdringungen der herrlichen Stimmen in den beiden Duetten im 2. und 3. Teil.
Anna Stéphany hat als Theodoras Vertraute Irene eine beeindruckende heiligenstatueske Bühnenpräsenz, ihr Mezzosopran ist ein Ausbund an Kraft, die in der Ruhe liegt. Ihr Gebet Defend her Heaven ist einer von zahllosen Höhepunkten des Abends. Sehr differenziert auch der Tenor Robert Murray als sentimentaler, wankelmütiger Septimius und der Chorsänger Christian Mücke in einer kleinen Solorolle. Der grandiose Bariton Roderick Williams, um dessen Mund immer ein Lächeln spielt, ist ein so jovialer, ironischer römischer Statthalter, dass seine Grausamkeit viel erschreckender wirkt, als wenn sie finster karikierend ausgestellt würde. Ein Kunststück, dass das funktioniert, obwohl Williams eine ungeheuer sympathische Ausstrahlung hat. Oder gerade deshalb?
Die Fäden all dieser verdienstvollen Leistungen laufen zweifellos bei Justin Doyle zusammen, dem kommenden Chef des RIAS Kammerchors, der ausgerechnet mit dieser dreistündigen Rarität seinen Einstand gibt. Er dirigiert elegant, exakt und bei allem physischen Engagement doch nie exaltiert, sondern fast bescheiden. Eine uralte Dame am Stock sagt beim Hinausgehen: Zu Höchstleistungen bringt er die! Und ein schöner Dirigent! Sympathisch!
Einziger Nachteil dieses Konzerts: Nach so einem Auftakt kann es 2017 eigentlich nur noch abwärtsgehen. Musikalisch zumindest.
Weitere Kritiken im Kulturradio und im Tagesspiegel. Die (wie immer) beste Kritik von Jan Brachmann in der FAZ vom 3.1. ist leider nicht online.
Ich muss es mal zugeben: Ich habe so gut wie keine Ahnung von Musik, ich lese die Texte um der Texte willen. Sie unterhalten mich sehr. Danke dafür.
Da danke ich!