Trosthoffend: Berliner Neujahrskonzert in der Philharmonie

In Wien ist bekanntlich alles feiner als in Berlin, vom Dialekt bis zu den Radwegen; allein die Neujahrskonzerte sind, seien wir ehrlich, hierzustadt besser. Dank der seit Jahren bewährten Alliance von RIAS Kammerchor und Akademie für Alte Musik!

Weiterlesen

Lippenhängend: Rattle kehrt mit Bachs „Johannespassion“ wieder

Neuer Chef trifft den alten? So ein Quatsch.

Hoppla, gleich nach dem Neuen ist der Alte da – und er ist immer noch der Alte, will heißen junggeblieben: Simon Rattle dirigiert die Berliner Philharmoniker eine Woche, nachdem es sein Nachfolger Petrenko tat. Und siehe, das verträgt sich. Welt-Kritiker Manuel Brug, an dem sich die Geister scheiden, hielt kürzlich der Musikkritik das hysterische Japsen über die Petrenko-Ankunft vor (auch mit Zitaten von dieser Seite, einem davon allerdings missverstanden). Brugs wohl wichtigster Punkt: Eine ihrer verlorenen Bedeutung hinterherjagende Musikkritik macht aus Kirill Petrenko den Heiland schlechthin! Und verteufelt allen Ernstes bereits jetzt Simon Rattle, dem sie vorher noch ähnlich albern zugejubelt hat, macht ihn klein, und den aktuellen Nachschöpfer zum angehimmelten Gott. Offenbar wird das immer noch so gebraucht. Ein Ersatz-Christus muss sein.

Recht hat er. Dann lieber den richtigen Christus. Johannespassion. Bach.

Weiterlesen

1.1.2017 – How strange: Händels „Theodora“ mit RIAS Kammerchor, Akamus, Justin Doyle

Nach dem Jahr 2016 zögert man, leichtfertig zu schreiben: Das Neujahrskonzert des RIAS Kammerchors und der Akademie für Alte Musik habe den Krach der vorangegangenen Nacht aufs Schönste sich verflüchtigen lassen. Denn zum Krach der vergangenen Nacht gehört Istanbul, gehören auch die Echos aus Aleppo, vom Breitscheidplatz, aus Nizza, Brüssel, Orlando…

theodosia_of_tyreTraurigerweise passt es also ganz gut, dass in der Philharmonie am 1. Januar 2017 kein feenleichtes Werk wie im vergangenen Jahr auf dem Programm steht, sondern gewichtige, tragische Musik: Georg Friedrich Händels Oratorium Theodora HWV 68 (1750). Es geht um das Leid der antiochischen Christen, die der römische Statthalter in Syrien zur Verehrung Jupiters und des Kaisers Diokletian zwingen will – und man denkt unweigerlich an die heute verfolgten und vertriebenen Christen im Orient, an die gepeinigten Syrer und auch  an die arglosen Feiernden im Reina, die Homosexuellen im Pulse, die Glühweintrinker auf dem Breitscheidplatz. Und die vielen Flüchtlinge, deren Hoffnung auf ein besseres Leben bei uns oft auf Hass und Häme stößt.

Weiterlesen

1.1.2016 – Wintersommernachtstagtraum: Purcells „Fairy Queen“ in der Philharmonie

Berlin am Neujahrstag sieht aus wie London nach dem Great Fire – kann man das neue Jahr also besser beginnen als mit The Fairy-Queen, Henry Purcells märchenhafter Feenweltmusik, sehr frei nach Shakespeares Sommernachtstraum? Zumal im zuschanden gefeierten Tiergarten undurchdringlicher Themse-Nebel wabert. Das Publikum im ausverkauften Großen Saal der Philharmonie sieht nach der Silvesternacht etwas zerknittert aus, nur die Musiker des RIAS Kammerchors und der Akademie für Alte Musik sind offenhörlich unverkatert.

Aus Purcells Fairy Queen (1692) wird meist nur die schöne Suite gespielt, das komplette Werk gilt als schwer vermittelbar: eine Semi-Oper nach speziell englischem Geschmack  mit viel gesprochenem Text, da die englische Veranlagung das unablässige Singen nicht schätzt (so der Dichter P.A. Bois, den Roman Hinke im lesenswerten Programmheft zitiert) – vor allem aber äußerst konfus. Eine gute und eine schlechte Nachricht: Die schlechte ist, dass es wirklich konfus ist, wer eine stringente Handlung oder gar einen roten Faden sucht, ist verloren. Nicht erst Berlioz hat Shakespeare skrupellos verwurstet.

Die gute Nachricht ist, dass das vollkommen egal ist.

Es gibt zwar keine aufwändige barocke Bühnenmaschinerie in der Philharmonie, aber Regisseur Christoph von Bernuth hat das Stück dezent szenisch eingerichtet: Chor und Sänger kommen von den Rängen herab und verschwinden wieder, legen sich unter einer großen Decke schlafen, lassen mit Taschenlampen nächtliches Gelichter aufscheinen, der Sonnengott Phoebus bringt einen Koffer voll Sonnenbrillen mit, der Zwerg Puck tanzt durch die Reihen. Natürlich ist der Originaltext begrüßenswert gekürzt. Wobei eigentlich alles sehr wirklichkeitsnah ist: etwa wenn ein Poet sich und der Dämonenwelt eingesteht, nicht nur besoffen, sondern auch ein lausiger Dichter zu sein; oder wenn eine Feenkönigin sich in einen Esel verliebt, aber nur für eine Nacht.

Purcell hat einen großen Sack herrlicher Musik über das Shakespeare-Vaudeville gekippt: etwa das Nachtigallen-Prelude der Blockflöten im zweiten Akt oder die Final-Chaconne, die den letzten Rest von Silvesterkrach aus den Ohren zaubert. Ein besonderer Höhepunkt sind die vier Lieder von NIGHT, MYSTERY, SECRECY (das berühmte One Charming Night) und SLEEP im zweiten Akt. Wie der unnachahmliche Samuel Pepys in sein Tagebuch schrieb: Was mir mehr als alles in der Welt gefiel, war die Musik.

Im letzten Akt sogar lamentoses Dido and Aeneas-Flair mit dem Klagelied O let me weep, das die ansonsten starke Sopranistin Ruby Hughes etwas laut singt (wunderbar begleitet vom Geiger Georg Kallweit). Unter den Solisten ragt der Bass Roderick Williams heraus. Sängerisch bräuchte es gar keine externen Solisten, wie die durchweg fabelhaften Solo-Auftritte aus den Reihen des RIAS Kammerchors zeigen. Reines Hörglück, wie beweglich und agil der Ensembleklang ist. Der Dirigent Rinaldo Alessandrini, dieses Jahr Conductor in Residence (nächstes Konzert am 31. Januar), singt mit, regelt aufmerksamst nach und verkörpert bei aller sympathischen Zurückhaltung die enorme Spielfreude, die den ganzen Abend auszeichnet. Die Akademie für Alte Musik ist bei Purcell mit seinen HornpipesJigs und Fairy Dances natürlich auf ureigenem Terrain.

Am Schluss gibt es Bravi für die Continuo-Gruppe, wann hat man das je erlebt? Musikalisch beglückender hätte das Jahr 2016 nicht beginnen können. A thousand, thousand ways we’ll find / To entertain the hours…

Zum Konzert / Zum Anfang des Blogs