Spinettriesig: erst Grigory Sokolov, dann Lugansky, Gerzenberg, Grosvenor beim Klavierfestival

Der sanftspinettige Virtuose und seine Jünger

Sanfter Spinettismus statt Virtuosengepranke, das sich in der heurigen Auflage des alljährlichen Grigory-Sokolov-Besuchs in Berlin nur einmal nebenher ereignet, aber nein, auch da ohne Gepranke, nur virtuos oder eben meisterlich: bei einer konzentriert hinbrillierten Rachmaninow-Zugabe, dem Prelude op. 23/2 als einem jener stets sechs Encores des dritten Konzertdrittels, in dem das Sokolov-Ritual erst seine Erfüllung findet. Die anderen sind zweimal Rameau (Les sauvages und Le Tambourin), zweimal Chopin (Prélude 28/15 und Mazurka 63/3) sowie einmal Bach (BWV 855a) im vollfülligen, dennoch faszinierenden Siloti-Ornat.

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Märchenkess: Gala- und Kinderkonzerte an der Staatsoper und beim DSO

Gala, Kinder!

Jedes Kinderkonzert ist ein Galakonzert: Da wird im Publikum mitdirigiert, mitgewippt und mitgetanzt im Sitzen und im Stehen (eingeübt instruiert von der blauberockten Tänzerin Lea Hladka und ihrem Partner Christoph Viol in Rot). Und noch höher steigt der Festpegel, weil es das erste rbbKultur-Kinderkonzert seit fast zwei Jahren ist. Da war das zullende Baby, das jetzt wie ein listiges respice finem aus Reihe 17 oder 22 zu hören, als am Ende der Prinz seine schöne Aschenputtelin heimträgt, noch gar nicht geboren. Es ist Sergej Prokofjews Cinderella, die das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO) dem jungen, jüngeren und jüngsten Publikum vorstellt, klangschön und engagiert wie eh und je.

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Lorbeerig: Emmanuelle Haïm bei den Berliner Philharmonikerinnen

Wird die Nymphe zum Lorbeer …

Dirigentinnen-Alarm in Berlin! Am Sonntag wird Karina Canellakis das RSB leiten, am Donnerstag steht Mirga Gražinytė-Tyla im Konzerthaus am Pult, am 30. 10. dirigiert Oksana Lyniv die Staatskapelle. Für sie alle gilt dasselbe wie dieser Tage für Emmanuelle Haïm bei den Berliner Philharmonikerinnen (Achtung, Männer sind im ganzen Text mitgemeint): Sie ist nicht da, weil sie eine Frau ist. Vor ein paar Jahren hätte man sogar gesagt, sie sei da, obwohl sie eine Frau ist. Diese Zeiten scheinen zum Glück halbwegs vorbei, der Frauenmangel an den Pulten ist mittlerweile jedem, der kein Grauselzausel, peinlich. (Hier übrigens eine schöne Playlist von Corina Kolbe mit Aufnahmen von Dirigentinnen.)

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Aqualamentös: DIDO & AENEAS an der Staatsoper

Früher war mehr Lamento. Die späte Hochsommerwelle ist ein guter Anlass, mal wieder die Flügel traurig hängen zu lassen und die Sasha Waltz-Inszenierung von Henry Purcells Dido & Aeneas zu besuchen, diesen Klassiker, der mit einem beherzten Sprung der Tänzer ins trübe Nass beginnt, als wär die Staatsoper Unter den Linden das Kombibad Seestraße. Die Eröffnungs-Choreografie der Männer- und Frauenkörper im Aquarium hat schon ikonischen Charakter, die bleibt wirklich nachhaltig hängen von dieser 2005er „Neukreation“ (so die Selbstbezeichnung) der 1689 in einem Mädchenpensionat in Chelsea uraufgeführten Oper.

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Metaspektakelig: Wiederaufnahme von Purcells „King Arthur“ an der Staatsoper

Abwesenheit macht Freude. Abwesenheit: Daniel Barenboims Staatskapelle gastiert mit ihrem vor wenigen Tagen in Berlin gespielten Debussy-Programm im noblösen Musikverein Wien, hoffentlich macht sie uns Ehre. Freude: Die Staatsoper Unter den Linden hat daher Vakanz für eine willkommene Wiederbegegnung mit Henry Purcells King Arthur, gespielt von der Akademie für Alte Musik unter René Jacobs. Schon die Erstbegegnung vor einem Jahr, noch im Schillertheater, war ja ausnehmend einnehmend.

Wie schlägt sich die Inszenierung von Sven-Eric Bechtolf und Julian Crouch im Stammhaus Unter den Linden? Weiterlesen

Bittschreiend: Teodor Currentzis und MusicAeterna mit Mozarts Requiem und Chormusik aus 1000 Jahren

Ein Konzert so berührend, dass es kaum zu ertragen ist. Ein Konzert, das Glauben sucht und Gott anschreit.

Ob es den Hörer auf die Palme bringt oder zu sich selbst, ihn belästigt oder erleuchtet, hängt sicher von dessen Persönlichkeit ab. Das beginnt schon beim Einzug des Chorus MusicAeterna, der schwarzgewandet und Kerzen tragend die abgedunkelte Philharmonie betritt. Dort bildet er einen Kreis um Teodor Currentzis, der mit ausladenden Wischbewegungen dirigiert: halb Magier, halb Touchpad-Benutzer. Sektenartig findet eine kluge Bekannte des Konzertgängers das alles. Weiterlesen

Unruhevoll: Robin Ticciati & DSO spielen Gabrieli, Purcell, Adès, Mahler

Copy_of_Lute_Player_by_Frans_Hals_-_SK-A-134Rein äußerlich wirkt Robin Ticciati wie ein Student, der einem in der U-Bahn mit seiner Gitarre ein bissl auf den Senkel geht, aber dabei grundsympathisch ist auf seine wuschlig-schüchterne Art. Als Dirigent in der Philharmonie jedoch, noch dazu baldiger Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters, weiß er offenhörlich, was er tut. Beeindruckend hoher Klangsinn. Nur die ganz großen dramaturgischen Bögen in den ganz großen Werken scheinen manchmal brüchig. Aber nicht der Spannungsbogen des Konzerts: ein ausgefinkeltes, subtil zusammengestelltes Programm ist das. Weiterlesen

Taststörung

Zu den unangenehmsten Kindheitserfahrungen gehören Erwachsene, die einen ungefragt anfassen.

pompeo_batoni_-_dido_and_aeneas_1747Auch im Konzert und in der Oper kann man, nebst Hörstörungen und Sehstörungen, solche Taststörungen erleben. Nur dass die Taststörung nicht unbedingt vom Nachbarn ausgeht, mit dem in Körperkontakt zu treten man genötigt ist, sondern von den Künstlern verschuldet wird: Etwa wenn das Publikum im Radialsystem beim Rameau-Gastspiel von Teodor Currentzis‘ MusicAeterna (2015) Ringelpiez mit Anfassen spielen soll.

Etwas Ähnliches war nun in der Tischlerei der Deutschen Oper zu erleben: bei Dido, Henry Purcells Meisterwerk reloaded beziehungsweise bruchgelandet. Weiterlesen

Sehstörung

velazquezSichtbehinderungen sind dem Konzertgänger, im Gegensatz zu Hörstörungen, ziemlich egal.

Aber er verstünde doch, wenn ein ungünstig sitzender Besucher von Henry Purcells King Arthur in der Staatsoper im Schillertheater an dem etwa dreißig Zentimeter hohen Haarturm einer Dame in Reihe 2 Anstoß nähme.

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17.1.2017 – Frostheiß: Purcells „King Arthur“ mit René Jacobs und Akamus

boys_king_arthur_-_n-_c-_wyeth_-_title_pageHenry Purcell kann man an den Füßen in die Luft heben und rütteln, es fällt lauter Gold und Silber aus seinen Taschen.

So macht es René Jacobs, der zwischen und auch unter die Sprechszenen in Purcells Semi-Oper King Arthur, or The British Worthy (1691) weitere Musik dieses Komponisten legt: kunstvolle, strenge Gambenfantasien, gemessen schreitende Pavanen – ein Stück schöner als das andere.

Jedes Jahr übernehmen Jacobs und die Akademie für Alte Musik die Staatsoper, während die Hausherren (ab Donnerstag neunmal in New York) auf Tournee gehen. Weiterlesen

1.1.2016 – Wintersommernachtstagtraum: Purcells „Fairy Queen“ in der Philharmonie

Berlin am Neujahrstag sieht aus wie London nach dem Great Fire – kann man das neue Jahr also besser beginnen als mit The Fairy-Queen, Henry Purcells märchenhafter Feenweltmusik, sehr frei nach Shakespeares Sommernachtstraum? Zumal im zuschanden gefeierten Tiergarten undurchdringlicher Themse-Nebel wabert. Das Publikum im ausverkauften Großen Saal der Philharmonie sieht nach der Silvesternacht etwas zerknittert aus, nur die Musiker des RIAS Kammerchors und der Akademie für Alte Musik sind offenhörlich unverkatert.

Aus Purcells Fairy Queen (1692) wird meist nur die schöne Suite gespielt, das komplette Werk gilt als schwer vermittelbar: eine Semi-Oper nach speziell englischem Geschmack  mit viel gesprochenem Text, da die englische Veranlagung das unablässige Singen nicht schätzt (so der Dichter P.A. Bois, den Roman Hinke im lesenswerten Programmheft zitiert) – vor allem aber äußerst konfus. Eine gute und eine schlechte Nachricht: Die schlechte ist, dass es wirklich konfus ist, wer eine stringente Handlung oder gar einen roten Faden sucht, ist verloren. Nicht erst Berlioz hat Shakespeare skrupellos verwurstet.

Die gute Nachricht ist, dass das vollkommen egal ist.

Es gibt zwar keine aufwändige barocke Bühnenmaschinerie in der Philharmonie, aber Regisseur Christoph von Bernuth hat das Stück dezent szenisch eingerichtet: Chor und Sänger kommen von den Rängen herab und verschwinden wieder, legen sich unter einer großen Decke schlafen, lassen mit Taschenlampen nächtliches Gelichter aufscheinen, der Sonnengott Phoebus bringt einen Koffer voll Sonnenbrillen mit, der Zwerg Puck tanzt durch die Reihen. Natürlich ist der Originaltext begrüßenswert gekürzt. Wobei eigentlich alles sehr wirklichkeitsnah ist: etwa wenn ein Poet sich und der Dämonenwelt eingesteht, nicht nur besoffen, sondern auch ein lausiger Dichter zu sein; oder wenn eine Feenkönigin sich in einen Esel verliebt, aber nur für eine Nacht.

Purcell hat einen großen Sack herrlicher Musik über das Shakespeare-Vaudeville gekippt: etwa das Nachtigallen-Prelude der Blockflöten im zweiten Akt oder die Final-Chaconne, die den letzten Rest von Silvesterkrach aus den Ohren zaubert. Ein besonderer Höhepunkt sind die vier Lieder von NIGHT, MYSTERY, SECRECY (das berühmte One Charming Night) und SLEEP im zweiten Akt. Wie der unnachahmliche Samuel Pepys in sein Tagebuch schrieb: Was mir mehr als alles in der Welt gefiel, war die Musik.

Im letzten Akt sogar lamentoses Dido and Aeneas-Flair mit dem Klagelied O let me weep, das die ansonsten starke Sopranistin Ruby Hughes etwas laut singt (wunderbar begleitet vom Geiger Georg Kallweit). Unter den Solisten ragt der Bass Roderick Williams heraus. Sängerisch bräuchte es gar keine externen Solisten, wie die durchweg fabelhaften Solo-Auftritte aus den Reihen des RIAS Kammerchors zeigen. Reines Hörglück, wie beweglich und agil der Ensembleklang ist. Der Dirigent Rinaldo Alessandrini, dieses Jahr Conductor in Residence (nächstes Konzert am 31. Januar), singt mit, regelt aufmerksamst nach und verkörpert bei aller sympathischen Zurückhaltung die enorme Spielfreude, die den ganzen Abend auszeichnet. Die Akademie für Alte Musik ist bei Purcell mit seinen HornpipesJigs und Fairy Dances natürlich auf ureigenem Terrain.

Am Schluss gibt es Bravi für die Continuo-Gruppe, wann hat man das je erlebt? Musikalisch beglückender hätte das Jahr 2016 nicht beginnen können. A thousand, thousand ways we’ll find / To entertain the hours…

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4. Juli 2015 – Melancholisch: ‚When I Am Laid in Earth‘ in der Staatsoper

Wer bleibt freiwillig im Strandbad, wenn man in der Staatsoper Musik von Sciarrino und Purcell hören kann? Und zwar unter dem einladend morbiden Titel When I am laid in earth! In einer idealen Welt müsste es lange Schlangen geben statt eines gähnend leeren Saals – dabei ist ein zweiter Konzerttermin (offiziell aus dispositionellen Gründen) kurzerhand gestrichen worden. Aber nichts Bildungsschnöseliges gegen Strandbadbesucher, man könnte bei 38°C auch Schlimmeres tun, etwa zu Helene Fischer ins Olympiastadion gehen oder zum AfD-Parteitag nach Essen fahren.

So trifft sich zum Stelldichein von Barock und Gegenwart ein harter Kern von Musikfreunden, die Härtesten sogar im Jackett (ein Kulturradio-Redakteur). Die Musiker der Staatskapelle (fürs Neue, links) und des Freiburger BarockConsort inkl. Hille Perl (fürs Alte, rechts) erscheinen alle langärmlig, nur der coole Langhalslautenist Lee Santana zeigt Elle.

Featured imageDas vielversprechende Konzept des Abends, englische Musik des 16. und 17. Jahrhunderts im Wechsel mit Gegenwartskompositionen, die auf diese Ahnen Bezug nehmen, geht zum Teil auf. Den Liedern und Arien von Henry Purcell, allen voran natürlich Didos Todes-Arie When I Am Laid in Earth, von Dorothee Mields ganz wunderbar gesungen, möchte man ewig zuhören; und noch ewiger den Suiten von William Lawes und Matthew Locke. Herrlich ist der Schreittanz The Image of Melancholy von Anthony Holborne (1545-1602): Da denkt der Konzertgänger, er hätte gern im 16. Jahrhundert mit seiner posenhaften Melancholie gelebt. Hätte er in den endlosen Stunden seiner Pubertät diese berückende Musik gehört! Dann wäre alles besser gewesen! (Hier ein Youtube-Link.)

Einen ähnlichen Sog entwickeln die neuen Stücke nicht. Einerseits, weil einige Alte-Musik-Freunde die Novitäten als Gelegenheit zum kräftigen Abhusten erachten; andererseits weil die neuen Stücke so miniaturhaft sind, dass sie teilweise vorüberhuschen, ohne nachhaltige Wirkung zu entfalten – obwohl sie in ihrem noblen und leisen Klang gut zu den alten Engländern passen. In nomine nominis ist für Salvatore Sciarrinos Verhältnisse geradezu wuchtig, aber der einzigartige Sciarrino-Sound entfaltet sich über längere Distanzen viel eindrücklicher. requiescat in pace von Claus-Steffen Mahnkopf ist ein sehr leises Stück voll stumpfer Glockenschläge mit einem sehr lauten, fast anmaßenden Untertitel (In memorian victimarum christianitatis). Erst Klaus Hubers Ricercare il nome mit seinen langen, schreitenden, tastenden und suchenden Tönen besteht gegenüber den Altmeistern.

Nur einmal treffen sich Barock und Gegenwart direkt: In Gérard Pessons behutsamer Überschreibung von Thomas Tallis. Mit dieser instrumentation colorée rückt diese alte Musik in faszinierend nahe Ferne.

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