Früher war mehr Lamento. Die späte Hochsommerwelle ist ein guter Anlass, mal wieder die Flügel traurig hängen zu lassen und die Sasha Waltz-Inszenierung von Henry Purcells Dido & Aeneas zu besuchen, diesen Klassiker, der mit einem beherzten Sprung der Tänzer ins trübe Nass beginnt, als wär die Staatsoper Unter den Linden das Kombibad Seestraße. Die Eröffnungs-Choreografie der Männer- und Frauenkörper im Aquarium hat schon ikonischen Charakter, die bleibt wirklich nachhaltig hängen von dieser 2005er „Neukreation“ (so die Selbstbezeichnung) der 1689 in einem Mädchenpensionat in Chelsea uraufgeführten Oper.
Dass an diesem Abend für den Konzertgänger jeder Tanz ein Genuss ist, liegt dennoch weniger an der Compagnie Sasha Waltz & Guests als an der wie stets vorzüglichen Akademie für Alte Musik. Das muss für den Konzertgänger freilich Anlass für einen Disclaimer sein: Im Tanztheater begreift er regelmäßig, wie manche Menschen sich in der Oper fühlen müssen – diese nagende Frage, was soll das Ganze? Hermeneutisch gesehen für ihn ein Zusammentreffen mit einer Wespe, das ein Wechselbad von geistiger Erstarrung und sinnierendem Aufzucken auslöst. Wobei, wie man auf Twitter liest:
Mehrere Minuten auf dem Bürgersteig mit allen Gliedmaßen einer aggressiven Wespe ausgewichen, Angebot von Sasha Waltz bekommen.
— Peter Breuer (@peterbreuer) August 21, 2019
Aber so viel ist klar, Tanz-Einlagen müssen sein in dieser Art Oper, und warum dann nicht volle Interpretationsdosis statt einschüblicher Pflichtübung? Hier wird nämlich der Tanz, statt zum entertainenden Intermezzo, zur Regie selbst, er will das Geschehen durchleuchten, statt es aufzulockern. Die hin- und hergerissene Dido ist aufgesplittet in zwei Tänzerinnen. Dennoch wirkt das Vokabular dieser Tänze gelegentlich etwas random, wie der Konzertgängersohn sagen würde. Und manchmal wirkts dann auch wie Zeitschinderei, besonders in einer langen Spiel-Einlage, in der die Tänzer auch einiges zu sprechen haben, zum langwierigen Nachteil des Publikums.
Dass im Gegenzug auch die Choristen zu tanzen haben, unbehagt dem Konzertgänger ebenfalls; seine Frau entgegnet aber, das sei völlig in Ordnung, und bekanntlich gilt ja § 1) die Frau hat immer Recht und § 2) falls mal nicht, siehe § 1. Einig wird man sich aber über das hohe Gesangsniveau des Vocalconsort Berlin. Der Chor spielt ja bei Purcell, untypisch für „Barockopern“, eine tragende Rolle. Wie präzise der Consort Sinn und Silben durchbuchstabiert, ist überdies noch sehr schön anzuhören. Wenn die Consortisten solistisch singen, muss man manchmal gewisse Abstriche machen.
Was indes die Hauptrollen angeht, wirken in technischer Hinsicht – der Standard ist hoch heutzutage – die Sänger tadellos. Das Herz des Hörers aber (ob nun schreckend oder barmend) erreichen sie in unterschiedlichem Maß. Das mag beim Bariton Nikolay Borchev auch an der nun mal nicht überprofilierten Rolle des Aeneas liegen, deren Leid und Zerrissenheit sich tatsächlich eher in den tänzerischen Spiegelungen durch Virgis Puodziunas zeigt. Die böse Hexe und Dido-Hasserin von einem Bassbariton singen zu lassen, ist eine attraktive Idee, allerdings wirkt die Stimme von Yannis François an diesem Abend doch zu flach, als dass dämonisches Flair aufkäme.
Mehr Freude machen die Frauen. Der Dido von Marie-Claude Chappuis mag im Remember me des berühmten Schluss-Lamentos die letzte Weltflucht fehlen; andererseits mag eben das Absicht sein, um Dido bis in die Katastrophe als selbstbestimmte Frau zu zeigen. Denn Chappuis‘ Sopran lässt den grief von Anfang an leidenschaftlich und selbstbewusst glühen. Besonderes Glück bereitet die junge Mezzosopranistin mit dem wunderbaren Namen Aphrodite Patoulidou als Didos Vertraute Belinda, eine volle, überaus warme Stimme, souverän geführt.
Ach, und diese instrumentalen Stimmen der Akademie für Alte Musik! Dieses Orchester stemmt es derzeit, am selben Abend beim Schleswig Holstein-Musikfestival aufzutreten und an der Lindenoper – mit einigen Aushilfen wohl, den Konzertmeister Yves Ytier kennt man sonst hier nicht. Wenn der solistische Geiger im zweiten Akt innig spielend die Bühne betritt, vergisst man angesichts dieses so sinnlichen wie genauen Klangs sofort das akustisch kaum verständliche Geplapper der Tänzer in der zuvor erlebten zähen Spielszene. Das von Christopher Moulds geleitete Ensemble beglückt von den schlagartigen Wechseln zwischen Bangen und Hoffnung zu Beginn über das heftige Gewitterdonnern des zweiten Aktes bis zum letzten, todtraurigen Fade-away der Streicher.
Dido & Aeneas gibts nochmal am 1. September und dann viermal bei den Barocktagen der Staatsoper im November.
Diese Sasha-Waltz-Inszenierung hat mich immer sehr bewegt. Ich meide sie inzwischen, weil ich fürchte, sie ginge nicht mehr derart unter die Haut.