Erbaulich: Premiere IL PRIMO OMICIDIO von Alessandro Scarlatti an der Staatsoper

Barockoper? Muss es sein?

Zur Eröffnung der Barocktage der Staatsoper Unter den Linden ein – nein, der Mord: IL PRIMO OMICIDIO, das erste Kapitalverbrechen der Weltgeschichte, ist nämlich die Bluttat von Kain an Abel. In dem Oratorium von Alessandro Scarlatti (dem Vater von Domenico S., aber das nur am Rande) dauert die Tat nur einen kurzen Moment: Der titelgebende Mord ist eher ein Zustand. Meditativ, wenig zu sehen, sehr einfach, demütig – solche Vokabeln, mit denen Regisseur Romeo Castellucci und Dirigent René Jacobs wedeln, lassen homizidierende Langeweile befürchten. Und wie man hernach so aufschnappt, klaffen die Eindrücke weit auseinander. Für den Konzertgänger aber funktionierts: wunderschön, geschmackvoll, klug, bewegend.

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Aufrichtig: „Missa solemnis“ mit Jacobs, FBO, RIAS Kammerchor

Orchester- und Choraufstellung nach René Jacobs (von rechts gehört)

Das Beethovenjahr wirft seine Highlights voraus. Die Schattenseiten werden uns 2020 noch mächtig auf die Nerven gehen, aber eine MISSA SOLEMNIS mit Freiburger Barockorchester und RIAS Kammerchor ist immer zu begrüßen. Es kommt dabei in der Philharmonie zu einigen unerwarteten Klangereignissen. Nicht bei allen ist klar, ob sie beabsichtigt sind oder passieren, und die Hörgemüter sind teils gespalten im Publikum, nicht jedem geht, was hier von Herzen kommt, zu Herzen. Aber der Konzertgänger hörts tutto sommato mit der innigsten Empfindung.

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Metaspektakelig: Wiederaufnahme von Purcells „King Arthur“ an der Staatsoper

Abwesenheit macht Freude. Abwesenheit: Daniel Barenboims Staatskapelle gastiert mit ihrem vor wenigen Tagen in Berlin gespielten Debussy-Programm im noblösen Musikverein Wien, hoffentlich macht sie uns Ehre. Freude: Die Staatsoper Unter den Linden hat daher Vakanz für eine willkommene Wiederbegegnung mit Henry Purcells King Arthur, gespielt von der Akademie für Alte Musik unter René Jacobs. Schon die Erstbegegnung vor einem Jahr, noch im Schillertheater, war ja ausnehmend einnehmend.

Wie schlägt sich die Inszenierung von Sven-Eric Bechtolf und Julian Crouch im Stammhaus Unter den Linden? Weiterlesen

Sehstörung

velazquezSichtbehinderungen sind dem Konzertgänger, im Gegensatz zu Hörstörungen, ziemlich egal.

Aber er verstünde doch, wenn ein ungünstig sitzender Besucher von Henry Purcells King Arthur in der Staatsoper im Schillertheater an dem etwa dreißig Zentimeter hohen Haarturm einer Dame in Reihe 2 Anstoß nähme.

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17.1.2017 – Frostheiß: Purcells „King Arthur“ mit René Jacobs und Akamus

boys_king_arthur_-_n-_c-_wyeth_-_title_pageHenry Purcell kann man an den Füßen in die Luft heben und rütteln, es fällt lauter Gold und Silber aus seinen Taschen.

So macht es René Jacobs, der zwischen und auch unter die Sprechszenen in Purcells Semi-Oper King Arthur, or The British Worthy (1691) weitere Musik dieses Komponisten legt: kunstvolle, strenge Gambenfantasien, gemessen schreitende Pavanen – ein Stück schöner als das andere.

Jedes Jahr übernehmen Jacobs und die Akademie für Alte Musik die Staatsoper, während die Hausherren (ab Donnerstag neunmal in New York) auf Tournee gehen. Weiterlesen

27.11.2016 – Gottsuchend: René Jacobs, Freiburger Barockorchester, RIAS Kammerchor spielen Mozart und Haydn

el_greco_-_a_boy_blowing_on_an_ember_to_light_a_candle_soplon_-_wga10422Ja, ist denn heut schon Ostern? Das ist mal ein Adventsprogramm, mit dem das Freiburger Barockorchester und der RIAS Kammerchor unter René Jacobs im ausverkauften Kammermusiksaal gastieren: durch den Tod ins Leben. Erst das Mozart-Requiem, dann Haydns vor Freude sprühende Harmoniemesse.

Die Kombination ist nicht nur klanglich interessant (aufgrund ihrer stilistischen Gegensätze), man könnte sie zugleich religiös musikalisch nennen. Vor einem Jahr, ebenfalls in der Adventszeit, baute das DSO mit Manfred Honeck um Mozarts Requiem ein Programm, das den Hörer durch Überwältigung Gott finden ließ. René Jacobs dagegen sagt: Gott zu suchen ist wichtiger als Gott zu finden, weil er ungreifbar bleibt.

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30.4.2016 – Wachküssend: Agostino Steffanis „Amor vien dal Destino“ in der Staatsoper

Der Konzertgänger kennt nicht nur Feiertage wie Weihnachten und Ostern, sondern auch jährlich wiederkehrende Festtermine wie das epiphanische Klavierrezital von Grigory Sokolov oder die rituelle Barockopern-Auferstehung, die René Jacobs mit der Akademie für Alte Musik in der Staatsoper feiert. Dieses Jahr hat Jacobs den verzwickten Aeneas-Reigen Amor vien dal Destino ausgegraben, den der Komponist, Diplomat und Bischof Agostino Steffani 1709 zum Düsseldorfer Karneval komponierte.

Eine historisch vergleichende Gegenüberstellung mag den auch für den interessierten Laien hörbaren musikästhetischen Wandel des Düsseldorfer Karnevals verdeutlichen:

Fasching in Düsseldorf anno 2011:

Fasching in Düsseldorf anno 1709:

Schon dem Lamento der Venus (Robin Johannsen, überragend) entströmt mehr Schönheit als so manchem langen spätromantischen Abend in der Philharmonie. Der Zuhörer, der im Lauf der ca. 240minütigen Oper nicht das eine oder andere Viertelstündchen verschlummert, muss zwar erst geboren werden. Denn das Libretto ist ziellos wie der Wind, den die Latinerprinzessin Lavinia (Katarina Bradić) besingt. Oder die Schilfrohre und Liebespfeile, die der stumme Amor (Konstantin Bühler, passenderweise vom Düsseldorfer Schauspielhaus) pflanzt und verschießt.

Doch der ziellose Wind steht koloraturgünstig! Wann auch immer man aufwacht, wird das Ohr von erlesener Schönheit geküsst: Acht Sänger übertreffen sich selbst, neben den erwähnten Sopranistinnen Bradić und  Johannsen Jeremy Ovenden mit kernigem, festen Tenor als Enea (Aeneas), die kunstvoll leidende und rasende Olivia Vermeulen in Hosenrolle als angeschmierter König der Rutuler, Marcos Fink als König Latino sowie die umwerfend komischen Mark Milhofer (in einer Rockrolle als Amme) und Gyula Orendt. Last but not least die skurrile Erscheinung eines zarten, fast ätherischen Countertenor-Zeus (Rupert Enticknap). Ein traumhaft ausgeglichenes Sängerensemble.

Die Akademie für Alte Musik ist so prächtig aufgelegt, dass man bereit wäre, sich ein ganzes Konzert allein der Continuogruppe anzuhören. B.C. pur. Vielleicht nicht vier Stunden, aber ein bis zwei gern. Aber da sind ja auch der Rest des Orchesters und die Solisten, die in buntem Wechsel Steffanis überreich inspirierte Arien begleiten, Violine (Bernhard Forck),Cello (Jan Freiheit), Oboe (Xenia Löffler), Laute (Shizuko Noiri) und viele mehr – auch vier Chalumeaux, Großmütter der Klarinetten. (Und René Jacobs‘ stundenlanges sachliches Armkreisen und schnörkelloses Einsatzgeben ist eine Wohltat, wenn einem noch der philharmonische Ausdruckstanz von Andris Nelsons auf dem Gemüt liegt.)

Komisch und wunderschön das alles, aber nicht harmlos. Die dunkle Seite der Liebe offenbart sich zumal in der zweiten Hälfte der Aufführung, eindrucksvoll ins Bild gesetzt durch die Regie von Ingo Kerkhof: Wenn etwa ein verzweifelt Liebender brutal über Amor herfällt, diesen Tyrann und Kretin, steht einem die Perücke zu Berge. Das Schilf, anfangs nur in einzelnen Halmen in den Boden gespießt, bedeckt nun dicht die ganze hintere Bühne, dahinter ist Nacht, merkwürdig statuarische Menschen erscheinen darin und verschwinden: eine unheilvolle Melange aus Jenufa-Feldern und Peter Greenaways Kontrakt des Zeichners, der nicht nur die steilen Perücken und Kostüme (Stephan von Wedel) inspiriert hat.

Am besten gleich nochmal hin (4. und 7. Mai), um auch das zu hören, was man verschlummert hat. Und das andere nochmal.

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