Das Beethovenjahr wirft seine Highlights voraus. Die Schattenseiten werden uns 2020 noch mächtig auf die Nerven gehen, aber eine MISSA SOLEMNIS mit Freiburger Barockorchester und RIAS Kammerchor ist immer zu begrüßen. Es kommt dabei in der Philharmonie zu einigen unerwarteten Klangereignissen. Nicht bei allen ist klar, ob sie beabsichtigt sind oder passieren, und die Hörgemüter sind teils gespalten im Publikum, nicht jedem geht, was hier von Herzen kommt, zu Herzen. Aber der Konzertgänger hörts tutto sommato mit der innigsten Empfindung.
Denn obacht: René Jacobs hat die Aufstellung auf dem Podium durchgemischt. Die Musiker sind ein Klappaltar, mit dem Orchester als Mitteltafel und dem Chor auf den Flügeln, und zwar je eine Männer- und Frauenlage zur Linken und zur Rechten. Die vier Gesangssolisten aber prangen Kreuzblumen gleich über der Mitte. Das hat Vor- und Nachteile. Nachteil zumal, wenn man seitlich sitzt, weil der Chor von zwei Seiten aufeinander zu singt statt in den Saal; und die Solisten stehen schon etwas für sich so hinter-über dem Orchester. Die Instrumentalisten wünschte man sich gelegentlich präsenter; kurze solistische Einwürfe schmieren balancemäßig mal ab.
Aber die Vorteile sind nicht zu überhören. Die Scharniere der Tafeln sind gut geölt und flutschi-beweglich. Es gibt wunderbare Verbindungen der Klangsphären, ohne dass sie sich vermischmaschten. Äußerst durchhörbar und dennoch ganz sinnlich ist dieser hervorragende RIAS Kammerchor, mit Diktion quasi zum Mitskribieren (und so eine Missa solemnis beantwortet final die ewige Wozu-Latein-Frage des Konzertgängersohns). Die Präzision der Freiburger Barockorchester-Gruppen macht aus dem Zwischenspiel zwischen Sanctus und Benedictus Luft von anderem Planeten: mit Spuren von Renaissance, avantgardistischem Mischklang und schwanenritterlicher Ohrvision. Und wenn die Orchestersolisten ausführlichere Passagen haben (vor allem die herumheiliggeisternde Flöte im Et incarnatus und das lange, mit seinem reduzierten Vibrato betörend „reine“ Violinsolo von Anne Katharina Schreiber im Benedictus), dann ist das das Gegenteil von Abschmieren.
Und René Jacobs? Dass sein Dirigat einen kuriosen Eindruck macht, kann man schwer verhehlen. Manchmal hat man auch den Eindruck, dass er eher hinterherwinkt als zu führen. Andererseits ist die meistenteilige Ausgewogenheit kein geringes Verdienst, und mehr noch die Sängergewogenheit: Denn keiner der vier Solisten Polina Pastirchak, Sophie Harmsen, Steve Davislim und Johannes Weisser ist je zum Forcieren oder Durch- und Drüberschreien gezwungen. Die Einspringerin Harmsen macht den stärksten Eindruck. Der Rias Kammerchor profitiert ebenfalls, wenn er derart Beethovens besserwisserische Fugen mit hohem Können, aber ohne Besserkönnerei zu Herzen bringt.
Denn zu Herzen gehts, und das ist Jacobs‘ größtes Verdienst: nicht die Umsetzung, sondern der Ansatz. Dieser sich alle Zeit der Welt nehmende Beginn des Kyrie oder Agnus Dei, meditativ fast, ein stehendes Jetzt, aus dem dann die Explosionen und Implosionen der Herzen entstehen. Gloria, miserere. Die beethovenschen Kontraste von ff und pp entfalten sich, ohne dass der Klang darum göttlich-heroische Ohrfeigen verteilte. Spirituell ist das, anrührend und bewegend und aufrichtig spirituell.
Das Allerletzte freilich, worum man hier gebeten hätte (Blasenkranke ausgenommen), ist diese Pause zwischen Credo und Sanctus. Die ist ganz fürchterlich; selbst wenn man mit der reizendsten Begleiterin der Welt im Konzert ist.
Nächstes Berliner Konzert des FBO mit dem schauderlichen Titel Mozart-Gala, aber schönem Programm am 7. Juni. Der RIAS Kammerchor gesamtkunstwerkelt am 24. Mai mit Lera Auerbach im Boulezsaal.
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