Sag niemals nie, aber fühlt sich ziemlich nach Farewell an in diesem bewegenden Konzert von Bernard Haitink bei den Berliner Philharmonikern. In der Saisonvorschau 2019/20 fehlt sein Name, der sonst immer dastand. Gebrechlich wirkt der nun ja nicht mehr ganz jugendliche 90jährige am Freitag nach der zweiten von drei Aufführungen, schwer erschöpft, wie er sich am Ende auf seinen Gehstock stützt, sogar für den tosenden Applaus der grausamen Verehrer noch einmal extra herauskommt. Andererseits, wie kaputt wäre erstmal ein 19jähriger heutzutage, nach einem Brucknerdirigat! Ein Sabbatical wolle Haitink einschieben nach mehreren Stürzen, hört man, that’s the spirit, und inshallah, sag niemals nie.
Der Pianist Paul Lewis könnte Haitinks Enkel sein, nach den Fortpflanzungs-Usancen der mitteleuropäischen gebildeten Stände aber vielleicht doch eher ein Sohn. Auch im musikalischen Sinn, so ein Nichtforcierer ist das, ein Nichtherausquetscher. Das Orchester unter Haitink spielt in Wolfgang Amadeus Mozarts letztem Klavierkonzert B-Dur KV 595, das den Abend eröffnet, einen sehr philharmonischen, sehr gepflegten Part, mit diesem schwerelosen Streicherton, der keine Spur seiner physischen Erzeugung mehr in sich zu tragen scheint. Der Steinwayflügel ist indes bei eurasischem Mozartnormalanschlag eh nicht der perkussivste und Lewis nicht der Typ, es herauszuhämmern. Im Zweifel wählt er immer die subtilere Pointe. Die aber mit Nachddruck, und die Ummollungen im Kopfsatz sind quite eindringlich.
Ein unspektakulärer, aber sehr erfreulicher Philharmoniker-Debütant. Er kommt aus Liverpool und hat mit dem Klavierspielen erst mit zwölf angefangen, in dem Alter also, in dem andere Kinder schon wieder aufhören. Berliner Klavierfreunde kennen ihn vor allem von dem fabelhaften Klavierfestival im Konzerthaus, bei dem hierzustadts ansonsten selten zu erlebende Spitzenpianisten spielen und das übrigens in ein paar Tagen wieder beginnt. Der Wunsch, Lewis möge mehr die Sau rauslassen, wäre charakterwidrig. Leicht befangen wirkt er dennoch, etwa wenn er den Konzertmeister Stabrawa fragt, ob eine Zugabe okay wäre; worauf Stabrawa wohlwollend nickt.
Und wie das okay ist, dieses Allegretto c-Moll D 915, das Franz Schubert 1827 seinem lieben Freunde Walcher zur Erinnerung widmete: ein Stück, das das Herz abschnürt vor Glück und Schrecken. Und das starke Bedürfnis nach einem Schubert-Abend des Schubert-Spezialisten Paul Lewis weckt.
Haitinks schwerelose Streicher und die sanft hereinsinkenden Bläser sind ein guter Start in Anton Bruckners 7. Sinfonie E-Dur, bei der man sich bang fragt, wie der alte Mann das wuppen wird, trotz Dirigierhocker, der ja nur bei den Äußerlichkeiten des Wuppens hilft. Das innere Wuppen aber lässt Haitink geschehen. Er dirigiert vornehm, showfrei und wenig: auf dass Bruckner sich ereigne.
Das ist dann keine psychopathologische Studie der Extreme und Kontraste, sondern ein Werk von ungebrochener Erhabenheit, in dem alles mit allem verbunden ist. Statt Eruptionen ein gewaltiges Blühen, ein gewaltiger Flow. Beethoven würde der Konzertgänger nicht so hören wollen, Bruckner sehr gern. Auch mit diesem starken Mahlergeist etwa in den ausatmenden Passagen des Adagio. Das Scherzo, mighty wogend natürlich, wirkt fast behaglich, aber das ist kein Einwand, weil es auch so eine mahlersche Behaglichkeit ist, die nichts mit Gemütlichkeit zu tun hat.
Es gibt gerade im Kopfsatz einige etwas chaotische Momente, aber dies ist vielleicht nicht der Anlass, die Einzelheiten jeder Klangbalance analytisch aufzudröseln (selbst wenn mans vermöchte). Anlass ist vielmehr für große Dankbarkeit für diesen atmenden, geschehenden, sich ereignenden Bruckner. Und dafür, was dieser alte Mann sich da Übermenschliches, nein: zutiefst Menschliches antut.
Und wie gesagt, sag niemals nie.
Ich gehe heute abend rein, freu mich schon. Hoffentlich spielt Lewis auch heute wieder das Schubert-Allegretto…
Und, hat er?
Ja, er hat. Ich wünsch mir jetzt auch diesen Schubert-Abend mit ihm, mir gefällt das sehr, wie er spielt.