Erbaulich: Premiere IL PRIMO OMICIDIO von Alessandro Scarlatti an der Staatsoper

Barockoper? Muss es sein?

Zur Eröffnung der Barocktage der Staatsoper Unter den Linden ein – nein, der Mord: IL PRIMO OMICIDIO, das erste Kapitalverbrechen der Weltgeschichte, ist nämlich die Bluttat von Kain an Abel. In dem Oratorium von Alessandro Scarlatti (dem Vater von Domenico S., aber das nur am Rande) dauert die Tat nur einen kurzen Moment: Der titelgebende Mord ist eher ein Zustand. Meditativ, wenig zu sehen, sehr einfach, demütig – solche Vokabeln, mit denen Regisseur Romeo Castellucci und Dirigent René Jacobs wedeln, lassen homizidierende Langeweile befürchten. Und wie man hernach so aufschnappt, klaffen die Eindrücke weit auseinander. Für den Konzertgänger aber funktionierts: wunderschön, geschmackvoll, klug, bewegend.

Dabei sind die Einwände gegen den Drehpunkt dieser Aufführung ja nachvollziehbar: Mit dem Tötungsakt treten die Sänger ab, um von da an aus dem Graben oder der Proszeniumsloge zu singen. Ihre Rollen auf der Bühne werden von Kinder-Doubles übernommen. Ist es nicht problematisch, vielleicht sogar verwerflich, Kinder einen Mord spielen zu lassen? Und ist die Mär von der kindlichen Unschuld, die hinter dieser Regie-Idee steht, nicht ein längst überführter Mumpitz? Zweimal ja! Und eben auch wieder nein. Denn Kinder können doch, wie die ersten Menschen nach Castellucci, nur auf unschuldige Weise schuldig werden. Was das Mordspiel angeht, darf man hoffen, dass die kindlichen Darsteller pädagogisch gut betreut werden; und kann rezeptionsseitig sagen, dass der Effekt dieser kindlichen Bühnen-Übernahme ungeheuerlich ist. Einige Zuschauer wissen sich nur mit Kichern zu helfen.

Es muss sein! (Und es ist nicht Oper, sondern Oratorium.)

Im ersten Teil, vor dem Mord, hat die Handlung sich in einem geradezu abstrakten Raum bewegt: Vater-Mutter-Kinder-Tableau vor einem nebelsichtigen Vorhang, hinter dem sich – langsam wie alle Bewegungen hier – leuchtende Formen bewegen, das Licht des Numinosen vielleicht, und große farbige Flächen erscheinen. Das ist ausnehmend schön (Abstriche beim auch mal auftauchenden Feuer, denn Feuer auf der Opernbühne ist eigentlich immer peinlich, weils wegen der Brandschutzbestimmungen halt nur teelichtig funzeln darf). Ein gotisches Gemälde von Simone Martini, scheinbar paradoxerweise eine Marienverkündigung, senkt sich auf dem Kopf stehend herab und ist auf verstörende Weise anwesend beim fatalen Brandopfer der Brüder. Zur Linken liegen da noch die verstreuten Äpfel, die Mama Eva zu Beginn der Aufführung aus den Händen gefallen sind. Alle Figuren aber bewegen sich mit sparsamen, einleuchtenden Gesten. Und das ist nicht langweilig, sondern von konzentrierter, ja tatsächlich meditativer Wirkung.

Simone Martini, Verkündigung mit der hl. Margarete und dem hl. Ansanus (1333)

Die Marienverheißung wird im zweiten Teil nach dem Mord aufgenommen: Da schlägt sich die neue, kindliche Darstellerin der Eva den blauen Marienschleier übers Haar und wird zur Mater dolorasa, die gleich zwei Söhne verloren hat: einer ermordet, der andere verdammt. Der Mörder hat das schlimmere Los, er muss weiterleben. Auf offenem Feld unter schwarzem Sternenhimmel hat der Mord stattgefunden. Nett immerhin, mal kein Einheitsbühnenbild zu haben, sondern ein Zweiheitsbühnenbild! Die Spaltung des Menschen aber, die sich darin ausdrückt, wird am Ende zwar nicht aufgehoben, doch ihre Aufhebung in Aussicht gestellt: in einer warm und verheißungsvoll sich wiegenden Siciliana, die der liebe Gott aus der Loge singt. Die Sänger von Adam und Eva kehren zu diesem Finale auf die Bühne zurück, zu ihren kindlichen Abspaltungen. Das mag kitschig sein, aber es ist auch ergreifend, sogar (ach, wenn man dieses Wort bloß ohne Hohn benutzen könnte) erbaulich.

Gott ist ein Countertenor. Benno Schachtner singt ihn, mit einer Stimme, die Liebe ausstrahlt – und sich exakt in der gleichen Höhe bewegt wie der Kontra-Alt von Kristina Hammarströms Kain! Das ist schon eine wuchtige Symbolik, auf die René Jacobs in seiner gelehrten, dennoch gut lesbaren Einführung im Programmheft hinweist. Den Kain dürfte bei der Uraufführung 1707 in Venedig, wie alle hohen Rollen, ein Kastrat gegeben haben. Dass hier allein La voce di Dio von einer hohen Männerstimme gesungen wird (was übrigens keineswegs artifiziell klingt, sondern auf höhere Weise natürlich), transzendiert die Vokalchose recht reizvoll. Der Mezzosopran von Olivia Vermeulen als Abel ist von würdevoller Klarheit, und obwohl er in starkem Kontrast steht zu den bebenden, selbstquälerischen Windungen von Hammarströms Kain, harmonieren die beiden Stimmen doch ausgezeichnet. Das herrliche, einzige Duett der Brüder hören wir über wunderschönen Streichern erst zu dem Zeitpunkt, da Kain schon zum Brudermord entschlossen ist.

Da capo delectat, my dear.

Sechs sehr gute, fachkundige Sänger sind da beieinander. Der drohenden Monotonie von einer schönen Dacapo-Arie nach der anderen begegnen sie mit reich verzierenden Variationen in den Wiederholungen. Bei Birgitte Christensen als Eva klingen sie besonders ausdrucksvoll. Der Tenor Thomas Walker singt einen sehr agilen Adam, und der Bassbariton von Arttu Kataja leuchtet als Luzifer irritierend verführerisch.

Das junge belgische B’Rock Orchestra hat einen doofen Namen, aber klingt kompetent und lebendig. Ganz überrascht, dass René Jacobs seine alljährliche Barockoper-Sause an der Staatsoper jetzt nicht mehr mit der Akademie für Alte Musik macht! Der alte Archivkramer Jacobs hat eine sehr schöne Aufführungsfassung des skizzenhaft überlieferten Oratoriums erstellt. Auch sie ist ab dem tödlichen Wendepunkt verstärkt instrumentiert, mit Schlagwerk und Windpusterei und dergleichen. Am Anfang des Stücks, von Beginn mit großer Continuo-Gruppe, steht ein Concerto mit Solovioline. Zu den dominierenden Streichern treten unter anderem zwei Posaunen: Eine hohe trägt die Gesangslinien der Stimme Gottes, eine tiefe grundiert den Luzifer. Der von Jacobs betonten Demut, der der intellektuelle, ja eitle Scarlatti in diesem religiösen Werk seine Phantasie unterwerfe, tut das keinen Abbruch, aber wirkt doch der Gefahr der Eintönigkeit entgegen. Könnte es akzentreicher, profilierter klingen? Vielleicht. Aber es wirkt so, wie es hier in der Einheit aus Bild und Ton und Gedanken ist, rund und schlüssig. Eine wirklich schöne Entdeckung ist das, emotional und geistig wie geistlich ansprechend. Eine Koproduktion mit Paris und Palermo, Scarlattis Geburtsort, wo diese Inszenierung aber nun angeblich doch nicht laufen soll, weils im Teatro Massimo mit dem gefinkelten Licht nicht hinhaut. In Berlin jedenfalls nochmals am 7., 9., 15. und 17. November.

Bei den Barocktagen, die bis zum 10. November laufen (während die Staatskapelle mit Daniel Barenboim in Paris Brahms spielt), kann man übrigens doch noch der Akademie für Alte Musik begegnen: in den Purcell-Stücken King Arthur und Dido & Aeneas sowie einem weiteren Oratorium von Alessandro Scarlatti, La vergine addolorata. Purcell und Scarlatti sind dieses Jahr die Schwerpunkte. Es finden auch Konzerte im benachbarten Boulezsaal statt, mit prominenten Interpreten wie Jordi Savall oder Christian Zacharias. Besonders interessant könnte der Auftritt der Tallis Scholars am 9. November sein.

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