Spinettriesig: erst Grigory Sokolov, dann Lugansky, Gerzenberg, Grosvenor beim Klavierfestival

Der sanftspinettige Virtuose und seine Jünger

Sanfter Spinettismus statt Virtuosengepranke, das sich in der heurigen Auflage des alljährlichen Grigory-Sokolov-Besuchs in Berlin nur einmal nebenher ereignet, aber nein, auch da ohne Gepranke, nur virtuos oder eben meisterlich: bei einer konzentriert hinbrillierten Rachmaninow-Zugabe, dem Prelude op. 23/2 als einem jener stets sechs Encores des dritten Konzertdrittels, in dem das Sokolov-Ritual erst seine Erfüllung findet. Die anderen sind zweimal Rameau (Les sauvages und Le Tambourin), zweimal Chopin (Prélude 28/15 und Mazurka 63/3) sowie einmal Bach (BWV 855a) im vollfülligen, dennoch faszinierenden Siloti-Ornat.

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Pausenbericht

Worüber ich nicht geschrieben habe

Die Abonnenten merken es, im Moment schreibe ich nicht so häufig in diesem Blog wie gewohnt. Aus persönlichen und aus Energieeffizienz-Gründen. Dabei wäre einiges Gehörte und Erlebte der Nachrede wert gewesen! Ein Klavier- und ein Xenakis-Festival etwa, verschiedene Sinfoniekonzerte, oder auch ein Klavierabend von Grigory Sokolov.

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Mephistophelig: Zlata Chochieva spielt Rachmaninow, Chopin, Skrjabin und Liszt

Feierlicher Nachschlag zum diesjährigen Berliner Klavierfestival: Raritäten aus dem geheimen
Rachmaninow-Keller und mehr mit der vielversprechenden russischen Pianistin Zlata Chochieva im Kleinen Saal des Konzerthauses. Mit den drei Stücken aus Sankt Sergejs 1941 entstandener Transkription der E-Dur-Partita BWV 1006 etwa könnte man Rechtgläubige der Hystorisch Informyrten Bachsocietas wohl foltern, andererseits, wenn schon Bach auf modernem Flügel, warum dann nicht mit Schmackes? Zumal Chochieva das eben doch geschmackssicher dosiert, fast dezent. Die Firma Bösendorfer klingt bei ihr nie nach Rausch, Dröhn & Donner.

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Zeitlosreich: Shai Wosner spielt Schubert

Der sich da in Reihe 4 so verrenkt, ist der Konzertgänger, welcher sich in den Hintern zu beißen versucht, dass er den ersten Auftritt von Shai Wosner beim Klavierfestival im Konzerthaus verpasst hat. Aber diesmal, immerhin, ist er dabei: wieder drei Schubertsonaten, und zwar die letzten. Sanktes Terrain also (darum Sterbehaus zur Linken!). Und nicht nur, weil Shai Wosner – wie Isabel Herzfeld anlässlich des ersten Konzerts anmerkte – dem Komponisten derart ähnelt, sondern auch weil er am Klavier eine körperliche Präsenz hat wie loderndes Schubertfeuer, will der Konzertgänger seine Augen partout nicht schließen. Aber dann zwingt ihn Wosners packendes Klavierspiel doch, keinen Deut Aufmerksamkeit mit Gucken zu verschwenden.

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Exzessgenau: Nikolai Lugansky beim Klavierfestival

Das Berliner Klavierfestival im Konzerthaus, Pflicht- und mehr noch Lusttermin für hiesige Pianophile, ist in der Mitte angekommen. Nach einem laut Isabel Herzfeld sehr gelungenen Schubert-Auftakt mit Shai Wosner und einem Konzert mit Marc-André Hamelin ist nun der überall, nur nicht in Deutschland, weltberühmte Nikolai Lugansky dran. Sein Spiel ist gleichermaßen hochvirtuos wie (für manchen Geschmack: zu) aufgeräumt.

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Augenschließend: Beatrice Rana spielt Goldberg-Variationen

Canon_triplex_3Im Konzert gewesen. Verliebt.

Nicht in die Frau Beatrice Rana! Die wirkt zwar hinreißend, aber der Konzertgänger ist bereits verheiratet mit einer schlechthin vollkommenen Frau. Beatrice Ranas Klavierspiel aber weckt schon nach wenigen Tönen das unwiderstehliche Bedürfnis, die Augen zu schließen, um die Ohren so weit es geht zu öffnen. Der Konzertgänger gibt dem Bedürfnis nach und wird die Augen siebzig Minuten lang nicht mehr öffnen, bis zum letzten G mit dem himmlischen Vorschlag. Und das will bei einer so attraktiven Pianistin etwas heißen.

Denn schon die Aria von Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen BWV 988 kündigt an, dass das etwas Außergewöhnliches wird zum Abschluss des Berliner Klavierfestivals im Kleinen Saal des Konzerthauses. Rana spielt langsam, voller Anmut und Konzentration, mit fast sachlichen Verzierungen. Die Basslinie in der Linken, wo sich das Thema versteckt, hebt sie deutlich, aber ohne einen Anflug von Zeigefingerhaftigkeit hervor. Weiterlesen

Entspannt: Christian Zacharias spielt Schubert, Beethoven, Schumann

António_Carneiro_Claudio_ao_piano_by_Henrique_Matos_02Ein bisschen wie ein Musiklehrer schlurft Christian Zacharias beim Klavierfestival im Kleinen Saal des Berliner Konzerthauses auf die Bühne: Aber keiner jener Musiklehrer, die das halsstarrige Dummseinwollen der Schüler ausgemergelt hat, sondern einer, den die Schüler in seiner Schlaksigkeit mögen und bewundern, weil er kompetent und zugleich entspannt ist. Seine Schuhe glänzen nicht, die Hose schlottert, das Hemd hängt über den Bund, es ist vielleicht sein einziges. Eine äußerst sympathische Erscheinung.

Scheinbar tiefenentspannt spielt sich Zacharias auch ins Allegro ma non troppo von Franz Schuberts Sonate a-Moll D 537, so dass man sich zuerst fragt: troppo moderato? Weiterlesen

Buntstrukturiert: Yevgeny Sudbin beim Klavierfestival

800px-Retrato_de_Domenico_ScarlattiDomenico Scarlatti fiele wahrscheinlich die Kinnlade auf den Jabot, wenn er im Konzerthaus säße und seine Nachbarin fragte, von wem denn diese hinreißenden Stücke seien, die der hagere junge Virtuose da spiele: Nocturnes, Fantasien, Etüden, unendlich nuanciert und durchgestuft in Klangfarben, Dynamik, Agogik und dabei ungeheuer dezent, von ferne an ein Cembalo erinnernd.

Fünf Sonaten von Domenico Scarlatti, wäre die Antwort der Nachbarin, auf einem modernen Konzertflügel gespielt.

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Tipp: Berliner Klavierfestival

Boldini,_Gentleman_at_the_PianoElysium ad portas für Klavierfreunde, die mal andere Pianisten hören wollen als das grandiose Dutzend, das an den üblichen philharmonischen Klavierabenden zu hören ist: Im Konzerthaus beginnt am Dienstag das 6. Berliner Klavierfestival. Neben dem Weddinger Pianosalon Christophori ist das der heißeste Scheiß, den Berlin neugierigen Klavierfreunden zu bieten hat. Keine Eigenveranstaltung des Konzerthauses, sondern eine private Initiative des Anglo-Steglitzer Klavierwahnsinnigen Barnaby Weiler, den das ewige Einerlei der hiesigen Klavierrezitals anödete.

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27.5.2016 – Klavierfestival (4): Sophie Pacini spielt Chopin, Liszt und Schumann

Das Konzert dieser vielversprechenden Pianistin beginnt unter keinem guten Stern: Weil rund um den Gendarmenmarkt Stau herrscht, fängt es rücksichtsvollerweise zehn Minuten später an – was für den ungeduldigen Sitznachbarn des Konzertgängers offenbar schon eine Impertinenz ist. Als die junge Deutsch-Italienerin Sophie Pacini sich an den Flügel im Kleinen Saal des Konzerthauses setzt, bumpern Pauken aus dem Großen Saal herüber, wo die Zauberflöte gespielt wird (da geht der Konzertgänger am Samstag mit tutta la famiglia hin). Whistler-Nocturne_in_black_and_goldUnd in den ersten Takten von Frédéric Chopins Nocturne b-Moll op. 9, 1 bimmelt, fast hat man darauf gewartet, ein Handy.

Pacini ist natürlich ganz Profi und lässt sich nichts anmerken. Sie spielt dieses und das folgende Nocturne Des-Dur op. 27,2 bemerkenswert unsüßlich, unsentimental, unweichlich, unverträumt, vielmehr sehr deutlich und energiegeladen, dabei dunkel getönt. Die Töne im Diskant tröpfeln und perlen nicht klischeehaft, sondern verbinden sich zu klaren, ja dramatischen Linien. Man versteht, warum Martha Argerich diese junge Pianistin unter ihre Fittiche genommen hat.

Allerdings fällt bereits hier auf, was den ganzen Abend prägen wird: eine sehr hohe Grundlautstärke. Ob Pacini den Kleinen Saal oder den Yamaha-Flügel falsch einschätzt oder das Publikum (eventuell ja zu Recht) für schwerhörig hält? Jedenfalls wird der Bass manchmal so dröhnend, dass es, um im Nocturne-Bild zu bleiben, an nächtliche Ruhestörung grenzt. In Chopins Scherzo Nr. 2 b-Moll op. 31 (statt der angekündigten Polonaise-Fantasie As-Dur) geht das gut, wenn das energiegeladen fragende Rollen auf wuchtige Entladungen trifft. Auf höchstem technischen Niveau ist es ohnehin.

Trotzdem freut man sich, mit den Consolations 1 – 3 eher innerliche, fast bescheidene Stücke von Franz Liszt zu hören. Aber das dicke Ende folgt auf dem Fuße: Die Tannhäuser-Ouvertüre ist eher eine Klavierversion als eine Opernparaphrase, in der kompositorische Funken sprühen würden. Sehr reizvoll allerdings die Auf- und Abwärtsläufe im Bacchanal. Pacini spielt das beeindruckend, gewaltig, steigert den Pilgerchor immer weiter, wenn man bereits denkt, noch lauter wird es nun wirklich nicht gehen. Aber der ungeheurliche Aufwand für so ein musikalisches Nichts hat auch etwas Bedauerliches, man bräuchte gleich wieder consolation. Wenn es nach dem Konzertgänger ginge, sollte Pacini sich diese Nummer für gutdotierte Einladungen zu Wagnervereinsjahrestreffen aufheben. (Gut allerdings, dass Kultursenator Tim Renner nicht in klassische Konzerte geht; er könnte sonst auf die Idee kommen, ein Opernorchester abzuschaffen und dafür Sophie Pacini anzustellen.)

Henri_Rousseau_-_A_Carnival_EveningRobert Schumanns Carnaval ist natürlich ein ganz anderes Kaliber. Sehr witzig scheint Pacini Schumann allerdings nicht zu finden. Natürlich ist kein Pianist zum Lächeln verpflichtet, aber die Forte-Kontraste im Pierrot etwa sind so korrekt ausbuchstabiert, dass die Komik, die zur Bizarrerie gehört, verlorengeht. Stattdessen betont Pacini (was natürlich legitim ist) das Dramatische und Zerrissene dieser vorbeifliegenden Charaktere und Gestalten.

Natürlich ist das brillant. Pacini lässt viele Stücke ineinander übereinandergehen, was sehr überzeugend ist. Aber mancher Hörer wird eine gewisse Leichtigkeit vermissen. Es wird auch wieder arg dröhnend, nicht erst wo es sich schwer vermeiden lässt, etwa im finalen Davidsbündler-Marsch; wobei selbst hier vorstellbar wäre, die komische Seite stärker hervorzukehren (ein Marsch im 3/4-Takt!).

Man würde sich wünschen, diese hochbegabte Pianistin würde irgendetwas Verrücktes oder Falsches tun. Und vor allem leiser spielen. Die Pegelsau dieses Rezitals kann sie ja wieder rauslassen, wenn sie dereinst im Großen Saal der Philharmonie spielen wird. Denn dass sie ihren Weg gehen wird, steht außer Frage; in einem knappen Jahr gibt sie ein Rezital im Rahmen der Meister-Klavierabende von Adler, da steht sie in einer Reihe u.a. mit Ivo Pogorelich, Elena Bashkirova und Grigory Sokolov.

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21. + 23.5.2016 – Klavierfestival (2+3): Benjamin Grosvenor und Paul Lewis

Fumagalli_2Nach dem gelungenen Auftakt mit Nikolai Lugansky zwei weitere Konzerte des Klavierfestivals mit erstklassigen Pianisten, die aus unerfindlichen Gründen sonst nie solo in Berlin zu hören sind: Die Engländer Benjamin Grosvenor am Samstag und Paul Lewis am Montag im Kleinen Saal des Konzerthauses.

Das große Manko bleibt (bei aller Sympathie für Alternativen zum ewigen Steinway-Einerlei) der farbenarme Flügel der Firma Yamaha, die als Sponsor das Festival allerdings überhaupt erst ermöglicht. Maurice Ravels Le Tombeau de Couperin klingt bei dem technisch äußerst versierten Benjamin Grosvenor wie eine Spieldose aus Plastik. Eine stupend fingerfertige Schlusstoccata tröstet darüber hinweg. Auch in Frédéric Chopins bravourös gespielter 2. Sonate b-Moll op. 35 (vor zehn Tagen von Grigory Sokolov in halbem Tempo zu hören) klingen die Töne der unendlichen Kantilenen im zweiten und dritten Satz wie Kunststoffperlen. Aufregende Entdeckungen jedoch, was Grosvenor etwa im Kopfsatz an Bassfiguren herausdestilliert; und das kurze Finale hat nichts Verhuschtes, sondern klingt in seiner Zerfetztheit so modern, dass es den Hörer vor den Kopf schlägt. Ein unerwartetes Wunder ereignet sich schließlich in Franz Liszts Claude_Monet,_Saint-Georges_majeur_au_crépusculeVenezia e Napoli, als Grosvenor nicht nur die erwartet hohe Viortuosität zeigt, sondern dem Flügel Klangfarben und Schattierungen entzaubert, die man zuvor nicht für möglich hielt. Ein Hochgenuss!

Noch bezaubernder gelingt dies Paul Lewis, der einen so feinen, konzentrierten Anschlag hat, dass er auch eine klobige Kommode zum Singen brächte. Da der Yamaha ja nun auch kein wirklich schlechtes Instrument ist (abgesehen vom Pitschpitsch in den obersten anderthalb Oktaven), ist Lewis‘ Rezital traumhaft schön. Seinen Ruf als erstklassiger Schubert-Pianist, ein Meister der Anfänge und Übergänge, hat er offenhörlich zu Recht; wie seine Hand nonchalant ins Scherzo der Sonate H-Dur D 575 (1817) hüpft, ist unwiderstehlich. Und wenn er Johannes Brahms‘ frühe Balladen op. 10 singt, wird der Hörer zur verzückten Clara Schumann:

Es ist wirklich rührend, wenn man diesen Menschen am Klavier sieht mit seinem interessant jugendlichen Gesichte, das sich beim Spielen ganz verklärt, seine schöne Hand, die mit der größten Leichtigkeit die größten Schwierigkeiten besiegt, und dazu diese merkwürdigen Kompositionen.

Noch merkwürdiger, noch schöner Brahms‘ späte Intermezzi op. 117, die man auch als innigen Abschluss des Abends nähme. Aber zumindest eine Zirkusnummer muss hier wohl jeder Pianist bringen: Lewis absolviert diese Pflicht mit Franz Liszts alberner Dante-Sonate mit ihren zwei Millionen Doppelschlägen und sieben Millionen Höllenfahrt-Tritonussen hochvirtuos. (Ausgerechnet da beruhigt und begeistert sich das wie schon bei Lugansky sehr hibbelige Publikum, in dem diesmal besonders ein Husten-Hephaistos auf der Galerie und eine aufmerksamkeitsheischende Dame im Luftfächerwahn übel auffielen.)

Um so bewundernswerter, dass Paul Lewis so schön Schubert spielen kann, wie er in der zweiten Zugabe zeigt, dem ersten der Moments musicaux.

Darum noch eine weitere Zugabe:

Noch zwei Konzerte am 27.5. (Sophia Pacini) und 2.6. (Nikolai Demidenko).

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17.5.2016 – Klavierfestival (1): Nikolai Lugansky spielt Schubert, Medtner, Rachmaninow

Boldini,_Pianist_ColacoUnspektakulärer kann ein Eröffnungskonzert nicht beginnen: Nikolai Lugansky spielt zum Beginn des Berliner Klavierfestivals 2016 im Konzerthaus Zwei Scherzi D 593  von Franz Schubert. Zumal das erste in B-Dur hat bei Lugansky Spieldöschen-Charme, Lugansky führt es gewitzt mechanisch vor, fast klingt es wie ein Stück aus Schostakowitschs Tanz der Puppen. Man ist erstaunt, dass dieses eingängige Stück noch nicht von Klavierschülern zugrunde geübt wurde.

Das gleichermaßen enthusiastische wie professionelle Berliner Klavierfestival, vom Pianomaniac Barnaby Weiler im fünften Jahr privat auf die Beine gestellt, findet im Kleinen Saal des Konzerthauses am besten denkbaren Ort statt.

Während Grigory Sokolovs extraterrestrische Genialität in der riesigen Philharmonie vor einigen Tagen wie stets von ferne zu ahnen war, hört man hier direkt und nah. Der Yamaha-Flügel ist eher eine Geschmacks- als Qualitätsfrage, für den Geschmack des Konzertgängers klingt der Diskant allerdings schon arg reizlos. Was bei Schubert natürlich schon ein Handicap ist. Seelenvoll ist anders; ein Schwachstarktastenkasten zweifellos, ein Klangfarbenmalkasten eher nicht.

Aber Lugansky ist ein nobler Pianist mit klarem Anschlag, und die Ausgewogenheit des Flügels kommt seinem virtuosen, dabei im besten Sinn aufgeräumten Spiel entgegen. Dabei geht er Schuberts Impromptus D 935 mit sympathisch altmodischen Temporückungen an, das erste in f-Moll drängend, das zweite in As-Dur eher Andante als Allegretto. Im dritten (mit dem Rosamunde-Thema) zögert er den Beginn der Variation IV in der schönsten aller Tonarten, Schuberts ureigenem Ges-Dur, unendlich hinaus: himmlisch ist das. Wie auf ganz andere Weise auch Variation V, bei Lugansky rasend schnell, federleicht virtuos.

medtner 1921Auf eigenstem Terrain ist Lugansky, immerhin offizieller Volkskünstler Russlands, im zweiten Teil des Programms. Musik von Nikolai Medtner (1880-1951) kann man in Berlin sonst eigentlich nur im Pianosalon Christophori hören. Luganskys Auswahl aus den Vergessenen Weisen op. 38, einer Art Nachlass zu Lebzeiten, weckt den Wunsch, mehr von dieser alles andere als avantgardistischen, aber überaus stimmungsvollen Musik kennenzulernen: insistierend und irrlichternd die Danza rustica, ohrwürmlich die Canzona serenata, exaltiert die Danza silvestra, ungeheuerlich sich steigernd das Schlussstück Alla Reminiscenza.

Reiner Klaviergenuss schließlich die Moment Musicaux – nicht von Schubert, sondern von Sergej Rachmaninow. Lugansky spielt die Nummern 3 bis 6, darunter einen Trauermarsch (Andante cantabile in h-Moll), ein mächtig gewaltiges Presto in e-Moll für Linke-Hand-Protze und schließlich den majestätischen C-Dur-Schlussrausch, von Lugansky brillant aus dem Handgelenk geschüttelt. Das nennt man wohl russische Schule. Spektakulärer kann ein Eröffnungskonzert nicht enden.

Hiermit sei Lugansky zum Volkskünstler der Menschheit ernannt. Zumal er einem sehr ungezogenen Teil der Menschheit, dem unruhigen Berliner Publikum, noch vier Zugaben schenkte:

  • das Wiegenlied op. 16 von Tschaikowsky in der Bearbeitung von Rachmaninow
  • das Intermezzo aus Schumanns Faschingsschwank aus Wien (das neulich auch Yefim Bronfman nach seinem Prokofjew-Rezital zugab)
  • Nikolai Kapustins irre Etüde op. 40, Nr. 6 Pastorale
  • die erste Arabesque von Claude Debussy

Hier noch eine kleine Zugabe von Lugansky aus dem Jahr 2008 (als Inspiration, mal wieder die linke Hand zu trainieren):

Nächstes Konzert des Klavierfestivals mit Benjamin Grosvenor am 21. Mai; weitere Konzerte mit Paul Lewis (23. Mai), Sophie Pacini (27. Mai) und Nikolai Demidenko (2. Juni). Anscheinend für alle Konzerte noch ein paar Karten erhältlich. Zum Klavierfestival

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11. und 12. Mai 2015 – (Un)dämonisch: Marc-André Hamelin und Louis Lortie beim Klavierfestival

Warum gibt es in Kanada eigentlich so viele gute Pianisten? Aus dem Land von Glenn Gould und Diana Krall kommen Janina Fialkowska, die Bach-Spezialistin Angela Hewitt, der polnischstämmige Jan Lisiecki, Louis Lortie und Marc-André Hamelin… Fialkowska und Hewitt waren in den letzten Jahren zu Gast beim Berliner Klavierfestival, das in diesem Jahr von Lortie und Hamelin beschlossen wird. Vielleicht könnte die kanadische Botschaft als Festivalsponsor gewonnen werden.

Hamelin

Marc-André Hamelin wird immer wieder als der technisch beste Pianist der Welt bezeichnet, so steht es sogar bei Wikipedia. Vielleicht ist es wie mit dem Eisengehalt des Spinats, einer hat es mal behauptet, und seitdem schreiben es alle ab; aber den Eisengehalt kann man immerhin messen, mit dem Virtuosentum ist es schwierig. Jedenfalls scheint Hamelin die schwierigsten Stücke ohne jede Mühe zu spielen, und er hat abartig fingerbrecherische Stücke auf Lager. Vielleicht ist sein abseitiges Repertoire, das beim musikliebenden Hörer nicht immer Entdeckerfreude auslöst, auch der Grund, dass er trotz dieses Rufs wie Donnerhall zumindest hierzulande keine großen Hallen füllt.

Aber im Kleinen Saal des Konzerthauses klingt Klaviermusik ohnehin besser als in der riesigen Philharmonie. Der Weg zum Gendarmenmarkt ist schwierig, weil der israelische Präsident in der Stadt ist, aber der Konzertgänger und seine Frau kommen auf ihren Fahrrädern am Schloss Bellevue vorbei, weil sie nicht wie „linksautonome Demonstranten“ (so wörtlich ein freundlicher Polizist) aussehen. Die Kritiker-Hühnerstange an der rechten Wand des Kleinen Saals ist heute verwaist, vermutlich nicht wegen des Staatsbesuchs, sondern weil die Kritiker ihren Abend in Dahlem verplempern müssen, wo das angeblich beste Orchester der Welt vergeblich versucht, den besten Dirigenten der Welt zu wählen. Oder sie haben keine Lust aufs Hamelin-Repertoire.

Dabei beginnt er mit Haydn: die B-Dur-Sonate Hob XVI:41 besteht aus zwei schnellen Sätzen, die für Haydn relativ schwer klingen, aber für Hamelin natürlich kein Problem sind. Quasi als langsamer Satz folgt das Andante inédit Es-Dur des Iren John Field, ein simples, kitschiges, schönes Stück, für das deutsche Pianisten sich wohl zu fein sind! Hörend lernt man, dass Chopins Nocturnes nicht aus dem Nichts kamen, auch wenn sie raffinierter sind.

Dann aber das Virtuosenfutter: Gut zu wissen, dass das Leben nicht sinnlos wird, wenn einem die Chopin-Etüden zu leicht sind – man klimpert sie dann einfach mit der linken Hand, wie Leopold Godowsky sie eingerichtet hat. Fünf dieser bizarren Zirkusnummern spielt Hamelin, natürlich mühelos. Mit der Rechten könnte er rauchen, aber sowas tut er nicht, seine einzige Extravaganz besteht darin, sich ab und an die Brille geradezurücken. Godowskys folgende Symphonische Metamorphosen über Wein, Weib und Gesang nach Johann Strauß sind stimmungsvolle, auch schunkelige Tastenlöwengewitter.

Man ist beeindruckt; aber trotzdem froh, danach mit Debussys Images Livre I richtige Musik zu hören. Der Konzertgänger hadert weiterhin mit dem Yamaha-Flügel des Klavierfestivals, der die Reflets dans l’eau betrüblich stumpf klingen lässt. Was die Hommage à Rameau mit Rameau zu tun haben soll, erschließt sich trotz des Sarabanden-Grundschlags nicht recht, aber es ist ebenso herrliche Musik wie die luftige Mouvement-Etüde. Liszts Venezia e Napoli ist, typisch Liszt, eine Mischung aus berückender Stimmungsmalerei und grotesk billiger EffekthaschereiFeatured image; aber unter Hamelins sachlichen Virtuosenhänden klingt das alles plausibel.

Vier Zugaben, darunter ein oft gehörtes Chopin-Stück, das sich als frühe Etüde von Skrjabin entpuppt; I would like to write like that, kommentiert Hamelin. Sein letztes Wort: Haydn, dann geht er.

Lortie

Wenn Hamelin ein undämonischer Virtuose ist, so ist Louis Lortie ein dämonischer Pianist, der aber kein Virtuosenrepertoire spielt. Im diabolisch hochgeschlossenen Frack betritt er das Podium, und so spielt er auch: den Kopf in den Nacken werfend, die Arme hochreißend, mit dem Fuß stampfend, alle Seelenleiden und Himmelsfreuden durchmessend, die in Chopins Préludes verewigt sind. Aber auch wenn man Lortie mit geschlossenen Augen zuhören würde, klänge das großartig. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass er auf einem Steinway spielt: Sonst des ewigen Steinway-Sounds manchmal überdrüssig, ist der Konzertgänger nach mehreren Yamaha-Abenden dankbar für diesen Reichtum an Klangfarben, Wucht, perlendem Diskant, Charakter. Der direkte Vergleich mit dem Steinway fällt für die Flügelbaukunst der Firma Yamaha unerfreulich aus.

Lortie, offenbar ein Chopinspezialist alter Schule, spielt die Préludes mitreißend extrem. Den düsteren Mittelteil des Des-Dur-Préludes (dem irgendjemand den idiotischen Beinamen Regentropfen verpasst hat) spielt er so laut es nur geht, knallt und dröhnt, als müsste er die Carnegie Hall füllen, aber es klingt richtig, ein erschreckendes, furchteinflößendes Seelenfeuer.

Skrjabins Préludes können dem Vergleich mit ihrem großen Vorbild nicht standhalten, aber es ist schöne Musik mit einigen Highlights, etwa dem Glockendröhnen und abrupt trockenen Schluss im cis-moll-Prélude oder dem Sturm im 15/8-Takt im es-moll-Prélude, das durch die schiere Phonmasse überwältigt und schon an Skrjabins spätere Klangorgien erinnert; danach folgt ein ganz einfaches Des-Dur-Lento mit einem hauchzarten Schluss. Aber die Stimmungssphären wiederholen sich mit der Zeit, die Stürme und das friedlich Fließende; ein Pärchen auf der linken Galerie beginnt zu kuscheln. So unekstatisch ginge das bei Skrjabins späteren Stücken nicht!

Als Zugabe Grand Valse brillante op. 34/2 von Chopin und das g-moll-Prélude von Fauré. Lortie würde man gern öfter in Berlin hören.

In die Freude auf das nächste Klavierfestival mischt sich die Hoffnung, dass 2016 auf Steinways gespielt werden möge, gerne auch auf mächtigen Bösendorfers, singenden Blüthners, farbigen Bechsteins, ächzenden Hammerklavieren, worauf auch immer; aber nicht mehr auf Yamahas.

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Marc-André Hamelin

Louis Lortie